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Neues Album der Manic Street Preachers | ABC-Z

Die 1970er Jahre hatten ihre Spontisprüche, wir die Manic Street Preachers: Seit die walisische Band Anfang der 1990er Jahre auf der Bildfläche erschienen war, wirkte ihre Mischung aus Politik und Selbstzweifel wie gemacht für junge Menschen auf der Suche nach Sinn und sich selbst; die Songfragmente schmückten erst Oberstufentische und später Social-Media-Profile.

Und jetzt, mit Mitte fünfzig, wirken sie plötzlich selbst wie Vertrauenslehrer: Was denn bitte schön mit unserem Kritischen Denken passiert sei, fragen sie angesichts von „smarten“ Stromzählern und Autobahnen, von Selbstoptimierung und Eskapismus gleich im ersten Track und Titelsong ihres neuen Albums „Critical Thinking“. „It’s okay to not be okay /Live your best life / Be kind / Have some empathy / Speak truth to power“, deklamiert Nicky Wire da im Sprechgesang, bis er am Ende seiner langen, langen Liste alles wieder verwirft: „Fuck that!“ Nicky Wire, über Jahre vor allem Bassist und Textdichter und nur gelegentlich Sänger der Band, singt diesmal gleich drei exponierte Songs: das erwähnte „Critical Thinking“, den letzten Song „One Man Militia“ und erstmals auch eine Single, „Hiding In Plain Sight“, in der er über das Älterwerden sinniert.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Überhaupt, die Zeit: Am 1. Februar jährte sich das Verschwinden von Richey Edwards, dem einstigen Rhythmusgitarristen, Textdichter und Mastermind der Manic Street Preachers, zum 30. Mal. Dass der Rest der Band damals einfach weitergemacht und auch im Mainstream zuvor ungeahnte Höhen erklommen hat, wurde zu einem wichtigen Teil ihrer Identität. 1998 sangen sie in „If You Tolerate This Your Children Will Be Next“ über die walisischen Freiwilligen, die im Spanischen Bürgerkrieg gegen Francos Faschisten kämpften – und erreichten damit Platz eins der britischen Single-Charts. Das Jahrtausend-Silvester 1999/2000 feierten sie mit einem Konzert im Millennium Stadium von Cardiff; 2001 spielten sie als erste westliche Rockband ein Konzert in Kuba, bei dem auch Fidel Castro anwesend war.

Je wilder die Gegenwart flackerte (11. September, Afghanistan, Irak, Finanzkrise, Brexit, Trump), desto weiter schienen die Manics mit ihren Songs davor fliehen zu wollen, und so sangen sie zuletzt über Dylan Thomas und Yves Klein. Aber in einer Welt, in der alles politisch ist (also: in unserer Gegenwart und in der inneren Logik der Band), war das natürlich auch ein Kommentar.

Wie walische Bergleute einfach immer weiter malocht

Ihre Mischung aus plakativen politischen Slogans und Selbstzweifeln hat sich immer schon selbst infrage gestellt: Wie viel kann man auf die Statements von jemandem geben, der am liebsten gar nicht da wäre? Einer Band, die immer verweisreich mit Aussprüchen großer Denker operierte, gegen den Kapitalismus protestierte und doch als Erstes bei einem Major-Label unterschrieb, bei dem sie bis heute unter Vertrag steht. Wie die Bergleute und Stahlarbeiter ihrer walisischen Heimat haben die Manics einfach immer weiter malocht, auch wenn Nicky Wire heute sagt, dass sie vermutlich mehr Geld hätten machen können, wenn sie sich zwischendurch aufgelöst hätten und dann groß zurückgekommen wären, so wie die anderen großen Britpop-Bands Oasis, Blur und Pulp. Aber bei allen Glamrock-Anleihen, die die Band immer ausgemacht haben, sind sie eben inzwischen auch so ein bisschen die Betriebsratsmitglieder des Rock ’n’ Roll.

Und dann nennen sie ihr neues Werk auch noch „Critical Thinking“, was ja alles und nichts bedeuten kann in einer Zeit, in der jede Gruppe für sich beansprucht, genau jene zu sein, die kritisch, „selbst“ oder „quer“ denkt.Schon zwischen der Ankündigung des Albums Ende August und seinem Erscheinen haben sich die politischen Verhältnisse in vielen Ländern noch einmal signifikant verschoben. 25 Jahre nachdem die Manics in „The Masses Against The Classes“ den Klassenkampf besungen hatten (auch ein Nummer-eins-Hit im Vereinigten Königreich), steht die Demokratie in den USA kurz vor dem Ausverkauf an ein paar Milliardäre. Was damals als linke Folklore belächelt werden konnte, wäre heute eigentlich ein schönes Wahlkampfthema, wenn der Diskurs nicht weitgehend von jenen reaktionären Kräften gekapert worden wäre, vor denen uns die Band immer gewarnt hatte.

So fühlt sich „Critical Thinking“ über weite Strecken dann auch weniger nach Agitation und mehr nach seelischem Beistand an: Die erste Single „Decline & Fall“ wartete mit einer Piano-Hook wie bei ABBA, Gitarren wie bei Guns ’n’ Roses und einer Gesangsmelodie auf, die ungefähr so eingängig ist wie ein gelungenerer Schlager. James Dean Bradfield singt davon, im Angesicht des Verfalls die kleinen Wunder zu feiern — vielleicht ein bisschen fatalistisch für eine Band, die die meiste Zeit ihrer Karriere die sozialistische Weltrevolution anzetteln wollte, aber in Zeiten, in denen sich so viele immer radikaler äußern, ist es auch auf eine Art radikal, das Gegenteil zu tun.

Ein Lied für Morrissey

„People Ruin Paintings“ handelt, anders als der Titel vielleicht vermuten lässt, nicht von den Klimaaktivisten der Letzten Generation, sondern ist ein fast rührendes Postulat dafür, bei Gemälden doch bitte auf die Darstellung von Personen zu verzichten – also am Ende wieder der Ausdruck von Überforderung mit Gesellschaft. In „Dear Stephen“ wendet sich die Band direkt an eines ihrer einstigen Idole, an Morrissey, den früheren Sänger des Smiths, der in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten mit immer fremdenfeindlicheren Äußerungen aufgefallen war. Er solle doch bitte zu ihnen/uns zurückkehren, singt Bradfield vielleicht eine Spur naiv und winkt mit Zitaten der großen Smiths-Songs, und das ist dann schon sehr süß — auch wenn „süß“ mutmaßlich nicht das ist, worauf die Band abzielt.

Musikalisch schreiben sie einige ihrer bisher größten Melodien und werfen sie aufreizend über opulente Arrangements, mit denen wohl auch Phil Spector, noch so ein abgestürzter Großkünstler, zufrieden gewesen wäre. Es ist ungefähr alles dabei, wenn auch nicht viele Ideen, die die Band nicht schon mal auf einem ihrer vierzehn vorherigen Alben ausprobiert hätte, aber es hat ja auch irgendwie etwas Tröstendes, wenn in Zeiten, von denen wir jeden Tag hören, lesen und uns selbst erzählen, wie unruhig und außergewöhnlich sie seien, wenigstens auf etwas Verlass ist: das Songwriting der Manic Street Preachers.

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