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Über Wahrheit und Wirklichkeit – Reisen durch ferne Länder und wissenschaftliche Gedanken | ABC-Z

Die Universalien Wahrheit und Wirklichkeit haben mich schon immer fasziniert. Die kürzlich erschienene Schrift Der Code der Mathematik – Beweis und Wahrheit vom deutschen Mathematiker Stefan Müller-Stach beschäftigt sich mit Wahrheit und muss sich unweigerlich auch mit dem Begriff der Wirklichkeit auseinandersetzen, was mich zur Lektüre des Buches motivierte. Es ist ein wunderbarer Text, auch wenn man sich zwischenzeitlich fragt, an welches Publikum sich Müller-Stach richtet. Vor allem in den Kapiteln 3 und 4 überfliegt er im aufzählenden Eilzugstempo grosse Landschaften neuster mathematischer Forschung. Im folgenden möchte ich einige Stellen des genannten Buches einer näheren Untersuchung unterziehen, sofern sie im Zusammenhang mit den Begriffen Wahrheit und Wirklichkeit stehen.

Die Anfänge der Logik und der formalen Sprachen

Über Wahrheit und Wirklichkeit haben vor 2 – 3 Jahrtausenden bereits die alten Griechen und vor ihnen vermutlich auch schon die Inder und Babylonier nachgedacht. In diesem Essay möchte ich auch auf einige hervorragende Persönlichkeiten hinweisen, die die Kulturgeschichte wesentlich geprägt haben. Ich kann wohl nicht sagen, dass sie die Welt zu dem gemacht haben, die sie heute ist, denn viele Zeitgenossen sind ja der Meinung, dass die heutige Welt schlecht sei, was aber schliesslich Ansichtssache ist.

In der Neuzeit war es vor allem Gottfried Willhelm Leibniz zu verdanken, dass die Logik und formale Sprachen – zu denen auch die modernen Programmiersprachen gehören – ernsthafte wissenschaftliche Disziplinen wurden. Seine umfangreichen Überlegungen zur Logik hat er kaum publiziert. Sie wurden erst nach und nach aufgelegt, z.B. 1901 im 622-Seiten-Werk La logique de Leibniz (s. Die Logik des Herrn Leibniz) von Louis Couturat. Die umfassendste Sammlung der Leibnizschen Originalnotizen über Logik ist 1343 Seiten lang und lässt sich hier downloaden!

Logik ist die Sprache, um die diffizilen Fragen um die Wahrheit zu formulieren und zu untersuchen. Man muss ja schliesslich genau definieren, was eine Aussage ist und wie man mit Aussagen umgehen soll und darf, um den eventuellen Wahrheitsgehalt von Aussagen diskutieren zu können. Mit anderen Worten: Aussagen müssen in einer formalen Sprache formuliert sein. Auch Philosophen und Linguisten arbeiten mit formalen Sprachen.

Formale versus natürliche Sprache

Zur Frage, ob es nicht genügt, den Wahrheitsgehalt von Aussagen in einer natürlichen Sprache zu untersuchen, weist Müller-Stach zunächst auf Gottlob Frege hin (S.31), einem deutschen Logiker und Philosophen, der 1848 und 1925 in Jena lebte und mit seinen Beiträgen zur formalen Methoden in der linguistischen Semantik wesentliche Grundlagen zur heutigen Informatik schuf:

Frege erkannte anhand von Beispielen, dass die natürliche Sprache keine gute Basis für die Grundlagen der Mathematik ist und entwickelte deshalb die mathematische Logik als Wissenschaft der allgemeinsten Gesetze des Wahrseins. Komplexe oder konditionale Aussagen [sind] schwer zu vermitteln und es existieren unterschiedliche Denkschulen, Vorurteile, Beeinflussungen von Meinungen und nicht zuletzt Dummheit und Ignoranz. Im wissenschaftlichen Umfeld kann man sich fast nur auf sprachanalytisch-semantische Wahrheitstheorien konzentrieren, wie sie von Tarski im 20. Jahrhundert mit Hilfe formaler Sprachen eingeführt wurden.

Alfred Tarski war ein polnischer Logiker und Mathematiker, der von 1901 bis 1983 lebte, und grundlegende Beiträge zur Logik und zur formalen Wahrheitstheorie erarbeitet hat. Müller-Stach schreibt (S.178 und S.183):

Wahrheitstheorien wurden von Tarski mit Hilfe formaler Sprachen eingeführt. Seine Methode führte zum Konzept der Semantik, die über das Konzept einer Metasprache definiert wird …, die reichhaltiger als die gegebene Objektsprache ist.

