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Überraschender „Totalausfall“ der Bier-Nation Deutschland | ABC-Z

Trotz der Fußball-EM im Sommer ist der Bier-Markt in Deutschland eingebrochen. Für einige Brauereien ist die Lage bereits dramatisch. Für einen Monat spricht die Branche gar von einem „historischen Tiefpunkt“. Sie wendet sich bereits Alternativen zu.

Auf den Fußball konnten sich Deutschlands Brauereien bislang stets verlassen. Jedenfalls haben große Turniere wie Welt- oder Europameisterschaften den Bierabsatz hierzulande immer zuverlässig angekurbelt und Experten zufolge zu Mengeneffekten in einer Größenordnung von mindestens 700.000 Hektolitern geführt. Die Folge waren Verkaufszahlen im Eventmonat Juni von jeweils 9,3 bis 10,3 Millionen Hektolitern in den 2010er-Jahren und von gut zehn bis sogar elf Millionen Hektolitern in den 2000ern.

Anders die Heim-EM im vergangenen Jahr: Mit einem Absatzvolumen von gerade mal 7,8 Millionen Hektolitern im Juni 2024 blieb das Turnier in Deutschland nicht nur sportlich hinter den Erwartungen zurück.

Bei den Brauern ist die Enttäuschung groß. Volker Kuhl, der Sprecher der Geschäftsführung von Veltins, spricht sogar von einem „Totalausfall“ angesichts der zuvor hohen Erwartungen. Nicht zuletzt durch die aus dem Ausland angereisten Fans und anfänglichen Meldungen, dass etwa schottische oder dänische Fußballfans sämtliche Bier-Vorräte verschiedener Kneipen und Biergärten im Umfeld von Spielen ihrer Mannschaften leer getrunken haben.

Das allerdings blieben seltene Anekdoten. „Der Funke ist nicht übergesprungen, die Bilanz ernüchternd“, resümiert Kuhl und nennt als Referenz vor allem die Heim-WM im Jahr 2006, bei der gut drei Millionen Hektoliter mehr verkauft wurden. „Der erwartete Absatzbonus ist ausgeblieben, allein im Turniermonat Juni sackte der Ausstoß der Brauwirtschaft auf einen historischen Tiefpunkt.“

Einen Einbruch in Höhe von 13,5 Prozent gegenüber dem turnierlosen Vorjahresmonat weisen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes für den Juni 2024 aus. Großen Einfluss hatte dabei allerdings auch das nasskalte Wetter, dem nicht nur öffentliche Public Viewings zum Opfer gefallen sind, sondern vielfach auch die privaten Fußballfeiern.

Hinzu kommt die grundsätzliche Konsumzurückhaltung oder gar -verweigerung bei den deutschen Verbrauchern. „Es ist nicht gelungen, die politisch und wirtschaftlich belastenden Themen in den Hintergrund zu drängen“, sagt Kuhl.

Trotzdem hatte das vergangene Jahr eigentlich noch gut begonnen für die rund 1500 Brauereien hierzulande. Bis inklusive Mai lagen die Absätze 2,5 Prozent über den allerdings auch schwachen Vorjahreswerten. Der Sommer bildete dann einen Wendepunkt hin zu einer Talfahrt, die bis in den Dezember angehalten und den Markt ins Minus gedreht hat.

Unter dem Strich steht nun ein Mengenrückgang in Höhe von 1,4 Prozent auf nur noch gut 82,5 Millionen Hektoliter, wie das Statistische Bundesamt meldet. „Damit setzt sich die langfristige Entwicklung sinkender Absatzzahlen fort“, heißt es von der Behörde.

Vom Brauer zum Getränkeanbieter

Die Langfristbetrachtung zeigt dabei signifikante Rückgänge. So ist der Bierabsatz in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren um fast 14 Prozent oder umgerechnet 1,3 Milliarden Liter eingebrochen. Lebenshaltungskosten spielen dabei eine Rolle, insbesondere in den vergangenen Inflationsjahren, heißt es vom Deutschen Brauer-Bund (DBB), der hohen Kostendruck für die Brauereien beklagt, sei es durch gestiegene Rohstoff-, Energie- oder Personalkosten.

„Notwendige Preissteigerungen bei den Produkten beeinflussen sofort die Konsumlaune“, sagt Verbandspräsident Christian Weber. Wobei Bier in Deutschland „objektiv betrachtet“ weiterhin ein „noch sehr kostengünstiges Produkt“ sei. „Dennoch stellten sich die Konsumenten die Frage: Kann ich es mir leisten? Will ich mir das leisten?“

Dazu kommen Faktoren wie die Alterung der Gesellschaft, vor allem aber der Trend zu einem gesünderen Lebensstil mit weniger oder gar keinem Alkohol. Zahlreiche Brauereien passen sich diesen veränderten Konsumgewohnheiten bereits an und investieren in Sortimente jenseits von Bier. Zu Branchenriese Krombacher zum Beispiel gehörten auch die Marken Schweppes, Orangina und Dr. Pepper.

