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Urteil im Missbrauchsprozess in Siegen erwartet | ABC-Z

Man muss bloß vor dem Gerichtssaal rumstehen, um zu begreifen, dass Benjamin S. noch immer geliebt wird. Während drinnen verhandelt wird, sitzt seine Frau auf dem Gang. Sie sitzt da, obwohl ihr 38 Jahre alter Ehemann ihr jüngstes Kind missbraucht und geschwängert haben soll. Seit sie selbst ausgesagt hat, kommt sie zu jedem Prozesstermin ins Landgericht nach Siegen und harrt vor dem Saal aus. Die Öffentlichkeit wird meist für Stunden ausgeschlossen, weil es drinnen um die Intimsphäre einer Minderjährigen geht. Die Frau von S. wartet dann vor dem Saal, auberginenfarbene Haare, schwarze Daunenjacke. Sie behält die ­Jacke an, sie geht eh gleich wieder rauchen. Mal stützt sie den Kopf in die Hände und schluchzt, mal steht sie auf, läuft ­herum, stöhnt und flucht leise; und all das Elend, die empfundene Ungerechtigkeit tropfen aus ihr heraus.

Dass Kinder mutmaßlich missbraucht werden und Beschuldigte vor Gericht stehen, ist tägliches Geschäft in der Strafjustiz. Wer nur nach den Missbrauchsprozessen an Siegener Gerichten sucht, stößt auf mehrere in den vergangenen Monaten. Der Prozess gegen S. ist anders, weil es etwas gibt, das keine Partei klein­reden oder ignorieren kann, etwas, das formaljuristisch als „objektives Beweis­mittel“ dient: ein zehn Monate alter Säugling, entbunden im Mai 2024 von der damals ­ elfjährigen Stieftochter. Ein Vaterschaftstest hat ergeben: Das Kind stammt von Benjamin S.

Nicht jeder Mann, dem Kindesmissbrauch in der Familie vorgeworfen wird, verhält sich vor Gericht gleich. Manche bitten verzweifelt um Vergebung. Manche geben vermeintliche Gründe an: Das Kind habe einen verführt, provoziert, angemacht. Man habe keine Wahl gehabt. Es sei alles nicht so schlimm. Manche hatten den Kindern immer wieder gedroht: „Wenn du was sagst, passiert der Mama was.“ Viele Mütter belastet es stark, wenn sie realisieren, dass sie lange nichts mit­bekommen haben. Dass die Mutter des Kindes sich auf die Seite des Tatverdäch­tigen schlägt, kommt seltener vor.

Kann ein Kind durch ein Kondom schwanger werden?

S. bestreitet vor Gericht vehement, seine Stieftochter schwer sexuell missbraucht zu haben. Zu Beginn des Prozesses hatte er zu den Vorwürfen geschwiegen, später ließ er sich doch ein, im nicht öffentlichen Teil der Verhandlung. Wie er das Verhältnis zu seiner Stieftochter beschreibt, wie er zum Beispiel erklärt, dass es jahrealte ­Bilder geben soll, die einen Zungenkuss zwischen ihr und ihm zeigen, wird nicht bekannt. Sicher ist, dass die inzwischen Zwölfjährige zu Beginn der polizeilichen Ermittlungen im vergangenen Jahr eine angebliche Erklärung für ihre Schwangerschaft parat hatte: Sie sei verliebt in den Stiefvater gewesen und habe sich Sperma aus einem benutzten Kondom eingeführt. Nach psychologischer Betreuung revi­dierte sie ihre Aussage. Im Oktober kam S. in Untersuchungshaft.

Ein Gutachter war zu dem Ergebnis gekommen: Dass das Kind durch Sperma aus einem Kondom schwanger wurde, sei mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ nicht möglich. Ein Spermiogramm aus dem Mai 2023, wenige Monate bevor das Mädchen schwanger wurde, bescheinigte dem Angeklagten zudem eine sehr schlechte Spermienqualität. Nach Einschätzung des Gutachters kann er dennoch ein Kind zeugen. Äußerst zweifelhaft aber sei, dass solche Spermien, eingeführt in geringer Zahl, eine Eizelle ohne Geschlechtsverkehr befruchten könnten.

Aus dem Umfeld von S. ist zu erfahren, dass einige Familienmitglieder die Erzählung mit dem Kondom dennoch glauben. Der ältere Bruder und die Großeltern ­mütterlicherseits sollen dazugehören. Die Tochter habe dem Stiefvater Liebesbriefe geschrieben, die auch andere Familien­mitglieder gesehen hätten. Sie habe ihre Mutter als Konkurrentin gesehen.

Eifersüchtig auf die Tochter?

Bevor die Verteidigung, die Staats­anwaltschaft und Nebenklägervertreterin Sauer am vorletzten Verhandlungstag ohne Öffentlichkeit plädieren, liest die Kammer Chatnachrichten zwischen S. und seiner Frau vor. Sie stammen aus dem Mai 2023, wenige Tage bevor beide nach mehrjähriger Beziehung heirateten. Demnach schrieb seine Frau ihm an einem Abend, sie sei „an den falschen Stellen“ eifersüchtig. Sie wolle nicht sagen, warum sie eifersüchtig auf ihre Tochter sei, „weil du sagst dann wieder, du machst gar nichts“.

In den sozialen Medien finden sich ­Bilder von der Hochzeit, von dem Paar, den Stief­kindern. Das Profilbild seiner Frau ist ein­ ­Selfie, das beide lächelnd zeigt, hoch­­geladen im Oktober. Als S. schon in Unter­su­chungshaft saß, hat sie Kacheln mit Sprüchen gepostet wie: „Ich wäre jetzt bereit für ein Wunder in meinem Leben.“ Dem Verteidiger steckt sie vor Verhandlungsbeginn Briefmarken für ihren Ehemann zu.