Tarski gelang dies im Kontext von Sprachen, die er ärmere Sprachen nannte. Zu diesen gehören insbesondere die formalen Sprachen der Logik und der Mathematik. Er schrieb dazu:

Im weiteren Verlaufe der Abhandlung werde ich ausschließlich die einzigen nach wissenschaftlichen Methoden aufgebauten in Betracht ziehen, welche heute bekannt sind, d.i. die formalisierten Sprachen der deduktiven Wissenschaften; … In Bezug auf die „ärmeren” Sprachen findet das Problem der Definition der Wahrheit eine positive Lösung….In reicheren Sprachen, zu denen die natürlichen Sprachen zählen, kann diese Konstruktion nicht direkt angewandt werden.

Die Korrespondenztheorie der Wahrheit

Im Kapitel 1 geht Müller-Stach auf grundlegende (philosophische) Fragen ein, die nahe an denen sind, die Dirk Boucsein in seinem Artikel Die Metamathematik bereits aufgeworfen hat, und über die ich in meinem letzten Post geschrieben habe. Es geht um Platons Ideenlehre und Freges Logizismus, aber auch um die Frage der Gleichheit und um den Intuitionismus im darauffolgenden Kapitel über Wissenschaftssprachen. Dort kommt dann Müller-Stach zum ersten mal auf die Frage nach der Wahrheit zu sprechen. Er erwähnt die Korrespondenz- und die Kohärenztheorie der Wahrheit.

Die Korrespondenztheorie besagt, dass die Aussage p genau dann wahr ist, wenn p der Fall ist. Das liest sich dann z.B. so: „Es regnet genau dann, wenn es regnet“. Hier wird also der Aussage „es regnet“ ein Wahrheitsgehalt zugeordnet, der davon abhängt, ob es draussen tatsächlich regnet. Einige Menschen beginnen hier, darüber zu diskutieren, dass die Aussage «es regnet» unvollständig sei, denn man müsse noch wissen, wann und wo es regnet. Mit «es regnet» ist also gemeint, dass es hier und jetzt regnet und zwar draussen aus dem bewölkten Himmel. Um festzustellen, ob die Aussage «es regnet» wahr ist, muss ich also prüfen, ob es draussen tatsächlich regnet. Aber wie soll das gehen? Es gibt sogenannte Regensensoren. Sie melden Regen, wenn eine Sensorfläche nass ist, gemäss der Implikation „Wenn es regnet, ist die Sensorfläche nass“. Ein Regensensor stellt also Regen aufgrund seiner Wirkung fest, indem er die Implikation unerlaubterweise umdreht: Wenn die Sensorfläche nass ist, dann regnet es. Allerdings wird die Sensorfläche auch nass, wenn einer eine Tasse Wasser darüber leert. Die richtige Kontraposition der Implikation würde heissen: „Wenn die Sensorfläche nicht nass ist, kann es auch nicht regnen“. Aber das nützt uns nichts. Sie ist nun mal nass und ich möchte wissen, ob durch den Regen oder weil einer mit einem grossen Schlauch Regen simuliert. Im Allgemeinen können wir nur feststellen, was der Fall ist, indem wir die Wirkung messen und damit eine Implikation falsch interpretieren.

„Es regnet“ ist wahr, wenn es draussen regnet

Schauen wir uns ein anderes Beispiel an, das Müller-Stach im Kapitel 9 erwähnt: die Kugelgestalt der Erde. Die Aussage „Die Erde hat eine Kugelgestalt“ ist nach der Korrespondenztheorie genau dann wahr, wenn die Erde eine Kugelgestalt hat. Wie sollen wir aber die Kugelgestalt der Erde feststellen? So ganz unmittelbar geht das nicht. (Bitte auch hier nicht über die Genauigkeit der Aussage diskutieren, nämlich dass die Erde gar keine Kugel sei. Meinetwegen lautet die Aussage «Die Erdoberfläche ist homöomorph zu einer 2-Sphäre» ).

Die Kohärenztheorie der Wahrheit

Wir können aber in einer Richtung über die Oberfläche der Erde fliegen, um festzustellen, dass wir wieder an den Ausgangspunkt zurückkommen. Wenn wir das für verschiedene Richtungen wiederholen, erhalten wir Indizien für die Kugelgestalt. Dann können wir die Erde aus der Distanz betrachten, z.B. von der Oberfläche des Mondes aus. Zwar sehen wir dann nur eine runde Scheibe, aber wenn wir die Beobachtung zu verschiedenen Zeiten wiederholen, dann sehen wir, dass uns immer andere Kontinente zugewandt sind. Das wäre bei einer Scheibe schwierig zu erklären. Kurz: wir können verschiedene Indizien sammeln, die gegenseitig die Kugelgestalt der Erde stützen. Das nennt man die Kohärenztheorie der Wahrheit. Das Problem dabei ist die Konsistenz der Indiziensammlung. Was tun, wenn sich mehrere Indizien widersprechen?

