Mario Vargas Llosa: Adiós, Super-Mario | ABC-Z

“Ay ay ay amor, du
warst heute Nachmittag beim Neuen der Mamá von Enrique? War er denn auch da, in
der Villa?” – Nein, Enrique Iglesias war nicht anwesend in jener Villa
in der Avenida Miraflores in einem Nobelvorort von Madrid, da musste ich an
diesem Frühlingsabend 2016 die derart wissbegierigen lateinamerikanischen club
people im Viertel Chueca leider enttäuschen. Aber ich hatte dort gerade Mario Vargas Llosa getroffen, galt das nichts? Daraufhin herzliche Gesten und
Worte, die das gelinde Bedauern kaschierten und sympathischerweise nun doch
etwas Interesse zeigten: Wie ist er denn so, el señor escritor, Literaturnobelpreisträger
aus Peru, seit ein paar Jahren auch spanischer Staatsbürger, Freund der
Königsfamilie – aber eben auch und vor allem “der Neue” von Isabel Preysler,
der Ex-Frau von Schnulzensänger Julio Iglesias?
Willkommen in der Zivilisation des Spektakels, wie der spanische Originaltitel von Vargas
Llosas kulturkritischem Essay lautet, der 2013 auf Deutsch unter dem Titel Alles Boulevard erschienen ist. Dabei hatte sich der Verfasser 2016 kaum
verändert. Zwar in einer riesigen, von einem Park umgebenen Villa residierend
und neuer Partner jener illustren und fünfzehn Jahre jüngeren Isabel, für die
er nach fünfzig Jahren Ehe seine Frau Patricia verlassen hatte, doch noch immer
in seiner liebsten Freizeitkleidung – Hemd, Jeans und Mokassins ohne Socken.
Und sofort, als hätten wir uns nicht Jahre, sondern lediglich ein paar Monate nicht
gesehen, die Frage nach den Berliner Kollegenfreunden sowie nach Enzensbergers Autobiografie Tumult. Sei sie denn gut geworden, wäre darin denn auch die
Kuba-Erfahrung mehr als nur launige Episode?
Mario Vargas Llosa saß
auf der Ledercouch unter einem riesigen Porträt seiner Isabel, aber die Augen
leuchteten voller Neugier und Freude wie bei unserer ersten Begegnung 1998 in
Berlin-Charlottenburg.
Damals, noch an der Seite
der geradezu komplizenhaft souveränen Patricia, schrieb Vargas Llosa gerade am Fest des Ziegenbocks, der Geschichte des santo-dominikanischen Despoten
Trujillo, die dann dem Genre des lateinamerikanischen Diktatorenromans ein
neues Meisterwerk hinzufügen würde. Die silbrig-grauen Haarsträhnen aus der
Stirn gestrichen und los ging’s: Bücher, Orte, Menschen. Von Flaubert zu Maggie Thatcher (könnten deren Reformideen womöglich auch das postfeudale
Lateinamerika aus der Erstarrung wecken?) und von da – über Victor Hugo und
Juan Carlos Onetti, über die er Essays zu schreiben gedenke – zu unserem
gemeinsamen Berliner Freund, dem ebenso weit gereisten Schriftsteller Hans Christoph Buch: Verband nicht auch ihn, zusätzlich zu Haiti, viel mit Kuba?
Bei all unseren Treffen kreiste
das Gespräch tatsächlich immer wieder um jene Insel, die so lange für linke
Intellektuelle ein Projektionsort gewesen war. Bis schließlich einige von ihnen
– darunter Vargas Llosa selbst, aber auch Susan Sontag, Octavio Paz,
Enzensberger und Hans Christoph Buch – Anfang der Siebzigerjahre erkannt
hatten, welch schreckliches Regime der comandante en jefe Fidel Castro
da errichtet hatte.
“Fatal”, sagte Vargas Llosa einmal bei einem unserer Treffen, “dass es erst einen der unseren erwischen
musste, ehe wir aufwachten …” Das, was damals als Fall Heberto Padilla durch
die westliche Presse gegangen war – die Abstrafung und Verhaftung eines
kritisch gewordenen kubanischen Schriftstellers, dessen “Reuebekenntnis” im
tropen-stalinistischen Havanna öffentlich verlesen wurde –, beschäftigte Vargas
Llosa wohl ein Leben lang: Wie lange muss es dauern, bis das Reaktionäre auch
hinter progressiven Floskeln entdeckt wird?
