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Tsunami in Südostasien: 20 Jahre ohne Hiruni | ABC-Z

Es sind Schulferien, die beste Zeit für einen Strandausflug. Das Ziel der Familie Wanniarachchi liegt im Süden Sri Lankas, etwa zwei Fahrstunden von der Hauptstadt Colombo entfernt. Neben einem langen Sandstrand und einer Schildkrötenaufzucht gibt es in dem Ort Hikkaduwa ein berühmtes Korallenschutzgebiet.

Der Zug Nr. 50 von Colombo, der gemächlich seinen Weg in den Süden der Insel antritt, ist wegen der Ferien bis zum letzten Sitz gefüllt. Es wird nicht nur Weihnachten gefeiert, sondern im mehrheitlich buddhistischen Sri Lanka in erster Linie das Vollmondfest Poya. Selbst im Gang drängen sich die Passagiere. Die Stimmung ist ausgelassen.

Es ist der 26. Dezember 2004, zweiter Weihnachtstag. Das Datum wird wegen der Katastrophe, die sich an ihm ereignet, in die Geschichte eingehen. Die Schwestern Naduni und Hiruni Wanniarachchi, vierzehn und sieben Jahre alt, reisen mit ihren Eltern und fünf weiteren Familienmitgliedern, darunter eine Tante und eine Cousine. Für Hiruni, ein schüchternes Mädchen, das Gymnastik und Radfahren liebt und gern auf Bäume klettert, ist es die erste Zugfahrt.

Das Wasser stürmt mit Wucht in den Zug

An den Fenstern rauscht der Indische Ozean vorbei. Das Meer liegt ruhig vor der Küste. Vielleicht etwas zu ruhig. Heute wisse sie, dass das Meer vor einem Tsunami sehr still aussieht, sagt Naduni Wanniarachchi, als sie der F.A.Z. 20 Jahre später in Colombo von ihren Erlebnissen berichtet. „Damals dachten wir: Das ist schön, so können wir den Strand richtig genießen.“ Der Sri Lankerin zufolge sieht es am Anfang so aus, als würde das Meer nur ganz langsam näher kommen.

Spuren der Zerstörung: Ein bis heute beschädigtes Haus in PeraliyaAFP

In dem Küstenort Peraliya, unweit vom Zielort entfernt, kommt der Zug jäh zum Stehen. Als das Wasser in das Abteil eindringt, spürt Naduni Wanniarachchi die brachiale Kraft der Welle. Das Wasser strömt mit großer Wucht auf der einen Seite in den Zug hinein und auf der anderen Seite wieder hinaus. Tische, Bänke und Stühle, die aus einer Schule nebenan herübergespült werden, drücken gegen die Zugfenster. Nadunis Vater und einige andere Passagiere versuchen, die Möbel aus dem Weg zu schieben. Die Mutter setzt die kleine Hiruni auf ein Gepäckregal über den Sitzbänken. Chaos bricht aus.

Die meisten Passagiere denken wohl, dass der Spuk gleich wieder vorbei sein wird. Doch die nachfolgende Welle, die erst nach dreißig bis vierzig Minuten die Küste erreicht, ist viel größer als die erste. Naduni Wanniarachchi hört zunächst die panischen Schreie der ins Landesinnere fliehenden Dorfbewohner. Erst dann sieht sie die weiße Wand aus Wasser, die immer näher kommt. Sie kann nicht schwimmen. „In dem Moment dachten wir nur noch, dass wir sterben würden“, sagt sie. „Wir überlegten, was wir mit diesen letzten wenigen Momenten anfangen sollten.“

F.A.Z.

Die Eckdaten der Jahrtausendkata­strophe sind seither viele Male zusammengefasst worden: Gegen 7.58 Uhr Ortszeit hat ein Beben der Stärke 9,1 den Seeboden im Indischen Ozean unweit der Nordspitze der indonesischen Insel Sumatra erschüttert. Es ist das bis zu diesem Zeitpunkt drittgrößte jemals gemessene Erbeben. Die Schwingungen lösen eine bis zu 30 Meter hohe Flutwelle aus, die sich mit Hunderten Kilometern in der Stunde über den Ozean ausbreitet. Innerhalb von zwei Stunden werden die Küsten Indonesiens, Thailands, Sri Lankas und Indiens getroffen, die der Malediven etwa eine Stunde später. Selbst im fernen Somalia werden rund sieben Stunden später Menschen von einer Flutwelle mitgerissen.

