Politik

Überlebender der Atombombe von Hiroshima im Interview mit ntv.de: “Wir dachten, wir hätten die Hölle überlebt” | ABC-Z

Vor 80 Jahren überlebt Kunihiko Sakuma den US-Atombombenabwurf auf Hiroshima. Doch er ist einer von Hunderttausenden, die unter den Spätfolgen der radioaktiven Strahlung leiden. Wie er damit seit Jahrzehnten lebt, erzählt er ntv.de.

An einem Montagmorgen im Sommer 1945 sitzt eine Mutter allein mit ihrem Neugeborenen auf der Veranda ihres Hauses in Hiroshima, einer Stadt im Westen Japans. Ihr Mann ist bereits zur Arbeit gegangen. Die älteren Kinder, zwei Mädchen, wurden zusammen mit der Großmutter schon vor einiger Zeit zu Verwandten aufs Land geschickt. Dort ist es sicherer. Denn seit mehr als 1300 Tagen kämpft das Kaiserreich Japan einen Krieg im Pazifik gegen die USA und deren Verbündete.

In einer Wiege schaukelt die Mutter ihren neun Monate alten Sohn hin und her. Bisher war die Großstadt im Westen Japans auf der Insel Honshu, auf der zu diesem Zeitpunkt mehrere Hunderttausend Menschen leben, von Luftangriffen der Alliierten verschont geblieben. Das ändert sich am 6. August um 8.15 Uhr. In diesem Moment wirft der US-Bomber “Enola Gay” genau über dem Stadtzentrum eine Atombombe ab: “Little Boy” fällt 45 Sekunden, dann explodiert die Bombe in etwa 600 Metern Höhe.

Unmittelbar breiten sich gewaltige Druck- und Hitzewellen von mindestens 6000 Grad Celsius mit rasender Geschwindigkeit aus. Binnen Sekunden werden rund 80 Prozent der Innenstadt zerstört. Gleich nach der Explosion steigt über Hiroshima ein Atompilz auf. Auch ein Feuersturm bricht aus. Schätzungen zufolge sterben fast 100.000 Menschen noch an diesem Tag.

Den Höllen-Tag überleben

Mutter und Baby befinden sich damals 2,8 Kilometer vom Hypozentrum entfernt. Damit ist jener Punkt auf der Erdoberfläche gemeint, der senkrecht unterhalb der in der Luft explodierten Atombombe liegt. Dort tritt die höchste Energie auf, die radioaktiven Strahlungen sind am stärksten. Wie Hunderttausende andere Menschen versucht auch sie, sich und ihr Kind in Sicherheit zu bringen. Mit dem Neugeborenen auf dem Rücken rennt sie zum nächsten Evakuierungszentrum. “Auf dem Weg dorthin waren wir schwarzem Regen ausgesetzt”, sagt Kunihiko Sakuma 80 Jahre später im Gespräch mit ntv.de. Er ist das Baby, das die Mutter damals zur Notaufnahme trägt.

Der radioaktive Niederschlag, auch Fallout genannt, bleibt an ihrer Haut und ihrer Kleidung haften. Schließlich erreichen Mutter und Sohn mehr oder weniger unverletzt das Evakuierungszentrum. Dort drängen sich dicht an dicht schwer verletzte Menschen, das Zentrum ist überfüllt. Nach kurzem Aufenthalt entscheidet sich die Mutter, mit ihrem Sohn wieder nach Hause zu gehen: Einige Dachziegel fehlen dem Gebäude, die Fenster sind zerborsten und die Wände stehen schief, aber es ist noch bewohnbar. Sie haben den Atombombenabwurf auf Hiroshima überstanden.

“Wir dachten, wir hätten die Hölle überlebt”, sagt Sakuma über die Tage nach dem Abwurf, die er als Baby erlebt hat. Der 6. August 1945 lässt ihn auch 80 Jahre später nicht los. Sakuma ist einer von schätzungsweise mehr als 100.000 Menschen, die durch die Spätfolgen der radioaktiven Strahlen schwer erkranken.

Die Familie hält zusammen

Am 9. August werfen die Amerikaner über der japanischen Stadt Nagasaki eine weitere Atombombe ab: “Fat Man”. Am 15. August 1945 um 12 Uhr verkündet Kaiser Hirohito im Radio die bedingungslose Kapitulation Japans. Damit endet der Zweite Weltkrieg auch im Pazifik.

Der Krieg ist zu Ende, doch der Überlebenskampf der Familie Sakuma hat gerade erst begonnen: In den Nachkriegsjahren mangelt es Nahrung, viele Menschen hungern. Eine zwei Jahre ältere Schwester stirbt 1947 – woran, bleibt unklar. Sakuma vermutet heute, dass es an Mangelernährung lag.