Immerhin war sein neun
Jahre jüngerer Konkurrent Gabriel García Márquez, der den Nobelpreis bereits
1982 erhalten hatte, sein Leben lang dem Castro-Regime treu geblieben.
Doch ging es bei diesen
Gesprächen nicht um Rechthaberei, sondern um Selbstprüfung, die Prüfung anderer
Standpunkte mit eingeschlossen. Mario Vargas Llosas Schwärmen für Maggie Thatcher
und den neoliberalen Theoretiker Friedrich August von Hayek fand ich einigermaßen
befremdlich, so wie mich dann auch in den letzten Jahren seine seltsame Milde
gegenüber den Rechtspopulisten des Kontinents regelrecht schmerzte. Und dennoch:
Sprachen wir nicht bei unserer letzten Madrider Begegnung im März 2020 über das
tragische Schicksal integrer Sozialreformer, die in der Vergangenheit mithilfe
der CIA aus dem Amt geputscht worden waren? Soeben nämlich war Vargas Llosas
Guatemala-Roman Harte Jahre erschienen, die tragische Geschichte von
Präsident Jacobo Àrbenz und seinem gewaltsamen Sturz 1954. Und
selbstverständlich hatte der nun bereits bejahrte Romancier dafür ebenso am Ort recherchiert wie in den Jahren und Jahrzehnten zuvor, in der
Dominikanischen Republik, in Brasilien und in nahezu jeder Region seines
geliebten Peru, von der Hauptstadt Lima in die Hochanden und von da ins
Amazonasgebiet.
“Sag, du warst in Iquitos”,
fragte er mich einmal. Ja, und zwar mit Mario Vargas Llosas burlesk erotischem
Roman Der Hauptmann und sein Frauenbataillon im Gepäck. Und siehe da: Fiktion
und Lebensweltliches waren ineinander übergegangen, die Menschen in der
lediglich per Boot oder Flugzeug erreichbaren Dschungelmetropole kannten
natürlich das 1973 erschienene Buch ihres “Super-Mario”, sogar Jüngere lachten
sich scheckig über das dort erzählte Tohuwabohu – auch wenn sie wohl eher nur
die gelungene Verfilmung gesehen hatten.
Ja, ich war in Iquitos gewesen, in
Guatemala und auch in La Habana, dazu an anderen Orten des so zerrissenen und
gleichzeitig faszinierenden Lateinamerika, und meine Erzählungen und Bücher,
die danach entstanden, hätte es schlicht nicht gegeben, ohne dass … Aber da
hatte Vargas Llosa schon lächelnd die Hand gehoben: nur keine Huldigungen, por
fa.
Und so bleibt er mir in
Erinnerung: Mit seinem geradezu unverschämt strahlenden Lächeln, dem oft
unerwartet ausbrechenden meckernden Lachen, das so gar nicht zu seiner Statur
zu passen schien, aber eben doch dazu gehörte. Mit seiner immensen, ganz und
gar unprätentiösen Freundlichkeit, dem puren Vergnügen am sincretismo, an
Widerspruch, Vermischung und Heterogenität in Leben und Literatur. Nach der
Trennung Ende 2022 zu Patricia zurückgekehrt, ist er nun – wie es pietätvoll in
den Nachrufen heißt – friedlich eingeschlafen im Kreis seiner Familie in Perus
Hauptstadt Lima. Ich weiß nicht, ob Mario Vargas Llosa je seinen polnischen
Nobelpreisträgerkollegen Czesław Miłosz getroffen hatte. Stelle mir aber vor,
dass ihm, dem souverän ironischen Agnostiker, am Ende seines langen und
erfüllten Lebens diese schöne Gedichtzeile zusätzlich Mut zugesprochen haben
könnte: “Gerettet, denn mit ihm ist ewiges, göttliches Staunen.” Adiós,
Super-Mario. Und danke für alles.