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Urteil gegen Marine Le Pen: Populistische Wut am Köcheln halten | ABC-Z

Paris taz | Seit der Urteilsverkündung am vergangenen Montag protestieren Marine Le Pen und ihre Anhänger in den schrillsten Tönen. Ihnen geht es um die schreiende Ungerechtigkeit, die der Chefin des rechtsextremen Rassem­blement National (RN) mit dem strengen Richterspruch angeblich widerfahren sei. Die Demokratie, der Rechtsstaat, die Freiheit der Wähler, ja sogar die nationale Unabhängigkeit werde mit Füßen getreten, poltern sie. Und die Betroffene selbst zetert, ihre Gegner wollten mit dem sofortigen Entzug des passiven Wahlrechts gegen sie die politische „Atombombe“ einsetzen.

Maßlos sind auch Le Pens internationale Vergleiche. Sie sieht sich auf einer Ebene mit dem rumänischen Präsidenten, dessen Wahl wegen russischer Manipulationen für ungültig erklärt wurde. Oder mit den Opfern der Repression in der Türkei, in Russland, Venezuela und in Iran. Ihre Parteisprecher schimpfen in allen Fernseh- und Rundfunksendern über eine „Diktatur der Richter“ und „Tyrannei“ in Frankreich. Alles passe nahtlos ins Bild einer Verschwörung gegen eine Politikerin, die mit anderen Mitteln nicht am Erlangen der Macht gehindert werden könne.

Am Wochenende wollen ihre Anhänger in Paris und in vielen Provinzstädten demonstrieren. Auf Plakaten und Flugblättern des RN wird Le Pen als Opfer, als Märtyrerin eines Komplotts ihrer Erzfeinde stilisiert. „Was derzeit abgeht, ist ein so demokratischer Skandal, so beschämend und so ein Schandfleck für unser Land!“, so Le Pen in einer TV-Ansprache. Sie setzt darauf, dass dank der lauten Proteste nicht die gerichtlich verurteilten Delikte Anstoß erregen, sondern der Richterspruch und dessen Folgen für die Betroffenen.

Schmerzhaftes Urteil für Le Pen

Die Taktik scheint erfolgreich: Seit Beginn der Woche wird vor allem über die Konsequenzen des Urteils für Marine Le Pen diskutiert. In der Tat sind diese für sie sehr schmerzhaft, weil sie aller Wahrscheinlichkeit nach 2027 nicht erneut für die Präsidentschaft kandidieren kann. Aber das Wesentliche wird vergessen: Le Pen wurde wegen schwerwiegender Strafvergehen verurteilt. Diese konnten vor allem durch eine Untersuchung der EU-Antikorruptionsbehörde aufgedeckt werden.

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Ähnliche Prüfungen liefen oder laufen noch gegen andere französische Politiker, darunter der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon. Auch die Zentrumspartei MoDem des gegenwärtigen französischen Premiers François Bayrou ist im Visier der Behörden.

Seit der ersten Prozesse wegen illegaler Parteienfinanzierung gegen die Sozialisten in den 90er Jahren und dann gegen die Neogaullisten von Jacques Chirac kennt die französische Justiz für die Finanzdelikte der Politiker keine Nachsicht. Der zweifach verurteilte Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, der in einem dritten Verfahren wegen Bestechungsgeldern aus Libyen eine mehrjährige Haftstrafe verbüßen muss, kann ein Lied davon singen. Auch der für Finanzdelikte von Politikern vom Gesetz vorgesehene Entzug der Wählbarkeit wird in Frankreich regelmäßig angeordnet. Ohne dass deswegen jedes Mal Protestgeheul ausbricht.

Die populistische Rechte schürt Ressentiments

Die Wahlgesetzgebung in zahlreichen europäischen Ländern sieht ebenfalls vor, dass nach einer strafrechtlichen Verurteilung zu Haftstrafen keine Wahl in ein Amt oder für ein repräsentatives Mandat möglich ist. Ein Sonderfall ist Frankreich nur, weil der befristete Verlust der Wählbarkeit für bestimmte Finanzdelikte als „obligatorische“ Zusatzstrafe im Strafgesetz steht und vom Richter nach Ermessen bei gravierenden Umständen – und unabhängig von einer Revision – mit sofortiger Wirkung in Kraft gesetzt werden kann.

Le Pen wurde wegen eines Systems an Unterschlagung und Veruntreuung von rund 4,6 Millionen Euro und zusammen mit einer „Bande“ von mehr als 20 Mitbeteiligten schuldig gesprochen. Sie wurde zu vier Jahren Haft (zwei auf Bewährung und zwei mit elektronischer Fußfessel) verurteilt. Der Prozessverlauf und die detaillierten Beweise und Belege der Anklage berechtigen Le Pen nicht, sich als Opfer von Willkür aufzuspielen. Genau das tut sie aber, um von ihren illegalen Machenschaften abzulenken.

Wenig überraschend schürt die populistische Rechte – ähnlich wie man es von US-Präsident Trumps Wahlkampagne kennt – Ressentiments gegenüber staatlichen Institutionen, vor allem gegenüber der Justiz. Le Pen geht jetzt in Berufung und kündigt Beschwerden beim Verfassungsgericht und beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof an. Viel Erfolg dürfte sie wohl nicht haben, auch wenn das Pariser Berufungsgericht ihr bereits mitteilte, der zweite Prozess werde noch im Frühling organisiert, damit sie vielleicht mit einem Urteil im Sommer 2026 rechnen könne.

Radikalisierung des RN

Parallel dazu versucht der mit Le Pen verbündete Rechtsnationale Éric Ciotti im französischen Parlament einen Antrag durchzubringen, der den Wählbarkeitsentzug (den die Abgeordneten 2016 mit den Stimmen des RN im Strafgesetz verankert hatten) für sie noch rechtzeitig außer Kraft setzen soll. Es ist sehr fraglich, ob eine parlamentarische Mehrheit bereit wäre, ein Justizurteil auszutricksen.

Priorität für die extreme Rechte ist es nicht, Recht zu bekommen, sondern die Wut am Köcheln zu halten. Die von ­Marine Le Pen seit Jahren mit beachtlichem Erfolg eingeschlagene Linie der Normalisierung, um aus der Isolierung herauszukommen und für die bürgerliche Rechte akzeptabel zu werden, war offenbar bloß Fassade.

Seit dem Urteil hat sich das gemäßigt auftretende Rassemblement National binnen Stunden wieder in den rechtsradikalen Front National zurückverwandelt.

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