Die Spätfolgen der radioaktiven Strahlung zeigen sich bei Mutter und Sohn erst Jahre später. Seine Mutter fühlt sich oft nicht wohl, immer wieder muss sie ins Krankenhaus. Später wird bei ihr Brustkrebs diagnostiziert. Sakuma wird von der Großmutter und der zehn Jahre älteren Schwester großgezogen. “Nur im Zusammenhalt der Familie haben wir diese schwere Zeit überlebt”, sagt Sakuma. Dafür ist er heute sehr dankbar.

Kunihiko Sakuma als kleiner Junge in Hiroshima.

Kunihiko Sakuma als kleiner Junge in Hiroshima.

(Foto: Kunihiko Sakuma)

“Ich dachte, ich würde sterben”

Mehr als ein Jahrzehnt schweigt die Familie über den Atombombenabwurf und seine Folgen. Bis zu seinem elften Lebensjahr weiß der Junge nicht, was er als Säugling durchstehen musste. Mitte der 1950er Jahre erkrankt er allerdings schwer. “Ich fühlte mich schlapp, hatte keinen Appetit und dachte, ich würde sterben”, erinnert sich Sakuma an den Moment, als er das erste Mal die Auswirkungen der Strahlung auf seinen Körper spürte. Jedes Mal, wenn ihn Schwäche befällt, kommt diese Erinnerung hoch und er hat Todesangst. Die spürt er bis heute.

Damals hat der Junge vor allem Probleme mit den Nieren und der Leber. Er muss im Krankenhaus behandelt werden. Mehrere Monate kann er nicht zur Schule gehen. Die Familie muss die hohen Kosten für die medizinischen Behandlungen selbst tragen – eine große finanzielle Belastung für viele Betroffene des Atombombenabwurfs. 1957 erlässt die japanische Regierung ein Gesetz, das ihnen Erleichterung bringen soll. Der “Hibakusha kenkō techō” wird eingeführt, eine Art Gesundheitspass für Atombombenopfer. Der japanische Begriff “Hibakusha” bedeutet ins Deutsche übersetzt “von Bomben betroffene Menschen”. Diese können mit dem Ausweis die Übernahme der Arztkosten beantragen.

Bei Sakuma treten im Alter von 11 Jahren erstmals die gesundheitlichen Folgen der radioaktiven Strahlung auf. Hier wärmt er sich zusammen mit seiner Mutter und seiner ältesten Schwester an einem Ofen. Er lacht, aber litt zu dieser Zeit bereits an Krankheiten. Bei Sakuma treten im Alter von 11 Jahren erstmals die gesundheitlichen Folgen der radioaktiven Strahlung auf. Hier wärmt er sich zusammen mit seiner Mutter und seiner ältesten Schwester an einem Ofen. Er lacht, aber litt zu dieser Zeit bereits an Krankheiten.

Bei Sakuma treten im Alter von 11 Jahren erstmals die gesundheitlichen Folgen der radioaktiven Strahlung auf. Hier wärmt er sich zusammen mit seiner Mutter und seiner ältesten Schwester an einem Ofen. Er lacht, aber litt zu dieser Zeit bereits an Krankheiten.

(Foto: Kunihiko Sakuma)

Bei der Beantragung des Ausweises für ihren Sohn spricht die Mutter erstmals über die Ereignisse des 6. August. “Ich habe keine eigenen Erinnerungen. Alles, was ich über diesen Tag weiß, hat mir meine Mutter erzählt”, sagt Sakuma. Sie füllen den Antrag gemeinsam aus und reichen ihn ein. Nach einigen Monaten wird ihm der Ausweis ausgestellt. Bald kann Sakuma wieder zur Schule – doch dort erfährt man, dass er Hibakusha ist. “Es gab Vorbehalte gegen uns Atombombenopfer”, erinnert er sich.

Zerplatzter Traum

Nach erfolgreichem Schulabschluss zieht es den damals 19-Jährigen in die Millionenmetropole Tokio. “Ich wollte nicht mit Hiroshima in Zusammenhang gebracht werden”, sagt Sakuma. Er studiert an der Tokyo YMCA International Hotel School und träumt davon, Japan eines Tages zu verlassen. Nach dem Abschluss an der Hotelfachschule arbeitet er im Hilton Hotel in Tokio.

Er lernt eine Frau kennen, verliebt sich in sie und das Paar schmiedet gemeinsame Zukunftspläne, sie denken über eine Hochzeit nach. Er erzählt ihr offen, dass er aus Hiroshima stammt und Hibakusha ist. “Ich wollte ihr nichts verheimlichen. Ich habe sie geliebt”, sagt er.