„Wir gehen unseren Weg der Transformation von der klassischen Brauerei zu einem umfassenden Getränkeanbieter konsequent weiter“, sagt Hendrik Kuhn, der Vertriebsdirektor Handel bei den Westfalen. Konkurrent Paulaner wiederum verkauft in großem Stil Spezi, zudem gibt es quer durchs Land Hunderte kleinere Bierbrauer, die Limonaden herstellen und meist regional verkaufen.

Aber auch alkoholfreies Bier bahnt sich den Weg in die Mitte der Gesellschaft. Auf mittlerweile knapp neun Prozent schätzen die Marktforscher von Nielsen den Marktanteil im Getränkehandel. Damit ist alkoholfrei, das in den amtlichen Zahlen zum Bierabsatz nicht mitgezählt wird, hinter Pils und Helles schon die drittstärkste Sorte. 2024 hat dabei abermals einen merklichen Schub gebracht. Denn entgegen dem Minustrend im Gesamtmarkt konnte Alkoholfrei in den ersten drei Quartalen um stattliche 13 Prozent beim Abverkauf im Handel zulegen, wie Nielsen-Analysen zeigen.

„Alkoholfrei ist ein Zukunftsthema“, sagt DBB-Präsident Weber, der im Hauptberuf die saarländische Brauerei Karlsberg führt. Schon bald werde jedes zehnte verkaufte Bier alkoholfrei sein. „Die Zeiten, in denen Alkoholfreies ein reines Autofahrerbier war, sind längst vorbei. Heute ist alkoholfreies Bier ein Lifestyle-Getränk.“

Das bestätigen auch die Psychologen des Rheingold-Instituts für Markt- und Medienforschung. „Es gibt kaum noch Rechtfertigungsdruck mehr Alkoholfrei zu trinken, man wird nicht mehr belächelt“, sagt Paul Bremer, Mitglied der Geschäftsführung bei Rheingold. Denn Alkohol passe immer seltener zur Selbstoptimierung der Konsumenten und zu der sich Bahnen brechenden Dauerbereitschaft.

Betriebe stehen vor großem Investitionsbedarf

„Man will nicht mehr weißbierselig sein, sondern stets auf jede neue Möglichkeit im Laufe eines Tages reagieren können“, erklärt Bremer. „Die Menschen wollen sich offenhalten, kurzfristig zum Sport gehen zu können, die Kinder abzuholen oder auf die Nachricht vom Chef zu antworten“, so Bremer. Auch das Bier zur Mittagspause, das in einigen Branchen früher üblich war, sei längst verpönt.

Bremer prognostiziert daher weiter „stark wachsende“ Absatzzahlen für alkoholfreies Bier. Den Psychologen wundert daher nicht, dass nun auch die Kult-Marke Augustiner eingestiegen ist und nach rund 700 Jahren Braugeschichte erstmals ein alkoholfreies Produkt auf den Markt gebracht hat. Der Hype war dabei zeitweise so groß, dass Augustiner alkoholfrei ausverkauft war.

Auch Veltins ist in diesem Markt vertreten. Mit rund 220.000 Hektolitern bei einem Gesamtausstoß von rund 3,36 Millionen Hektolitern ist der Anteil allerdings deutlich geringer als in anderen Brauereien.

„Wir sehen noch genügend Potenzial für das klassische Bier“, erklärt Geschäftsführer Kuhl. Und tatsächlich hat sich der Marktanteil der Stammmarke in den vergangenen Jahren stetig erhöht: von vier Prozent im Jahr 2012 auf 6,6 Prozent im Jahr 2024.

Die positive Entwicklung begründet er mit einem „stabilen Markenmix“, zu dem neben dem klassischen Pils auch Spezialitäten wie Grevensteiner, Pülleken und neuerdings Helles Lager, das auch für den Export gedacht ist.

Leidtragende von steigenden Verkaufszahlen großer und in der Werbung präsenten Brauereien in einem gleichzeitig schrumpfenden Markt sind kleine und regionale Bieranbieter. Kuhl befürchtet daher auch eine Konsolidierung. „Für viele Brauereien ist die Luft so eng geworden, dass es bereits 2024 erste Betriebsaufgaben kleinerer Unternehmen gab“, berichtet der Manager. Und das sei erst der Anfang. „Die Verbraucher müssen sich in vielen Teilen des Landes ernsthaft sorgen, wie es mit der kleinteiligen Brauwirtschaft in Zukunft weitergeht.“

Marktgefüge und Handelsmacht einerseits sowie Beschaffungskosten und Investitionszwang in die energetische Transformation andererseits brächten viele Brauereien in eine existenzgefährdende Sandwich-Position, aus der ihnen niemand heraushelfen könne, so der Biermanager. „Es besteht kein Zweifel daran, dass die Brauwirtschaft vor den größten Investitionen in den nächsten Jahren steht. Klimaneutralität und Energiewende werden zur Nagelprobe der Zukunftsfähigkeit werden.“

Carsten Dierig ist Wirtschaftsredakteur in Düsseldorf. Er berichtet unter anderem über Handel und Konsumgüter, Maschinenbau und die Stahlindustrie.

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