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„Brutal, was der heute geliefert hat“ | ABC-Z

Noah Atubolu ahnte schon länger, dass er irgendwann zum Protagonisten einer denkwürdigen Fußballnacht werden würde, zu einer Hauptfigur in einem großen Spiel in einem internationalen Wettbewerb. „Mein Torwarttrainer beim SC Freiburg hat mir einmal gesagt, dass es in solchen Spielen, einem Halbfinale in der Champions League zum Beispiel, darauf ankommen kann, welcher Torhüter das bessere Spiel macht“, erzählte der Profi vom SC Freiburg nach dem 3:0-Sieg der deutschen U-21-Nationalmannschaft im Halbfinale der Europameisterschaft gegen Frankreich.

Nun ist es genauso gekommen. Es sei „brutal gewesen, was der heute geliefert hat“, sagte Rocco Reitz, der mit seiner imponierenden Energie ein zweiter Held dieser Partie im ostslowakischen Košice geworden war. „So ein Spiel hast du dann auch mal, und dann brauchst du so einen Keeper.“

Das deutsche Team war schon auch als Kollektiv überzeugend. Nick Woltemade, der gefährlichste Stürmer dieses Turniers, erzielte seinen sechsten Treffer im fünften Spiel (14.). Nelson Weiper hatte das 1:0 geschossen (8.) und Woltemades Tor vorbereitet. Rudi Völler, der Sportdirektor des DFB, lobte die hingebungsvolle Arbeit gegen den Ball und zog eine Parallele zu den Auftritten der A-Nationalmannschaft vor drei Wochen: „In der Nations League haben wir das nicht so gut gemacht, da haben wir nicht so gut verteidigt.“

„Das war mein wichtigstes und bestes U-21-Spiel bisher“

Aber im Mittelpunkt stand Atubolu. Weil er sich während des Frühjahrs auch in der Bundesliga endgültig zu einem sehr reifen, Souveränität ausstrahlenden Torwart entwickelt hat. Weil er ein brillantes Turnier spielt. Und weil er gegen Frankreich zwei Bälle mit faszinierenden Torwartaktionen abgewehrt hatte.

Wenige Sekunden nach der Halbzeit warf er seinen Körper irgendwie in den Fünfmeterraum, wodurch er einen Schuss von Thierno Barry aus kurzer Distanz mit dem rechten Bein abwehrte. Und nach 68 Minuten bekam er nach einem Flugkopfball Barrys wenige Zentimeter vor der Torlinie irgendwie noch einen Arm an den Ball. Mit einem Gegentor hätte die Partie eine ganz andere Richtung nehmen können. „Ich glaube, das war mein wichtigstes und bestes U-21-Spiel bisher“, sagte Atubolu.

Der 23 Jahre alte Freiburger ist nicht nur ein kompletter Torhüter, der das Spiel mit beiden Füßen eröffnen kann, der den Luftraum vor seinem Tor beherrscht, der immer wieder Eins-gegen-eins-Situationen gewinnt und auch auf der Linie stark hält. Er ist auch ein Fußballer, der bereits in der Frühphase seiner Karriere Rekorde bricht. In der vergangenen Saison hat er beim SC Freiburg eine 25 Jahre alte Bestmarke von Richard Golz überboten, als er 609 Minuten ohne Gegentor blieb. Außerdem hat er beim Sportclub vier Elfmeter nacheinander gehalten und jetzt sogar Manuel Neuer überflügelt: Der Münchner Kollege hat 20 Partien für die U 21 absolviert, seit Mittwoch ist Atubolu mit 21 Spielen für Deutschlands wichtigste Junioren-Nationalmannschaft der Torhüter mit den meisten Einsätzen.

Solche Parallelen zu Neuer liegen schon länger auf der Hand, wobei Atubolu im Januar rückblickend sagte: „Der Neuer-Vergleich hat es mir nicht einfach gemacht.“ Inzwischen hat er sich emanzipiert. Er gehört in Freiburg zu den wichtigen Stützen und weckt immer lebendigere Erinnerungen an den Kollegen vom FC Bayern, der mit einigen herausragenden Torwartaktionen viel zum legendären U-21-EM-Titel aus dem Jahr 2009 beigetragen hat.

Atubolus fast 100 Kilo schwerer Körper wirkt wie eine Mauer, wenn er sich den Stürmern in den Weg stellt. Er liebt ein gewisses Risiko bei seinen Aktionen mit dem Ball am Fuß, macht dabei aber kaum noch Fehler. Und wie Manuel Neuer aus Gelsenkirchen-Buer ist auch der Freiburger Atubolu in der Stadt zum Star geworden, in der er geboren wurde und für deren größten Klub sein Herz schon als Kind schlug.

Außerdem zählt Atubolu zu den wenigen Spielern, die bereits bei der U-21-EM vor zwei Jahren dabei waren, was seine beeindruckende Entwicklung sichtbar macht. Damals war noch kaum etwas zu sehen von dem Selbstvertrauen, das er jetzt ausstrahlt. Deutschland schied in der Vorrunde aus, spielte drei Mal eher schwach, und Atubolu wirkte unruhig, fahrig, schon beim Aufwärmen. In der folgenden Saison beim SC Freiburg kosteten seine vielen Fehler etliche Punkte und wohl auch die Teilnahme seines Heimatklubs am Europapokal. Zwischenzeitlich wurde er geradezu angefeindet, auch rassistisch. „Das ist zu viel Theater in den sozialen oder teilweise asozialen Medien“, sagte sein damaliger Trainer Christian Streich. „Das ist Wahnsinn, was der Kerl mitkriegt.“ Die Verantwortlichen in Freiburg haben aber nie das Vertrauen verloren und inzwischen ist klar, dass auch die negativen Erfahrungen den Reifeprozess bereichert haben.

Inzwischen ist gut vorstellbar, dass Atubolu im Herbst zur A-Nationalmannschaft aufsteigt. Schon jetzt wird er auf dem Transfermarkt mit einem Wert von 18 Millionen Euro als teuerster deutscher Torhüter gehandelt. Marc-André Ter Stegen, Oliver Baumann und Alexander Nübel sind deutlich älter, der talentierte Jonas Urbig vom FC Bayern hat bislang weniger gespielt und erlebt. Atubolu hingegen hat neben seinen Einsätzen in der U 21 bereits 156 Spiele im professionellen Männerfußball absolviert. Und am Samstagabend hat er im Finale gegen England die Chance, Europameister zu werden. „Wir sind noch nicht fertig, wir haben noch ein großes Ziel“, sagte er.

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