Die Erdkugel vom Mond aus gesehen

Meistens haben wir aber gar nicht die technischen Möglichkeit, das, was der Fall ist, genau zu überprüfen oder auch nur Indizien zu sammeln über etwas, was der Fall sein soll. Z.B. war es mir nie vergönnt, auf dem Mond spazieren zu gehen und die Erde aus Distanz zu betrachten. Ich bin auf Fotos und Berichten der Mondfahrer angewiesen. Aber kann ich ihnen trauen? Nicht, dass ich ihnen Bösartigkeit unterstelle! Aber sie könnten sich ja auch in irgend einer Hinsicht geirrt haben. Wir wissen ja nur zu gut, wie uns die Wahrnehmung täuschen kann!

Berichtersatter und Journalisten

In den meisten Fällen sind wir auf Berichterstatter (meist «Journalisten» genannt) angewiesen. Es ist, als wären wir in einem fensterlosen Zimmer eingesperrt und jemand käme herein und würde sagen: «Es regnet draussen». Wir haben in den allermeisten Fällen nur die Aussage, können aber nicht überprüfen, ob das, was die Aussage behauptet, auch der Fall ist. Das bringt uns wieder in die Nähe Platons und seinem Höhlengleichnis. Weder die Korrespondenz- noch die Kohärenztheorie der Wahrheit helfen uns weiter, wenn wir keinen Zugang zu dem haben, das der Fall ist.

Das Problem des Berichterstatters wird bei Müller-Stach nicht thematisiert, weil es eher ein gesellschaftliches und politisches Problem ist, das sich einer Formalisierbarkeit entzieht. Müller-Stach schreibt lediglich (S.178):

Im Lauf der Jahrhunderte entstand eine äußerst reichhaltige Literatur mit zum Teil kontroversen Definitionen von Wahrheit, in denen Wahrheitsträger und Wahrmacher unterschiedlich aufgefasst werden. Wir werden die meisten dieser Theorien vollständig vernachlässigen und konzentrieren uns auf die sprachanalytischen semantischen Wahrheitstheorien».

Das ist ernüchternd! Es gibt also keine Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt von komplexen Zusammenhängen zu bewerten. Zuerst wissen wir nicht, wie wir feststellen können, was tatsächlich der Fall ist und dann haben wir meistens nicht einmal Zugang zu dem, was irgendwo der Fall ist. Das ist auch der Grund, weshalb Politik derart kontrovers ist.

Beweise

Beschränken wir uns also auf das, was mit formalen Sprachen möglich ist. Zum Beispiel ist die Aussage «6 ist eine gerade Zahl» – formal 6 in 2mathbb{N} – gemäss der Korrespondenztheorie genau dann wahr, wenn 6 eine gerade Zahl ist. Wir müssen also beweisen, dass 6 tatsächlich eine gerade Zahl ist. Ja nun, was ist denn eine gerade Zahl? Das ist eine, die (ohne Rest) durch 2 teilbar ist. 6 ist in der Tat durch 2 teilbar! 6 div 2 = 3, denn 3 cdot 2 = 6. In diesem Fall haben wir direkten Zugang zu der Welt, in der 6 eine gerade Zahl sein soll, nämlich zu der sogenannten Peano-Arithmetik, und wir haben die Instrumente und Möglichkeiten, um direkt nachzuweisen, dass 6 eine gerade Zahl ist, nämlich die Logik und die Peano Axiomen. Giuseppe Peano war ein piemontesischer Mathematiker, der von 1858 bis 1932 lebte und vorwiegend in Turin als Logiker tätig war. Müller-Stach nennt diese artithmetische Welt Peano-Dedekind-Arithmetik, obwohl die beiden Mathematiker nicht ganz kongruent waren, was die Fundierung anbelangt. In diesem Zusammenhang sind die 12 Folien zum Vortrag The Foundations of Arithmetik: Peano vs Dedekind von Katerina Petsi interessant! Richard Dedekind war ein äusserst vielseitiger deutscher Mathematiker, der von 1831 bis 1916 lebte. Er lehrte auch ein paar Jahre an der ETH in Zürich.

