Geopolitik

Ukraine-Krieg: Im Gleitbomben-Hagel nach der Kursk-Offensive | ABC-Z

In seinem „Siegesplan“ hat Selenskyj angekündigt, Angriffe auf russische Gebiete nach Vorbild der Kursk-Offensive zu verstärken. Die unberechenbaren Folgen dieser Strategie zeigen sich bei einem Besuch an der ukrainischen Grenze – und bei einem Befehlshaber, der Details des Einsatzes schildert.

„Heute zwei Gleitbomben und eine Shahed-Kamikazedrohne“, sagt Mykola Toreanik. „Das ist das mindeste, womit uns die Russen jeden Tag angreifen.“

Der 57-Jährige ist Bürgermeister von Khotin, einer Kleinstadt unweit der russischen Grenze im Nordosten der Stadt Sumy und zuständig für weitere 13 Ortschaften. Die gesamte Region steht vermehrt unter Beschuss, seit die ukrainischen Streitkräfte am 6. August in die angrenzende Oblast Kursk der Russischen Föderation eingedrungen sind und in darauffolgenden Wochen dort rund 1000 Quadratkilometer eroberten.

„Die Zerstörung ist einfach unvorstellbar“, sagt Toreanik. „Manche Orte existieren nicht mehr“. Auch Kindrativka, das Heimatdorf des Gemeindevorstehers, ist stark getroffen. „Ich kann vom Balkon meines Hauses die russischen Stellungen hinter der Grenze erkennen.“

In dem ländlichen Gebiet haben einst 6500 Menschen gelebt, nur rund 1000 sind noch geblieben. Aber der Bürgermeister und seine Frau wollen vorerst nicht weg, obwohl es lebensgefährlich ist. „Es gibt sonst niemand, der die meist älteren Menschen versorgen könnte“, sagt Toreanik. Er selbst erlitt kürzlich einen Schlaganfall, aber anstatt sich stationär im Krankenhaus behandeln zu lassen, leistet er weiter Hilfe.

Den Abschied von Heim und Hof haben Victoria und Katharina gerade hinter sich. Die beiden jungen Mütter sind am frühen Morgen aus Uhroidy geflüchtet, das keine zehn Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt. Nun lassen sie sich im Flüchtlingszentrum von Sumy (ca. 260.000 Einwohner) als Binnenvertriebene registrieren. „Der Beschuss war so massiv, dass wir keine andere Wahl hatten, als unsere Kinder in Sicherheit zu bringen.“ Die Väter sind geblieben, um über den Familienbesitz zu wachen. Zwei städtische Sozialarbeiter betreuen den achtjährigen Sohn Victorias und die zwei Jahre alte Tochter Katharinas im Spielzimmer, während die Mütter Dokumente ausfüllen.

Der ukrainische Staat zahlt für jedes Mitglied einer Familie, unabhängig des Alters, eine einmalige Finanzhilfe von umgerechnet 240 Euro. Dazu gibt es Matratzen, Decken, Hygieneartikel und Lebensmittelpakete. Insgesamt wurden bisher fast 37.000 Einwohner des Sumy-Oblasts evakuiert, darunter mehr als 6.400 Kinder. Die Evakuierungen werden fortgesetzt, nachdem die örtlichen Behörden am 30. September veranlasst hatten, dass alle Kinder in Begleitung ihrer Eltern eine auf 10 Kilometer ausgedehnte Zone entlang der Grenze verlassen müssen.