Eines Abends nimmt seine Freundin ihn mit zu ihrer Familie. Vor der Haustür bittet sie ihn, dort zu warten. Unfreiwillig bekommt er vor der Tür mit, dass sie über seine Herkunft reden. “Er ist aus Hiroshima”, hört er die Mutter seiner Freundin sagen. Die Familie ist entsetzt. Viele Menschen aus Hiroshima und aus Nagasaki erleben in den Jahren nach dem Atombombenabwurf in der japanischen Gesellschaft Diskriminierung. Vor allem die Hibakusha werden ausgegrenzt und stigmatisiert. Als Heiratskandidaten werden sie oftmals abgelehnt – zu groß ist die Angst davor, dass die Nachkommen deformiert oder schwer krank zur Welt kommen.

Sakuma verletzen die Worte seiner potenziellen Schwiegermutter sehr. Bis heute seien sie ihm im Kopf geblieben, sagt er. Obwohl seine Freundin die Beziehung weiterführen möchte, trennt er sich. Sakuma glaubt, unter solchen Bedingungen könne ein gemeinsames Leben nicht funktionieren. Zu groß ist die Angst vor möglichen Fehlbildungen, die er als Hibakusha vererben könnte. “Ich gab mein Leben in Tokio auf, verzichtete auf meine Liebe und ging zurück nach Hiroshima”, erinnert sich der heute 80-Jährige. Er kündigt seinen Job, 1971 verlässt er Tokio. Dass er ein Hibakusha ist, darüber schweigt er jahrzehntelang. Erst mit über 60 Jahren erlebt er einen Sinneswandel. Fotografien von Yoshito Matsushige bringen ihn zum Umdenken.

Ein Bekenntnis zum Überleben

2006 arbeitet Sakuma in einer Bankfiliale, in deren Foyer Aufnahmen des japanischen Fotografen ausgestellt sind. Auf dem Weg in sein Büro passiert Sakuma jeden Tag die Bilder. Es sind nicht irgendwelche Bilder. Es sind Fotos vom 6. August, dem Tag, an dem die Atombombe über Hiroshima explodierte. Irgendwann bleibt Sakuma stehen und betrachtet sie eingehend. “Da dachte ich, ich bin doch einer von denen, von ihnen”, erinnert er sich.

“Damals begriff ich, dass ich nicht schweigen darf. Ich wollte offen dazu stehen, dass ich ein Überlebender der Atombombe bin”, erinnert sich Sakuma. “Indem ich mich dazu bekannte, konnte ich mich befreien.” Seitdem engagiert er sich bei Hiroshima Hidankyo, einem Verband, der Hibakusha berät und unterstützt. Heute ist er Vorsitzender der lokalen Organisation. Sie gehört zur Initiative Nihon Hidankyo, die 2024 den Friedensnobelpreis erhält.

Während seiner Berlin-Reise war der Besuch der Friedensglocke im Volkspark Friedrichshain für den Überlebenden Sakuma ein besonderer Moment. Der Ort erinnert an die verheerenden Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Während seiner Berlin-Reise war der Besuch der Friedensglocke im Volkspark Friedrichshain für den Überlebenden Sakuma ein besonderer Moment. Der Ort erinnert an die verheerenden Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki.

Während seiner Berlin-Reise war der Besuch der Friedensglocke im Volkspark Friedrichshain für den Überlebenden Sakuma ein besonderer Moment. Der Ort erinnert an die verheerenden Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki.

(Foto: International Campaign to Abolish Nuclear Weapons Germany (ICAN))

“Die Welt steht beim Thema Atomwaffen heute an einem Scheideweg”, sagt Sakuma. Im Mai 2025 reist der 80-Jährige nach Europa. Das International Peace Bureau und die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons Germany (ICAN) würdigen ihn in Berlin für seine Arbeit.

“Die Abschreckung durch Atomwaffen schafft keinen Frieden und keine Sicherheit. Angesichts der Gefahr müssen Atomwaffen dringend abgeschafft werden”, fordert er in Berlin und appelliert an die Bundesregierung, den Atomwaffenverbotsvertrag zu unterzeichnen. Laut Auswärtigem Amt ist der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen der vorrangige Rahmen für nukleare Abrüstungspolitik Deutschlands. “Solange wir Hibakusha leben, setzen wir uns für eine Welt ohne Krieg und Atomwaffen ein”, sagt Sakuma. Er möchte den Tag erleben, an dem Atomwaffen abgeschafft sind. “Denn bis heute, noch 80 Jahre nach dem Atombombenabwurf, leiden und sterben Menschen an dessen Folgen”, sagt der Überlebende.

Das ntv.de-Gespräch mit Kunihiko Sakuma wurde von Yu Kajikawa übersetzt. Es entstand im Rahmen des Besuchs der japanischen Delegation in Berlin, die von International Campaign to Abolish Nuclear Weapons Germany (ICAN) eingeladen wurde.

Back to top button