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Unser Leben in Kanada: Jetzt bin ich eine Soccer-Mum | ABC-Z

Keine Fahrten ins Büro, keine Abendveranstaltungen und das Arbeitspensum runtergeschraubt auf ein geschmeidiges Gen-Z-Level. Endlich mal die Work-Life-Balance mit Schwung in den grünen Bereich hieven: So hatten wir uns unsere Zeit in Vancouver vorgestellt.

In unserer epischen Tagesfreizeit wollte ich regelmäßig Sport treiben, endlich wieder Klavierstunden nehmen und natürlich jeden Quadratzentimeter dieser grandiosen Umgebung erkunden. Morgens noch vor der Arbeit einen Abstecher zum Strand machen und mir den ersten Kaffee mit Blick auf die North Shore Mountains schmecken lassen. Am Nachmittag dann eine Runde durch den Park laufen.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Nun, es ist etwas dazwischengekommen. Nein, kein neues Projekt und auch kein neuer Job. Die gierigen Hände griffen nach uns aus einer Ecke, wo wir es gar nicht erwartet hatten: Wir sind in die Fänge des kanadischen Sports geraten. Also genau genommen unsere Kinder. Aber damit sind wir nun Sportlereltern, kanadische Art. Und das bedeutet: Parenting, the next level.

Jetzt springen wir morgens früh aus dem Bett

Unser kleiner Sohn spielt hier Fußball im Nachbarschaftsclub Vancouver United und der Große Volleyball im Team seiner Schule. Als die beiden sich dafür angemeldet haben, haben wir uns nichts dabei gedacht. Sie machen das in Berlin ja auch. Da konnten wir noch nicht ahnen, dass der Sport fortan zum Taktgeber unseres Lebens werden würde. Wir wohnen jetzt in einem sportbesessenen Land. Und das bedeutet: Der Sport frisst sich durch unsere Tage wie die Raupe Nimmersatt.

Das Schul-Volleyballteam trainiert dreimal pro Woche, dazu kommen Ligaspiele und Turniere, die auch mal vier Autostunden entfernt stattfinden können. Die Provinz British Columbia ist immerhin dreimal so groß wie ganz Deutschland. In den kommenden vier Wochen tritt die Mannschaft unseres Sohnes nicht nur bei den City Championships an, sondern auch bei den Regional- und den Provinz-Meisterschaften. Jedes dieser Turniere geht über drei bis vier Tage. Und unser kleiner Sohn hat auch noch dreimal pro Woche Training und ein Spiel am Wochenende.

Statt die Gipfel vor unserer Haustür zu erklimmen, springen wir also früh morgens aus dem Bett, um nach Stutzen und Knieschonern zu fahnden, Stullen zu schmieren und Lunchboxen zu packen. Wir versuchen, in vier verschiedenen Sport-Chatgruppen den Überblick zu behalten, arbeiten uns in Spielpläne ein, waschen Trikotberge und kutschieren die Kinder zu den entlegensten Turnhallen.

Ich treibe Sport, also bin ich

Man muss wissen: Sport ist in Kanada nicht einfach Sport. Sport ist hier kein Freizeitvergnügen, sondern eine zentrale Säule der nationalen und der persönlichen Identität. Man stellt sich hier eher mit seiner Sportart vor als mit seinem Beruf. Ich treibe Sport, also bin ich. In Vancouver geht unser kleiner Sohn auch nicht zum Fußball-Training, nein, er verbringt seine Nachmittage in der „Soccer Academy“. Dort werden fleißig Pässe, Ecken und Flanken geübt, aber das sind letztlich Nebenschauplätze. Eigentlich geht es hier um die wahren Blockbuster des Lebens: Sieg und Niederlage, Kampf und Teamgeist, Widerstand und Erlösung.

„Es war ein unvergessliches Spiel. Die Energie und die Entschlossenheit der Mannschaft haben auch im strömenden Regen nie nachgelassen. Teamgeist, Leidenschaft und Kampfbereitschaft waren phänomenal. Alle Spieler haben mit Herz und Stolz auch für ihre verletzten Teammitglieder gespielt. Never forget: Soccer is Life! Heute habt ihr es wirklich gelebt.“

Die Gewinner werden besonders gefeiert.
Die Gewinner werden besonders gefeiert.Susanne Grautmann

So äußerte sich nicht etwa der Premierminister nach einem entscheidenden Sieg der kanadischen Nationalmannschaft, nein, das war die Rückmeldung von Coach Marco an das Team unseres kleinen Sohnes nach dessen Wochenendspiel. Wohlgemerkt: Die Kinder sind elf Jahre alt und spielen in der dritten Mannschaft ihrer Altersklasse. Aber egal! Soccer is Life, darunter machen sie’s hier nicht.

In der Schule unseres großen Sohnes sind die Flure gesäumt mit Vitrinen, in denen stolz die Trophäen vergangener Triumphe präsentiert werden: Glänzende Pokale, reich verzierte Wimpel, goldene Medaillen. An der Stirnseite der Turnhalle hängt die Nationalfahne im XXL-Format. In einer anderen Halle ein paar Straßen weiter prangt ein Banner mit der Losung „Victory Through Honour“ an der Wand, Sieg durch Ehre. Man würde gerne hinzufügen: Victory übrigens auch durch die Plackerei der Entourage am Spielfeldrand. Als soccer und volleyball parent ist man im Prinzip im Dauereinsatz – als Fahrer, Koch, Zeugwart, Mental Coach, Claqueur und Linienrichter.

Es ist so eine Sache mit der Me-Time von Eltern. Sie flutscht einem immer wieder durch die Finger. Die Care-Arbeit reist mit, auch bis ans andere Ende der Welt. Man kennt das schon aus dem Familienurlaub.

Nicht jedes Spiel bei strömendem Westküsten-Regen ist ein Highlight. Aber auch hier gilt, wie bei all den anderen unwegsamen Strecken im Familienleben –erste Zähne, Trotzphase, Pubertät: Es ist nur eine Phase. Die Kinder beim Sport begleiten: Wie lange wird das noch gefragt sein? Und wie sehr wird man es vermissen, wenn all das eines Tages Vergangenheit ist: die nervöse Vorfreude, die hochroten Wangen auf dem Platz und die Gänsehaut, wenn nach 90 Minuten Nervenkitzel im Finale der City Championships die ersten Takte von „We Are the Champions“ aus den Turnhallen-Boxen scheppern?

Wenn wir erst zurück in Berlin sind, werden wir wieder mehr freie Zeit haben. Dort sind gerade 29 Sporthallen ganz oder teilweise gesperrt. Dann klappt’s bestimmt auch mit den Klavierstunden. Und bis dahin: sportliche Grüße!

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