„Mittlerweile treffen nicht mehr so viele Flüchtlinge ein, wie in den beiden vergangenen Monaten“, sagt Ina Klymenko, die Leiterin des Hilfszentrums. Es kommen zwar jeden Tag weiter Flüchtlinge an, aber deren Anzahl ist nicht mit August und September zu vergleichen. „Da hatten wir täglich rund 350 Menschen und mussten buchstäblich rund um die Uhr arbeiten“, sagt die 45-Jährige. „Klar, die Leute hatten Angst vor den Kämpfen an der Grenze.“

Der ukrainischen Regierung zufolge war die Kursk-Offensive ein Präventivschlag, um eine bevorstehende russische Invasion der Region Sumy zu verhindern. Der Angriff war erfolgreich, aber Russland greift als Vergeltung die ukrainischen Grenzgebiete und die Stadt Sumy an – so massiv wie selten zuvor. „Tag für Tag werden wir auch in Sumy beschossen“, sagt Klymenko. „Mit Gleitbomben, Shahed-Drohnen und dies sogar tagsüber, was sonst eher selten vorkam.“ Trotzdem ist die Leiterin des Zentrums erleichtert: „Oh nein, eine russische Invasion wäre viel, viel schlimmer.“ Zwei Mitarbeiterinnen an ihren Schreibtischen im großen, langen Flur nicken zustimmend.

Die Kursk-Operation war ein Überraschungsangriff. Internationale Experten und Militärs waren angetan von der Taktik der ukrainischen Streitkräfte. Die Fachzeitschrift „Foreign Policy“ schrieb: „Die ukrainische Kursk-Offensive ist ein Wendepunkt im Krieg.“ Selbst russische Soldaten, die in Kursk in Kriegsgefangenschaft gerieten, sprechen von „hervorragender Planung und Organisation“ der Ukrainer. „Wir waren chancenlos, und unsere Kommandeure hatten uns auf einen derartigen feindlichen Angriff nicht vorbereitet“, sagt Sergei, ein 38 Jahre alter Leutnant der russischen Armee in einem ukrainischen Gefängnis zu WELT.

Aber wer mit ukrainischen Soldaten spricht, hört auch kritische Stimmen, sie halten die Strategie aus Kiew für riskant, insbesondere angesichts der sich verschlechternden Lage an der Ostfront. Die russische Armee erobert zwar nur langsam, aber stetig neue Gebiete wie etwa im Norden bei Kupjansk und vor allem bei Pokrovsk in der Donezk-Oblast.

„Wir marschieren in Russland ein, das ist auf den ersten Blick natürlich fantastisch“, sagen einige Soldaten im Gespäch mit WELT, die in der Region Pokrovsk kämpfen. „Aber am Ende wäre es besser gewesen, man hätte uns hier Verstärkung geschickt.“

Dem ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskyj zufolge ist die Kursk-Offensive die „erste Phase“ seines „Siegesplans“, der die Russische Föderation schon im kommenden Jahr an den Verhandlungstisch zwingen und einen „fairen Frieden“ ermöglichen soll. Diesen Plan, für den Selenskyj im September in den USA und den europäischen Hauptstädten geworben hatte, stellte er am Mittwoch auch im ukrainischen Parlament vor.

Der „Victory plan“ enthält sieben Punkte, wovon drei geheim sind. Auf militärischen, ökonomischen und politischen Ebenen soll zuzunehmend Druck auf Russland ausgeübt werden. Das Kalkül: Die von der Ukraine eroberten russische Gebiete in Kursk könnten bei Friedensverhandlungen als Tauschpfand gegen die von Moskau besetzten Territorien dienen.

Selenskyj hat daher nun auch offiziell angekündigt, die Angriffe auf Ziele in der Russischen Föderation zu verstärken, möglichst unter dem Einsatz von aus dem Westen gelieferten weitreichenden Waffen aus dem Westen, was ihm die Partner bisher aber verweigern. Gerüchten aus ukrainischen Militärkreisen zufolge will Kiew zudem seine Bodenoperationen auf weitere russische Regionen ausweiten. Das würde zum einen die ‚Tauschware‘ erhöhen und könnte gleichzeitig „zu einem Stimmungswandel und Protesten in Russland führen“, wie es Präsidentenberater Mychajlo Podoljak kürzlich im Interview mit WELT AM SONNTAG formulierte. Die Menschen in Russland „erleben plötzlich diesen Krieg selbst und merken, wie beängstigend das ist.“