Insgesamt kommen bei der Katastrophe bis zu 230.000 Menschen ums Leben, die meisten in Indonesien. Mit 35.000 Toten ist Sri Lanka, ein Land, in dem seit Jahrzehnten ein Bürgerkrieg tobt, am zweitstärksten betroffen. Die Katastrophe wird sich weltweit auswirken, schließlich sind viele Touristen unter den Opfern, darunter auch zahlreiche Deutsche. Das Zugunglück in Peraliya gehört dabei zu den verheerendsten Einzelereignissen. Die Welle erreicht hier eine Höhe zwischen siebeneinhalb und neun Metern über dem Meeresspiegel. Zusätzlich zu den Passagieren klettern einige Anwohner in den Zug und auf das Dach. Manche suchen auch hinter dem Gefährt Schutz.

Mit einem gewaltigen Sog zieht die Welle acht Waggons sowie die fast 80 Tonnen schwere kanadische Lok „#591 Manitoba“ von den Gleisen. Insgesamt sollen in dem Zug mehr als 1700 ­Menschen ums Leben gekommen sein. Bis heute wird in Peraliya mit einem Denkmal an sie erinnert. Auf dem Weg über die Küstenstraße in die Urlaubsorte im Süden Sri Lankas machen die Touristen auch heute noch in Peraliya halt. Bei der Ankunft erscheint ein jadegrüner Ozean mit sanften Wellen, die Kronen aus weißem Schaum an den Strand tragen. Der frische Geruch des Meeres erfüllt die Luft.

Neben Palmen: Mahnmal für die Opfer des Tsunami in Peraliya
Neben Palmen: Mahnmal für die Opfer des Tsunami in PeraliyaTill Fähnders

Neben Palmen steht ein Denkmal aus einer Steinstele und einem kupferfarbenen Fresko, auf dem die Waggons des Zugs nachgestellt sind. Das Bild zeigt Menschen, die zwischen Brettern, Autos und Baumstämmen auf dem Wasser treiben. Eine Frau krallt sich in einer Baumkrone fest. Passagiere hängen aus den Zugfenstern.

„Das Dorf wurde zum Ozean“

Etwas weiter die Straße hinauf werden gerade einige Urlauber mit ihrem Touristenführer in Tuk-Tuks vor ein Gebäude gefahren. Auf einem Schild wird es als „Kommunales Tsunami-Bildungszentrum und Tsunami-Museum“ ausgezeichnet. Hier empfängt der 48 Jahre alte Roshan Waduthantri Touristen, die sich über den Tsunami und seine Auswirkungen informieren möchten. Der Mann sagt, bis heute hänge ein großes Trauma über dem Dorf. Viele Leichen konnten nie identifiziert werden, weil sie völlig aufgedunsen und schwarz angelaufen waren.

Waduthantri selbst kann sich damals zu einem erhöht liegenden Buddha-Tempel retten. Er klettert auf einen Baum und beobachtet das schwarze Wasser der zweiten Welle, das um die Tempelgebäude strömt. „Das Dorf wurde zum Ozean und der Tempel zu einer Insel“, sagt er. Waduthantri hat in der Katastrophe einen Bruder und einen Onkel verloren. Er ist danach für Jahre von den Erlebnissen beeinträchtigt, fühlt sich „unter null“, wie er sich ausdrückt. Nach zwölf Jahren in der Militärpolizei verabschiedet er sich aus dem Dienst.

Er verlor seinen Bruder: Roshan Waduthantri hat das „Kommunale Tsunami-Bildungszentrum und Tsunami-Museum“ in Peraliya aufgebaut.
Er verlor seinen Bruder: Roshan Waduthantri hat das „Kommunale Tsunami-Bildungszentrum und Tsunami-Museum“ in Peraliya aufgebaut.Till Fähnders

Bald findet er jedoch eine neue Aufgabe. Zusammen mit anderen Dorfbewohnern will er die Menschen vor einer möglichen neuen Katastrophe schützen. Sie bauen das Museum und das Gemeindezentrum auf, das sich der Tsunami-Aufklärung widmet. Sie veranstalten Rettungsübungen und richten sogar ein eigenes kleines kommunales Tsunami-Warnsystem ein.