Im Umfeld von S. sind manche überzeugt: Die Schuldzuweisungen treffen den falschen. Der eigentliche Verbrecher sei ein anderer: Daniel J. Was er der Familie angetan habe, habe bis heute schlimme Auswirkungen. Nach Informationen der F.A.Z. wurde gegen J. schon vor zehn Jahren ermittelt. Grund sind Vorwürfe der älteren Schwester der Zwölf­jährigen gegen ihn. Vor wenigen Wochen hat das Landgericht Siegen eine Anklage gegen den 39 Jahre alten Mann zuge­lassen. J. soll die in­zwischen 18 Jahre alte Schwester zwischen 2018 und 2021 mehrmals schwer sexuell missbraucht und einmal, als sie 14 Jahre alt war, mit einem Mitbeschuldigten ver­gewaltigt haben. Außerdem wirft die Staatsanwaltschaft ihm das Verbreiten von Kinderpornographie in drei Fällen vor. Der Prozess soll Ende August beginnen.

Können sich Erinnerungen überlagern?

Daniel Nierenz, dem Verteidiger von Benjamin S. im laufenden Prozess, kommen die Vorwürfe gelegen, um eine Theorie zu verbreiten, die er schon im Januar geäußert hat. Die ältere Schwester wirft Daniel J. nach Informationen der F.A.Z. vor, früher auch die heute Zwölfjährige missbraucht zu haben.

Der „Westfalenpost“ sagte Nierenz vor einigen Wochen, es gebe Hinweise darauf, dass sich Daniel J. auch an der Zwölfjährigen vergangen habe. „In diesem Fall können sich die Erinnerungen des Mädchens überlagern, dass sie also nicht mehr weiß, wer ihr was angetan hat – oder auch nicht.“ Deshalb hat Nierenz den Antrag gestellt, das Verfahren so lange auszusetzen, bis der Prozess gegen Daniel J. vorbei ist. Schon vor Prozessbeginn hatte Nierenz angedeutet, das Mädchen habe seine Aussage geändert, weil es von Polizisten suggestiv befragt worden sei.

Es gilt nicht als unmöglich, dass ein Kind die mutmaßlichen Taten eines ­Beschuldigten auf einen anderen projiziert. Allerdings gilt es in diesem Fall als äußerst unwahrscheinlich. Die Staatsanwaltschaft weist die Theorie und die Vorwürfe zurück. Laut Sprecher Patrick Baron von Grotthuss wurden die Ermittlungen gegen J. in Bezug auf die Zwölfjährige eingestellt. Es gebe weder von der Zwölfjährigen noch von J. eine Aussage dazu. Dem Vernehmen nach sind die Vorwürfe, die die ältere Schwester in Bezug auf die jüngere erhoben hat, inhaltlich nicht vergleichbar mit denen, derentwegen S. vor Gericht steht. Anwältin Jennifer Sauer vertritt die Zwölfjährige, der Landkreis als Vormund ist Neben­kläger im Prozess. „Ich habe absolut kein Verständnis für diesen Antrag“, sagte Sauer der F.A.Z.

Anklagepunkte fallen gelassen

Derweil scheint die Staatsanwaltschaft nicht zu jedem Anklagepunkt genug ­Beweise für die Schuld von S. in der Hand zu halten. Sie hatte ihm zunächst sexuellen Missbrauch in insgesamt neun Fällen ­zwischen 2020 und 2023 vorgeworfen, in fünf Fällen sollte es zu Geschlechts­verkehr, ­also schwerem sexuellen Missbrauch gekommen sein. Am vorletzten Verhandlungstag gibt die Kammer einem Antrag der Staatsanwaltschaft statt, acht der neun Vorwürfe zurückzunehmen. Jetzt geht es nur noch um die mutmaßliche Tat im August 2023, in deren Folge die Tochter schwanger wurde. Benjamin S. drohen zwischen zwei und 15 Jahren Haft – für die Länge der Haftstrafe spielt es eine vergleichs­weise geringe Rolle, ob er für die nun ­fallengelassenen Anklagepunkte belangt worden wäre oder nicht.

Den Antrag der Verteidigung, den Prozess gegen S. auszusetzen, lehnt das ­Gericht noch am selben Tag ab: Es sei kein Verfahren gegen Daniel J. in Bezug auf die Zwölfjährige anhängig. Außerdem sei nicht ersichtlich, inwieweit diese Vorwürfe für das jetzige Verfahren gegen S. von Bedeutung seien. Und die Aussagen der Zwölfjährigen seien in diesem Prozess nicht der einzige Beweis.

Lange Haftstrafe – oder Freispruch

In den anschließenden, nicht öffent­lichen Plädoyers fordert die Staatsanwaltschaft neun Jahre Freiheitsstrafe, Anwältin Sauer die Höchststrafe von 15 Jahren. Verteidiger Nierenz beantragt Freispruch. Sauer und Nierenz bezeichnen ihre An­träge nach der Verhandlung jeweils gegenseitig als „abwegig“ beziehungsweise „unrealistisch“.

Vor dem Saal steht noch immer die Ehefrau von S. Gegen sie wird in keinem Verfahren ermittelt, laut Staatsanwaltschaft gibt es „keine Anhaltspunkte, dass sie an einem Missbrauch beteiligt war“.

Das Urteil soll an diesem Dienstag verkündet werden. Ein Missbrauchsprozess, alltägliches Geschäft der Strafjustiz. Der Glaube an das Gute im eigenen Ehemann wird dort, wo die Frau von S. Stunde um Stunde ausharrt, nicht verhandelt.

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