Ukrainischer Präsident plant Friedensgespräche mit Joe Biden – Politik | ABC-Z
Oleksandr Batalow stützt sich auf seinen Stock, an der Bühnenwand hinter ihm sind Schwarz-Weiß-Fotos von ukrainischen Soldaten zu sehen, die nicht mehr leben. Ihn, Sanitäter an der Front, hätte es auch fast erwischt, als er auf eine Landmine getreten ist. Sie hat sein linkes Bein weg gefetzt, er trägt jetzt eine Beinprothese. Und ist hier, bei der wichtigsten Sicherheitskonferenz der Ukraine, nun eine Art Ehrengast. Es geht dabei vor allem um die Frage, wie dieser von Russland am 24. Februar 2022 begonnene Krieg enden kann.
Gerade jetzt, wo in Europa die Unterstützung zu bröckeln beginnt und russlandfreundliche Parteien erstarken, sei es so wichtig, „der Welt zu erzählen, was in der Ukraine passiert“, sagt er. Und es wird schwieriger. Präsident Wolodimir Selenskij räumt bei der Konferenz ein, dass an einigen Frontabschnitten im Kampf um die Stadt Prokrowsk zuletzt die personelle Unterlegenheit bei eins zu zwölf gelegen habe. Die Ukraine hat eine unbekannte Zahl an Soldaten verloren, bei neuen Rekruten kommt man anders als Russland an Grenzen. Was Batalow denkt über die Zehntausenden ukrainischen Männer, die zum Beispiel in Deutschland leben und sich der Front entziehen? „Sie haben ihre Wahl getroffen“, sagt er. Jeder müsse das mit sich ausmachen. Was hier auffällt: Der Optimismus für einen Sieg der Ukraine schwindet, und Selenskij sucht nach einem Ausweg.
Sonderzug nach Kiew
Es ist eine ungewöhnliche Reisegruppe, die sich nach Kiew aufmacht. Treffpunkt ist der Flughafen in Warschau, Programm und Teilnehmer sind zunächst geheim. Mit Bussen geht es zu einem Güterbahnhof an der polnisch-ukrainischen Grenze. Es ist 22 Uhr, das schummrige Licht der Laternen wird vom Nebel verschluckt. Alle laufen über Gleise zu einem langen Zug, elf Wagen hat er. Der Chef des Ukraine-Stabs im Verteidigungsministerium, Generalmajor Christian Freuding, taucht auf, begleitet von Feldjägern. CDU-Politiker und Kanzler-Nervensäge Roderich Kiesewetter steigt an Bord. Dann schlurft Boris Johnson über den Bahnsteig, Hose und Hemd etwas derangiert: „Good evening“, flötet der frühere britische Premier.
Organisiert wird die Konferenz von der Victor-Pinchuk-Foundation, der Stiftung des ukrainischen Milliardärs Pinchuk. Zum 20. Mal findet diese „Yalta European Strategy“ (YES)-Konferenz statt, bis 2013 in Jalta auf der Krim, seit der Annexion durch Russland in Kiew. Wegen des Kriegs tagt man wie im Vorjahr in dem bunkerähnlichen Saal eines großen Luxushotels. Zwei Stockwerke unter der Erde, streng bewacht. Am Abend gibt es Luftalarm.