Die Korrespondenztheorie der Wahrheit zwingt uns also, das zu beweisen, was der Fall ist. Der Beweis ist die Sicherstellung der Wahrheit einer Aussage. Im Video über die Gijswijt-Folge erklärt Prof. Dr. Edmund Weitz von der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg, warum seiner Meinung nach in der Mathematik alles beweisen werden muss. Er erwähnt die Goldbachvermutung («Jede gerade Zahl ist Summe zweier Primzahlen»), die mit Computern für die ersten 15 Trillionen geraden Zahlen bestätigt wurde und zeigt dann eine ähnliche Behauptung, die jedoch nach einer sehr grossen Zahl an richtigen Beispielen von der Behauptung abweicht. Weitz schliesst daraus, dass genau aus diesem Grund alles bewiesen werden muss. Wir wissen hingegen, dass Beweise nicht deshalb geführt werden, sondern der Wahrheit willen. «Jede gerade Zahl ist Summe zweier Primzahlen» ist genau dann richtig, wenn jede gerade Zahl Summe zweier Primzahlen ist. Die Aussage, die in Anführungszeichen steht, ist nur wahr, wenn es der Fall ist, dass jede gerade Zahl Summe zweier Primzahlen ist. Hingegen können wir gewiss sagen, dass die Aussage «Die ersten 15 Trillionen geraden Zahlen sind Summe zweier Primzahlen» wahr ist.

Wahrheitsrelativismus

Mehr liegt für die Wahrheit nicht drin. Höchstens solchen Aussagen, die in einer formalen Sprache formulierbar sind, kann ein Wahrheitsprädikat zugeordnet werden. Für Aussagen, die nicht in einer formalen Sprache formulierbar sind, kenne ich keinen Wahrheitsbegriff. Während Müller-Stach diesen Sachverhalt stets sehr objektiv beschreibt, verlässt ihn gegen Ende des Buches den Mut und er stellt sich klar gegen die Relativität der Wahrheit. Thomas Kuhn lebte von 1922 bis 1996 und war ein US-amerikanischer Wissenschaftsphilosoph. Er stellte den Begriff des Paradigmenwechsels als wissenschaftliche Revolution zur Diskussion, wonach es zu einem begrifflichen Bruch zwischen zwei Theorien, bzw. sogar zwischen zwei Epochen komme. Der Kuhnsche Paradigmenwechsel könnte so aufgefasst werden, dass was bisher als wahr gegolten hat, jetzt plötzlich nicht mehr wahr ist. Das gibt auch Müller-Stach zu denken und er beeilt sich, darauf hinzuweisen, dass Thomas Kuhn sich gegen Behauptungen verteidigt habe, seine Theorie unterstütze den Wahrheitsrelativismus. Das klingt fast, wie eine Entschuldigung.

Sinn und Bedeutung

Die Formulierung in einer formalen Sprache und der Beweis dessen, was der Fall ist bedienen sich einer strikten Syntax, damit die Formulierung Sinn macht. Sinn und Wahrheit sind also intrinsische Begriffe und leben auf einer syntaktischen Ebene. Die Frage ist dann, ob dem, was wir sinnvoll bewiesen haben, auch eine Bedeutung zukommt?

Betrachten wir beispielsweise ein rechtwinkliges Dreieck mit den zwei kleineren Seitenlängen a und b. Die Länge der längsten Seite bezeichnen wir mit c. Es gilt dann der Satz des Pythagoras, nämlich die Aussage a^2 + b^2 = c^2 und die ist genau dann wahr, wenn die Summe der Längenquadrate der beiden kleineren Seiten exakt mit dem Quadrat der Länge der längsten Seite wertmässig übereinstimmt. Wir wissen, wie man jetzt vorgehen muss, nämlich zu beweisen, dass es der Fall ist, dass die Summe der Längenquadrate der beiden kleineren Seiten exakt mit dem Quadrat der Länge der längsten Seite wertmässig übereinstimmt. Es gibt mittlerweile über 400 Beweise dieser Tatsache, einige von ihnen können Sie hier nachlesen.

Doch welche Bedeutung kommt dieser Tatsache zu? Was bedeutet es für Sie, dass a^2 + b^2 = c^2 eine wahre Aussage ist? Ich vermute, die meisten Leser werden etwas verlegen sagen: «Nichts!».

