Ukraine vor 4. Kriegsjahr: Die Zuversicht ist weg | ABC-Z
Die Front verläuft rund 30 Kilometer südlich und gut hundert Kilometer östlich von Saporischschja. Vor allem hier rückten russische Truppen zuletzt unter enormen Verlusten vor. Die ukrainischen Verteidiger, die erheblich weniger Soldaten und Material zur Verfügung haben, mussten hier zurückweichen. Militärbeobachtern zufolge versucht Putin unter dem Einsatz enormer Mittel so weit wie möglich in ukrainisches Gebiet vorzudringen, bevor am 20. Januar Donald Trump die Amtsgeschäfte in Washington übernimmt. Das Kalkül dahinter könnte sein, dass Putin erwartet, die eroberten Gebiete nach einem Waffenstillstand behalten zu können.
Einer der heißesten Frontabschnitte ist nach wie vor nahe der Kleinstadt Pokrowsk im Gebiet Donezk. Dem Generalstab in Kiew zufolge haben russische Truppen hier am Sonntag insgesamt 50 Angriffe auf ukrainische Linien versucht. Die Stadt ist vor allem wegen ihrer Verkehrsinfrastruktur von strategischer Bedeutung. Allerdings habe die russische Armee zuletzt ihre Taktik geändert, berichtete die Zeitung „Financial Times“ unter Berufung auf den ukrainischen Militärgeheimdienst.
Um die erwarteten verlustreichen Häuserkämpfe bei einer direkten Einnahme des Stadtzentrums zu umgehen, drängen russische Truppen nun von Süden in westliche Richtung vor, um die nach Dnipro führende Autobahn zu erobern und die ukrainischen Verteidiger in Pokrowsk vom Nachschub abzuschneiden. Das Institute for the Study of War berichtet zudem, dass russische Streitkräfte kürzlich weiter auf die Städte Kupjansk im Gebiet Charkiw sowie auf Torezk und Kurachowe in Donezk vorgerückt sind.
Kiew will Nordkoreaner unter einer Bedingung freilassen
Die Ukraine wiederum versucht, die von ihr im August besetzten russischen Gebiete bei Kursk zu halten, um nach eigenen Angaben bei Verhandlungen ein Pfand in der Hand zu haben. Die Ukraine hatte dort Anfang des Jahres eine neue Offensive gestartet. Am Wochenende nahmen ukrainische Truppen in der Region zwei nordkoreanische Soldaten gefangen und verhörten sie, wie der südkoreanische Geheimdienst am Montag bestätigte. Einer der Soldaten habe berichtet, dass er geglaubt habe, die nordkoreanischen Behörden hätten ihn in ein Trainingslager nach Russland geschickt. Dann habe er sich plötzlich in einem Kampfgebiet wiedergefunden. Zudem sollen die nordkoreanischen Soldaten kaum Nahrung und Wasser erhalten und obendrein erhebliche Verluste erlitten haben.
Beide Soldaten sollen russische Militärpapiere dabeigehabt haben, die auf die an der Grenze zur Mongolei liegende russische Republik Tuwa ausgestellt waren. Bereits Ende vergangenen Jahres hatte die Ukraine berichtet, dass bei gefallenen Nordkoreanern Papiere aus Tuwa gefunden worden seien – mutmaßlich mit dem Ziel, die Herkunft der Soldaten zu verschleiern.
„Niemand auf der Welt sollte daran zweifeln, dass die russische Armee auf die Hilfe Nordkoreas angewiesen ist“, erklärte Selenskyj auf Telegram. Putin habe vor drei Jahren mit einem Ultimatum an die NATO und seinem anschließenden Angriff auf die Ukraine versucht, die Geschichte umzuschreiben. „Aber jetzt kann er nicht mehr ohne militärische Unterstützung aus Pjöngjang auskommen.“ Die Ukraine sei bereit, die Gefangenen nach Nordkorea zu überstellen, sofern sie damit ukrainische Soldaten aus russischer Gefangenschaft befreien kann. Für nordkoreanische Soldaten, welche „die Wahrheit über diesen Krieg“ berichten wollten, gäbe es andere Möglichkeiten.
38 Prozent zu Verhandlungen mit Russland bereit
Die Ukraine wiederum hat seit Langem erhebliche Schwierigkeiten, weitere Soldaten zu gewinnen. Während sich Selenskyj Forderungen widersetzt, das Einzugsalter von 25 auf 18 Jahre zu senken, wächst die Zahl der Wehrdienstverweigerer. Vergangene Woche versuchten die Behörden in einem Großeinsatz wehrpflichtige Männer festzunehmen, die das Land illegal verlassen wollten. Der ukrainischen Polizei zufolge seien zudem bei 600 gleichzeitigen Durchsuchungen im ganzen Land Beweise für organisierte Fluchten sichergestellt worden.
Nach Schätzungen haben bereits Zehntausende Ukrainer mit gefälschten Papieren und Bestechungsgeld das Land verlassen; Dutzende seien zudem beim Versuch, Grenzflüsse zu durchschwimmen, ums Leben gekommen. Die Polizei kündigte weitere Razzien an, um Fluchtnetzwerke zu zerschlagen.
Angesichts der massiven Belastungen für Gesellschaft, Staat und Militär wächst fast drei Jahre nach Beginn des russischen Großangriffs in der Ukraine die Zahl derer, die eine teilweise Gebietsabtretung im Gegenzug für ein schnelles Kriegsende befürworten. Einer repräsentativen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) zufolge sind inzwischen 38 Prozent dazu bereit. Das ist der höchste Wert seit Beginn der Umfragen im Mai 2022.
Nur noch eine knappe Mehrheit von 51 Prozent will demnach „unter keinen Umständen“ territoriale Zugeständnisse an Russland machen, „selbst wenn dies den Krieg verlängern und den Erhalt der Unabhängigkeit gefährden würde“. Vor einem Jahr lag der Wert noch bei 74 Prozent. Weitere Umfragen deuten zudem darauf hin, dass ein moderater, aber stetig zunehmender Teil der Bevölkerung pessimistisch auf den weiteren Verlauf des Krieges blickt.