Auf einem Computer behalten sie im Schichtdienst die Seite des Pacific Tsunami Warning Center im Blick, einer auf Hawaii stationierten Einrichtung, sowie die Erdbebentracker der geologischen Gesellschaften. Sie verfolgen die Radionachrichten und die Wetterberichte, um die Anwohner rechtzeitig mit Informationen versorgen zu können. Eine echte Warnung darf ihr kleines Büro laut Regierung aber nicht ausgeben. Die Behörden, die ihr eigenes System aufbauen, fürchten, dass eine Fehlwarnung zu Panik führen könnte.

Doch Waduthantri und seine Mitstreiter können aufklären und Informationen weitergeben. Mittlerweile fehlt es ihnen dafür allerdings an Geld und Unterstützung. Die Übungen finden nicht mehr statt, die Lautsprecher, die Waduthantri im Dorf angebracht hat, funktionieren nicht mehr. Immerhin: In der Ausstellung im Inneren des Museums können die Dorfbewohner lernen, wie ein Tsunami entsteht und welche Gegenstände ein Notfallpaket für Kinder enthalten sollte.

Im Tsunami-Museum: Touristen fotografieren im Dezember 2024 eine Lokomotive des 2004 verunglückten Zugs.
Im Tsunami-Museum: Touristen fotografieren im Dezember 2024 eine Lokomotive des 2004 verunglückten Zugs.AFP

Das zentrale Ausstellungsstück be­findet sich in einer Halle neben dem ­Museum. Waduthantri hat sie mit Spendengeldern aus Japan aufgebaut. Dort ragt ein Waggon des Unglückszugs bis kurz unter die Decke. In den Wänden klaffen dicke Rostlöcher, daneben prangt eine gelbe „3“. Fahles Licht fällt im ­Inneren des Waggons auf die leeren Sitzbänke und das Gepäckregal, das über dem Fenster hängt.

Die heute 34 Jahre alte Naduni Wanniarachchi, die damals vom Zug aus die heranrollende Welle beobachtet, erinnert sich heute nicht mehr an die Nummer ihres Waggons. Vor dem Eintreffen der zweiten Welle stellt sie sich auf eine der Sitzbänke und hält sich an einem Henkel fest. Ihre Schwester Hiruni sitzt noch auf dem Gepäckregal. Die Familie glaubt, dass das Mädchen wahrscheinlich durch das Fenster nach draußen geschleudert wird, als sich der Waggon im tosenden Wasser des Tsunamis auf die Seite dreht.

2004 in Peraliya: Eine durch die Tsunamiwelle entgleiste Lokomotive des Zugs, mit dem die Familie Wanniarachchi damals verunglückte
2004 in Peraliya: Eine durch die Tsunamiwelle entgleiste Lokomotive des Zugs, mit dem die Familie Wanniarachchi damals verunglücktedpa

Das Wasser, das rapide den gesamten Waggon füllt, ist so dunkel, dass Naduni Wanniarachchi nichts mehr sieht. Das verschluckte Meerwasser brennt in ihrer Brust. Die Wellen tragen das tonnenschwere Gefährt über Dutzende Meter ins Dorf hinein, bis es an einem halb zerstörten Haus stecken bleibt. Für sie ist es womöglich die Rettung, dass sich im Chaos ihr Fuß verkeilt und sie deshalb nicht von der Welle mitgerissen wird. Nachdem ein Teil des Wassers abgelaufen ist, bietet sich ihr ein grausamer Anblick. „Ich sah eine Menge Leichen, mehr nicht. Viele Menschen in unserem Abteil waren tot. Ein kleines Kind trieb im Wasser“, erzählt sie. Jahrelang kann sie danach das Geräusch von fließendem Wasser nicht ertragen.

Verbrecher nutzten das Chaos

Von ihrer Familie sieht sie zunächst niemanden. Dann hört sie, wie ihr Vater ihren Namen ruft. Er zieht sie an einem Stück Holz aus dem Fenster des Zugs, bevor sie wieder zu ihrer Familie stößt. Doch von Hiruni und ihrer 18 Jahre alten Cousine fehlt jede Spur. Der Vater steckt den Kopf in das Zugabteil und ruft mehrfach ihre Namen. Er schiebt Leichen zur Seite. Aber die beiden sind nirgendwo zu sehen. Nach einer halben Stunde inten­siver Suche entschließt sich die Familie, ins Landesinnere in Richtung des ­Tempels zu wandern, von dem ihnen ­Anwohner berichtet haben. Der Vater will danach noch einmal zurückgehen, um weiter nach Hiruni zu suchen. Aus Angst vor weiteren Wellen hält die Familie ihn zurück.