Die schwindende Unterstützung
Selenskij kommt mit seiner Ehefrau, er wirkt noch ernster als sonst. „Diesen Monat habe ich ein Treffen mit Präsident Biden geplant. Ich werde ihm den Siegesplan vorlegen“, sagt Selenskij in dem Saal. Es gehe um ein System miteinander verbundener Entscheidungen, um die Ukraine in die Lage zu bringen, „um diesen Krieg auf Friedenskurs zu bringen“. Die Ukraine brauche dafür eine starke Position. „Die Vereinigten Staaten können dabei helfen.“ Aber genau diese starke Position, um Russland zum Abzug zu bewegen, wird fraglicher. Er erwähnt Kanzler Olaf Scholz in seiner Rede kein Mal. Der spricht nun davon, dass Putin einsehen müsse, „dass er nicht die ganze Ukraine fressen kann“. Ob das im Umkehrschluss bedeutet, dass es am Ende in Verhandlungen aber auf Gebietsabtretungen im Donbass und den dauerhaften Verlust der Krim hinauslaufen könnte, bleibt eine offene Frage. Scholz will auch bei der Lieferung der Taurus-Marschflugkörper hart bleiben – Deutschland ist und bleibt aber zweitgrößter Ukraine-Unterstützer.
Die Eskalationssorge
Selenskij erzählt in seiner Rede von den Gleitbomben, die so viel Unheil bringen würden. Er fordert eine Erlaubnis, ATACMS-Raketen, Scalp– oder Storm-Shadow-Marschflugkörper gegen Ziele tief auf russischem Territorium einzusetzen, um Flugplätze, Waffendepots, Tanklager und Raketenabschussbasen bekämpfen zu können. Bisher war der Einsatz westlicher Waffen gegen militärische Ziele in Russland nach dem Beschuss von Charkiw auf einen engen Korridor, einige Dutzend Kilometer, in der Grenzregion beschränkt.
Zwar gab es nach einem Treffen von Biden und dem britischen Premier Keir Starmer keine Freigabe, aber die Ukraine rechnet mit baldiger Klarheit – auch um hierüber den Druck auf Russland zu erhöhen. Allerdings hat Wladimir Putin betont, dass er dann die Nato als Kriegspartei sehen würde. Der Außenminister unter Präsident Donald Trump, Mike Pompeo, hält das in Kiew für einen Bluff. „Wir sollten das ausprobieren.“ Scholz ist da vorsichtiger, die Wahlerfolge von AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht führen auch zu Zweifeln in der SPD, ob es nicht einen Kurswechsel braucht.
Der Präsident Estlands, Alar Karis, meint dazu in Kiew: „Die Geschichte lehrt uns, dass Verhandlungen mit einem Diktator gefährlich sind. Wir brauchen mehr Waffen.“ Es prallen verstärkt die zwei Denkschulen aufeinander: Frieden schaffen mit mehr Waffen? Oder verhandeln und Verluste hinnehmen, da die Atommacht Russland nicht zu besiegen ist? Scholz will nun vor allem die diplomatischen Beziehungen verstärken, lässt im Hintergrund vieles ausloten. In der SPD wird eine mögliche Verhandlungslösung auch als neues Momentum für den angeschlagenen Kanzler gesehen.
Der nahende Winter
Dieser Krieg dauert zum Zeitpunkt der Konferenz 933 Tage. Die Ukraine hat zwar viele kreative Lösungen entwickelt und setzt bei der Drohnenentwicklung Maßstäbe, aber der Regierung zufolge fehlt es an Geld für eine stärkere Ausweitung der eigenen Rüstungsproduktion. Im laufenden Jahr habe man dafür nur sieben Milliarden Dollar. Rund 60 Prozent der Energieinfrastruktur sind zudem zerstört, zudem haben die Russen Netzübertragungssysteme ins Visier genommen, was bei einem strengen Winter zu schweren Folgen durch Stromausfälle führen – und wieder Hunderttausende Menschen flüchten lassen könnte, gerade auch nach Deutschland.
Als es dem Ende zugeht, verlässt Oleksandr Batalow, der sein Bein durch eine Landmine verloren hat, humpelnd den Saal. Er lächelt freundlich. Trotz allem bleibt er optimistisch, glaubt an die Ukraine als freies Land. Was er gegenüber den Russen fühle, die auch ihm ganz persönlich das angetan haben? Er möchte lieber nicht näher darauf eingehen. Das Gefühl, das er spüre, sei ein „sehr hässliches“.