Ukrainer reagieren – „Hybrid-Szenario zwischen Weltkriegen“ | ABC-Z

Essen/Berlin. Landsleute zollen dem Ukrainer Respekt. Doch die Sorge ist groß: Man befinde sich in einem „Hybrid-Szenario zwischen den Weltkriegen“.
Die beispiellose Eskalation zwischen Wolodymyr Selenskyj und Donald Trump im Weißen Haus wird in der Ukraine mit deutlichen Worten kommentiert. „Ich bin erleichtert“, schreibt die ukrainische Regisseurin Iryna Tsilyk auf Facebook, „dass der Präsident meines Landes diesen widerlichen Schlägern nicht die Stiefel geleckt hat.“
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Viele Ukrainer, mit denen diese Redaktion Kontakt hat, sind stolz auf Selenskyj, weil er zu den Vorwürfen und Beleidigungen Trumps nicht geschwiegen hat. Manche erkennen Fehler in der Kommunikationsstrategie Selenskyjs; etliche andere vermuten eine Falle der Trump-Administration, so wie auch Beobachter und amerikanische Oppositionspolitiker sie bereits kurz nach dem Eklat ausgemacht haben wollen.
Eklat zwischen Selenskyj und Trump: Ex-Botschafter Melnyk mahnt zu kühlem Kopf
Der Fotograf Artem Lysak rechnet Selenskyj an, dass er immerhin nicht geschwiegen habe. „Vance und Trump sind eine Schande für die Weltpolitik“, sagt Lysak, mit dem unsere Redaktion immer wieder in der Kriegsberichterstattung zusammenarbeitet. Den Ablauf im Weißen Haus hält er für den Versuch, dem ukrainischen Präsidenten „eine Lektion zu erteilen“. Die amerikanischen Wähler hätten sehen sollen, „wer der Boss“ ist. Der Fotograf sagt aber auch: Selenskyj fehlte die Erfahrung, „um diesen Köder nicht zu schlucken“.
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Der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, mahnte dazu, einen kühlen Kopf zu bewahren – auch wenn die Emotionen hochkochen. Man müsse Geduld aufbringen und „nicht müde sein, um die USA als Hauptverbündeten zu behalten“. Das sei „verdammt hart, es ist kein Sonntagsspaziergang“, sagte Melnyk dieser Redaktion. Es gebe aber keine Alternative dazu. Melnyk setzt weiter auf die Amerikaner: „Auf diese Unterstützung unserer westlichen Partner sind wir nach wie vor massiv angewiesen.“ Es sei jetzt an der Zeit, die Wogen zu glätten.
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Während der Diplomat Melnyk nach vorn schaut, äußern sich viele ukrainische Beobachterinnen und Experten empört über Trumps Verhalten. Dem US-Präsidenten sei, so analysiert es der ukrainische Journalist Denys Kazanskjy, nach den ersten Gesprächen mit Russland klargeworden, dass der erhoffte schnelle Frieden nicht zu haben sei. Deswegen beschuldige er die ukrainische Seite für das Scheitern – eine „Show“ wie mit Selenskyj hätte Trump mit Putin nach Ansicht Kazanskyjs auch nicht machen können. Auf Vance‘ Anschuldigungen habe es für Selenskyj keine guten Optionen gegeben: Wenn er nur geschwiegen hätte, hätte es demütigend ausgesehen. Als er begann, Vance zu widersprechen, hieß es sofort, er sei respektlos.
Ukraine-Krieg: Eklat in Washington wirkt auf Ukrainer wie geplant
Der Journalist Oleh Reshetniak meldet sich mit einer nachdenklichen Einschätzung. „Es scheint“, schreibt er uns, „als hätten wir seit der großangelegten Invasion keinen derart schwierigen Moment mehr erlebt.“ Als Selenskyj zusammen mit seiner Delegation aus dem Oval Office gedrängt wurde, sei ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen klargeworden: Das müsse ein vorab geplanter Ablauf gewesen sein.

Konfrontation im Weißen Haus: Vizepräsident JD Vance ging den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj direkt an.
© AP/dpa | Mystyslav Chernov
Mehrere Aspekte fallen Reshetniak in der Rückschau auf: dass Vizepräsident JD Vance Selenskyj direkt ansprach, obwohl er nicht denselben Rang bekleidet wie der Ukrainer. Dass eine Art psychologische Kriegsführung betrieben worden sei, indem Selenskyjs Kleidung thematisiert oder Respektlosigkeit unterstellt wurde.
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Reshetniak fürchtet, das Szenario des Zweiten Weltkriegs, als Polen zwischen Hitler-Deutschland und Stalins Sowjetunion aufgeteilt wurde, könnte sich wiederholen. Ein milderes Szenario, so der Journalist, war das Münchner Abkommen von 1938, bei dem Landesteile der Tschechoslowakei an Deutschland abgetreten wurden (allerdings wurde später das gesamte Land von den Nationalsozialisten besetzt).
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Selenskyj und Trump: Ukrainer schwanken zwischen Doomsday und Hoffnung
Unter den Beobachterinnen und Fachleuten im Land geht eine Schlucht auf, so sieht Reshetniak es – die einen stellen sich jetzt aufs Doomsday-Szenario ein, die anderen sehen zumindest eine gute Nachricht: Selenskyj habe mit dem Auftritt allen zeigen können, wer in den USA das Sagen habe und warum man sich auf diese Person nicht verlassen dürfe. Nach Einschätzung des Journalisten ist für Europas Militär nun ein „Jetzt aber wirklich!“-Moment gekommen. Auch die Ukraine habe wegen des Krieges ihr Potenzial gesteigert, etwa bei der Drohnenproduktion.
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„Jede Verzögerung“, mahnt Reshetniak, „könnte zu einem globalen Konflikt führen.“ Wir befänden uns aktuell in einer Art„Hybrid-Szenario zwischen den Weltkriegen“, mit einer Blockbildung in Europa sowie dem entgegengesetzten Block mit Russland, Iran, China und eventuell Nordkorea. Bei einem etwaigen Angriff Russlands auf das Baltikum müsste Polen den Balten zur Seite springen und würde dabei voraussichtlich Hilfe von Großbritannien, Deutschland und Frankreich bekommen.
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Wie die USA sich bei alldem verhalten könnten? Das bleibt völlig offen. War früher auf die Amerikaner als Partner in internationalen Bündnissen Verlass, so ist das jetzt mit großem Fragezeichen zu versehen. Alte Loyalitäten scheinen Trump nichts mehr wert zu sein. Doch Ukrainer wie Oleh Reshetniak schöpfen Hoffnung daraus, dass unzählige europäische Staats- und Regierungschefs am Freitagabend sofort für Selenskyj aufgestanden sind und öffentlich ihre Solidarität erklärt haben. „Es fühlt sich an“, sagt Reshetniak, „als würde Europa seine Stärke zurückgewinnen.“