Schmerzhafte Erinnerungen: Naduni Wanniarachchi und ihre Schwester Hiruni als Kinder in Colombo
Schmerzhafte Erinnerungen: Naduni Wanniarachchi und ihre Schwester Hiruni als Kinder in Colomboprivat

Die Familie findet bei einem der Dorfbewohner Unterschlupf, bis ein Onkel sie gegen Mitternacht abholt und nach Hause bringt. Von Colombo reist der Vater danach immer wieder in den Süden, um nach der Tochter zu suchen. Die Cousine wird nach ein bis zwei Tagen gefunden. Ihr völlig entstellter Körper liegt zwischen anderen Leichen, die vom Militär im Katastrophengebiet aufgebahrt wurden. Die Cousine kann von ihrer Mutter, der Tante Nadunis, nur noch anhand ihrer Ohrringe identifiziert werden. Doch von Hiruni fehlt jede Spur.

Die Flugblätter, die ihre Familie in den Wochen, Monaten und Jahren danach verteilen, zeigen ein Mädchen mit großen Augen, unsicherem Lachen und einem Bob-Haarschnitt. In den Wochen nach dem Tsunami bekommt die ­Familie mehrere Hinweise, dass Hiruni das Unglück überlebt haben könnte. Ein Mann aus einem Nachbardorf meint, in ihr ein Mädchen wiederzuerkennen, das er nach dem Tsunami aus einem ­Mangobaum geholt habe. Er beschreibt korrekt das langärmelige T-Shirt und die Jeans, die Hiruni an dem Tag ge­tragen hat.

Sie hoffen weiter: Eines der Flugblätter, mit denen Familie Wanniarachchi jahrelang nach Hiruni gesucht hat
Sie hoffen weiter: Eines der Flugblätter, mit denen Familie Wanniarachchi jahrelang nach Hiruni gesucht hatprivat

Der Mann berichtet, er habe das Mädchen zusammen mit seiner eigenen Tochter in Richtung des Tempels geschickt, während er selbst weiter seine Frau suchte. Dann verläuft sich ihre Spur. Andere Augenzeugen wollen ebenfalls ein Mädchen wie Hiruni gesehen haben. In der Zeit nach dem Tsunami werden zwei Männer verhaftet, weil sie einen Jungen verkauft haben, der seine beiden Eltern in der Katastrophe verloren hatte. Naduni Wanniarachchi zufolge berichtet der Junge der Polizei, er sei mit zwei Mädchen zusammen beherbergt worden, von denen eines ihre Schwester gewesen sein könnte.

Tatsächlich haben Verbrecher das Chaos nach der Kata­strophe genutzt, um sich selbst zu bereichern. Es kommt zu so vielen Ent­führungen und Fällen von Menschenhandel, dass Sri Lankas Regierung die Adoption von Kindern verbietet, die im Tsunami verwaist sind. In den Jahren danach erhält die Familie weitere Anrufe und Tipps, die aber nirgendwo hinführen. Sie spricht mit Wahrsagern, Astrologen, selbst ernannten Magiern und anderen Scharlatanen, die nur ihren eigenen Vorteil aus dem Leid der Familie ziehen wollen.

Aufgrund der ersten Augenzeugenberichte hält die Familie bis heute an dem Glauben fest, dass Hiruni noch irgendwo weiterlebt. Sie postet einen Flyer im Internet, mit dem sie sich direkt an die Vermisste wendet: „Hiruni, kannst Du Dich an uns erinnern?“, steht dort in neun Sprachen. Dazu stellt sie ein mit einer Software generiertes Bild, das Hiruni zeigen soll, so, wie sie heute aussehen könnte.

Die Familie glaubt, dass das schüchterne Mädchen irgendwo auf der Welt als Erwachsene weiterlebt. So wie Naduni Wanniarachchi, die heute in einem Lebensmittelunternehmen arbeitet und im Februar ihr erstes Kind zur Welt bringen wird. Dafür, dass sich die Schwester niemals gemeldet hat, lassen sich ihrer Meinung nach verschiedene Gründe finden. Vielleicht hat Hiruni damals ihr Gedächtnis verloren, sagt ihre Schwester. Oder sie denkt, dass die gesamte Familie im Tsunami umgekommen sei. Es sind Gedanken, die sie bis heute tröstlich findet. Besser, als zu glauben, dass Hiruni gar nicht mehr da ist.

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