Wenn Sie jedoch einen quadratischen Fenster- oder Bilderrahmen haben mit einer Innenkantenlänge von z.B. einem Meter, dann bilden zwei angrenzende Kanten und eine Diagonale ein rechtwinkliges (und in diesem Fall auch noch gleichschenkliges) Dreieck. Mit obigem Satz lässt sich dann sagen, dass die Diagonale sqrt{2} Meter lang ist. Das sind also ca. 1.414 Meter oder 1414 mm. Schön! Das könnte womöglich wichtig sein, je nachdem, was man mit dem Rahmen machen möchte. Aber 1414 mm sind eben nicht genau sqrt{2} Meter. Diese dubiose Wurzel beschert uns viele sogenannte irrationale Zahlen. Das sind Zahlen mit einer unendlichen und unregelmässigen Dezimalentwicklung nach dem Komma. Die ersten 11 Ziffern nach dem Komma von der Zahl sqrt{2} lauten 1.41421356237… . Gemäss Wikipedia wurden 2019 die ersten 10 Billionen Ziffern ausgerechnet und aufgeschrieben. Und dennoch kennt kein Mensch den genauen Wert der Zahl sqrt{2}. Die Diagonale Ihres Bilderrahmens ist in Wirklichkeit sicher nicht sqrt{2} lang, denn sqrt{2} gibt es in der Wirklichkeit gar nicht!

Das hat man jetzt davon, wenn man sich auf der Suche nach der Wahrheit auf formale Sprachen beschränkt. Man hat sich damit aus jeder möglichen Wirklichkeit ausgesperrt. Verzichtet man jedoch auf jeglichen Formalismus und bedient sich einer natürlichen Sprache, lässt sich kein Wahrheitsbegriff festmachen.

Müller-Stach schreibt auf S. 203/204:

Vieles deutet darauf hin, dass für die Wirklichkeitsbeschreibung in den Naturwissenschaften ein symbolischer Kalkül mit geeigneter Semantik in der betrachteten Wissenschaft ausreichend ist, der a priori Annahmen in der jeweiligen Theorie macht. Solche Überlegungen berühren das Gebiet der Naturphilosophie. Die tiefe, ungelöste Frage, ob die Wirklichkeit selbst eine platonische Qualität über die symbolische Konstruktion hinaus besitzt, bleibt offen. Denn es könnte sein, dass unsere Welt, die sich die meisten Menschen rein aus Materie bestehend vorstellen, einfach nur aus Tatsachen besteht, die wir allenfalls in unserem Verstand durch sinnliche Erfahrung oder durch die Erkennung physikalischer Gesetze wahrnehmen können. Solche skeptischen, antirealistischen Haltungen haben eine Tradition bis hin zu Protagoras in der Antike und tauchen auch im Immaterialismus von George Berkeley auf. Sie sind das völlige Gegenteil des Materialismus, der nur die Existenz der materiellen Welt anerkennt. Ludwig Wittgenstein hat die dazu gut passenden berühmten Sätze in seinem „Tractatus logico philosophicus” geprägt: Die Welt ist alles, was der Fall ist. Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.

Möglich! Aber wenn wir höchst eingeschränkten Zugang zu den Tatsachen haben, bleibt von Wittgensteins Welt nicht mehr viel übrig. Ich würde viel eher sagen, dass die Welt die Gesamtheit der Vorstellungen ist. Wir können die Welt – und damit die Wirklichkeit – bloss in Modellen wahrnehmen, wie ich schon 2015 in meinem Artikel „Mit Modellen Komplexität verstehen erklärte. Der Bilder- oder Fensterrahmen mit der Innenkantenlänge von 1 Meter und der Länge der Diagonalen von sqrt{2} Meter, sind bloss Modelle, die wir uns von diesem Gegenstand «Bilderrahmen» machen. Die Tatsachen, dass die Längen 1, bzw sqrt{2} Meter betragen gehören ebenso zu unserem Modell. Modelle sind Vorstellungen und damit höchst immateriell. Die Wirklichkeit besteht also nicht rein aus Materie, sondern – im Gegenteil – aus immateriellen Vorstellungen, Modellen oder Ideen, die lediglich in unseren Köpfen verankert sind.

Die Wirklichkeit stellen wir uns vor

Hier sind wir wieder bei der Letztbegründung angelangt, die auch bloss Ideen in unseren Köpfen sind. Und wer jetzt vorwitzigerweise behauptet, dass das Fehlen einer Letztbegründung sich auf den Wirklichkeitsskeptizismus selbst anwenden lässt und somit zu einem performativen Selbstwiderspruch führe, dem kann ich sagen, dass Wirklichkeit, Letztbegründungen und Widersprüche auch bloss Modelle, Überzeugungen, Glaubenssätze oder Ideen im Kopf eines Menschen sind.

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