„Wir haben mit der Kursk-Offensive unseren Verbündeten gezeigt, wozu wir fähig sind“, sagt Major Vitali Olegowitsch von der 61. mechanisierten Brigade, die Teil der Angriffsformation in Kursk war. Der 30-Jährige leitete während der Operation das Kommandozentrum der Brigade. „Wir haben nach der 80. Luftlandebrigade als zweite Gruppe die russische Grenze überschritten“, berichtet Olegowitsch, der schon im ersten Kriegsjahr als „Held der Ukraine“ ausgezeichnet wurde.

Insgesamt waren 60 Schützenpanzer und Truppentransporter, sowie 15 Panzer und 15 weitere Fahrzeuge der Brigade beteiligt. „Wir hatten den Auftrag, feindliche Angriffe aus Nordosten zu verhindern“, so Olegowitsch. „Aber wir bekamen einen neuen Befehl und mussten Sudscha säubern.“ Die Kleinstadt mit mehr als 5000 Einwohnern liegt etwa 15 Kilometer innerhalb Russlands. „Dies dauerte mehr als eine Woche, wobei wir selbst noch nach einem Monat versteckte Russen aufstöberten“.

Der junge Offizier sagt, der Feldzug sei akribisch geplant worden. Drohen hätten gegnerische Panzer und Artilleriestellungen zerstört, bevor die ukrainischen Einheiten ihre koordinierten Vorstöße begonnen haben. Trotz des Erfolgs wirkt Olegowitsch nicht zufrieden. „Wir hätten doppelt so schnell sein können, wenn wir westliche Waffensysteme gehabt hätten.“

Die 61. Brigade ist mehrheitlich mit Waffen aus russischer Produktion ausgestattet. „Die 80. Brigade, die über westliche Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sowie Artillerie verfügt, musste in Sudscha auf uns warten, anstatt weiter vorzumarschieren“, sagt der Major. „Sie hätte die Stadt Kursk erreichen können.“

Die 61. Brigade ist weiterhin in der Kursk-Oblast stationiert und verteidigt das besetzte Gebiet. „Wir haben die russische Gegenoffensive abgewehrt und bauen unsere Verteidigungsstellungen weiter aus“, sagt Olegowitsch. „Wir bleiben.“ Zu den feindlichen Gebietsgewinnen an der Ostfront fällt das Statement des Kommandeurs knapp aus: „Meinen Informationen nach halten sich die russischen Erfolge in Grenzen und führen zu keiner entscheidenden Veränderung.“

Zurück im Flüchtlingszentrum Sumy. Kaum eine Stunde nach ihrer Registrierung sind Katharina und Viktoria samt ihren Kindern schon zu ihrer neuen Unterkunft unterwegs. Sie werden in einem der vielen Studentenwohnheime auf dem riesigen Gelände der landwirtschaftlichen Fakultät der Universität am Stadtrand untergebracht. 113 Menschen leben dort bereits in dem fünfstöckigen Gebäude, das noch aus der Sowjetzeit stammt. Küche und Toilette teilt man sich auf einem Stockwerk, Waschraum ist im Keller.

„Ich muss mich beeilen“, sagt Bürgermeister Toreanik plötzlich im Gespräch und verabschiedet sich. Er will noch zu Hause sein, bevor es Nacht wird. Denn dann kreisen die russischen Drohnen in der Luft auf der Suche nach Angriffszielen. „Ich fahre 130 km/h schnell, da die verflixten Dinger nur 110 km/h schaffen.“ Er möchte mit seiner Frau in Ruhe Abendessen – wenn das bei dem Lärm der Explosionen überhaupt denkbar ist.

Alfred Hackensberger hat seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten im Auftrag von WELT berichtet. Vorwiegend aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostenn, wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, zuletzt aber auch aus Bergkarabach und der Ukraine.

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