Trump und die Atomwaffen-Garantie: Ist Deutschland noch sicher? | ABC-Z

Brüssel/Berlin. Wie der US-Atomschirm funktioniert, warum CDU-Chef Merz eine Alternative ins Spiel bringt. Die Pläne und Risiken: Sind wir noch sicher?
Krisenstimmung in Europa nach der Abkehr des US-Präsidenten Donald Trump von seinen Verbündeten: Nach dem Eklat im Weißen Haus scheint nichts mehr sicher, auch der Schutz durch die US-Atomwaffen ist plötzlich fraglich. Der wahrscheinlich nächste Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) will als Konsequenz eine gemeinsame atomare Abschreckung Europas sondieren. Bekommt Deutschland jetzt doch Zugriff auf europäische Atombomben – zum Schutz vor Russland? Worum es geht, welche Hürden es gibt. Stimmen und Fakten zur brisantesten Debatte des Jahres.
Atomwaffen: Was will Friedrich Merz?
Deutschland und Europa müssten sich darauf einstellen, dass Donald Trump das Beistandsversprechen des Nato-Vertrages nicht mehr uneingeschränkt gelten lässt, sagt Merz. Das Schicksal Europas sei den Amerikanern weitgehend gleichgültig, deshalb müsse man Schritt für Schritt Unabhängigkeit erreichen von den USA. Der wahrscheinlich nächste Bundeskanzler will deshalb mit den Atommächten Großbritannien und Frankreich auch darüber reden, ob es eine nukleare Teilhabe, einen gemeinsamen Atomwaffen-Schutzschirm für Europa geben kann – ein Thema soll das auch in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD sein. Angesichts der veränderten Lage müsse das Thema jetzt noch einmal neu und gemeinsam erörtert werden. Merz sieht aber „heute keine Veranlassung“ darüber nachzudenken, ob Deutschland eigene Atomwaffen besitzen sollte.
Wie sind die Reaktionen auf den Merz-Vorstoß?
Der Chef der europäischen Christdemokraten, Manfred Weber (CSU), unterstützt den Plan. Weber sagte unserer Redaktion: „Wer nach Washington blickt, der muss verstehen: Europa ist alleine und wir müssen uns jetzt eigenständig bewaffnen“. Der EVP-Partei- und Fraktionsvorsitzende nannte die Ankündigung von Merz „ein starkes und wichtiges Signal“. Das entsprechende Angebot von Frankreichs Präsident Emmanuel Macrons sei von Berlin viel zu lange ignoriert worden. Der EU-Sondergipfel am Donnerstag müsse klare Entscheidungen fällen, forderte Weber. „Zudem müssen wir jetzt die ersten Schritte zur europäischen Armee gehen.“
Besuch von Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz (r.) im Élysée-Palast in Paris beim französischen Präsident Emmanuel Macron. Merz möchte mit Macron auch über einen europäischen Atomschutzschirm sprechen.
© dpa | Sarah steck/Présidence de la République
Bundeskanzler Olaf Scholz hatte Forderungen nach einer europäischen Atomwaffen-Lösung bislang abgelehnt und davor gewarnt, die US-Regierung könne sich dann erst recht zum Rückzug ermutigt fühlen. Der SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner sagte unserer Redaktion, er glaube nicht, dass sich die SPD auf den Plan von Merz einlassen könnte. Selbstverständlich sei eine enge Zusammenarbeit mit Frankreich und Großbritannien notwendig, ebenso die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit und die Präsenz an der Nato-Ostgrenze. „Aber wir brauchen bestimmt keine weitere nukleare Aufrüstung, schon gar nicht über eine atomare Bewaffnung Deutschlands, das ist ein Irrweg“, sagte Stegner.
Es müsse vielmehr darum gehen, die atomare Aufrüstung weltweit zu stoppen und dafür zu sorgen, dass die Zahl der Atomwaffen wieder sinke. Linke-Chef Jan von Aken nannte den Merz-Vorstoß einen „gefährlichen und zugleich überflüssigen Weg“. Eine europäische Atombewaffnung gebe es bereits mit den britischen und französischen Arsenalen, sagte er unserer Redaktion. „Es gibt keinen Grund, warum Deutschland jetzt aktiver Teil dieses Systems nuklearer Abschreckung werden soll.“ Van Aken meinte weiter: „Das lässt sich nur damit erklären, dass Friedrich Merz Ambitionen auf deutsche Atomwaffen hat, und das ist angesichts der deutschen Geschichte ein völliger Irrweg.“

Im Kriegsfall wäre es eine Atom-Rakete: Die britische Marine schießt bei einem Test eine Rakete vom Typ Trident II von einem U-Boot ab. CDU-Chef Friedrich Merz will im Fall seiner Wahl zum Bundeskanzler auch mit Großbritannien über gemeinsame nukleare Abschreckung sprechen.
© picture alliance/dpa/PA Media | Lockheed Martin
Haben Frankreich und Großbritannien überhaupt genug Atombomben?
Frankreich besitzt nach aktuellen Daten des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri etwa 290 Atomsprengköpfe. Der Großteil ist für den Raketen-Abschuss von U-Booten vorgesehen, mit 50 Sprengköpfen auf Marschflugkörpern sollen im Ernstfall Rafale-Kampfbomber beladen werden. Großbritannien stützt sich auf ein eng mit den USA verbundenes System mit etwa 220 Sprengköpfen, die nur für den Einsatz von See aus gedacht sind. Von den vier mit Trident-Atomraketen ausgestatteten U-Booten sind stets zwei auf Patrouillenfahrt. Gemessen an den 5900 Atomsprengköpfen Russlands und den 5200 der USA sind beide Arsenale klein. Sie reichen wahrscheinlich für die Abschreckung eines Gegners, aber im Konfliktfall hätten Frankreich und Großbritannien wenig Eskalationspotenzial. Paris und London verfolgen beide eine rein nationale Atomstrategie, in der der Schutz von Verbündeten keine Rolle spielt. Frankreich ist auch nicht Teil der Nuklearen Planungsgruppe der Nato, um die vollständige Kontrolle über die eigenen Atomstreitkräfte zu behalten.
Wie funktioniert bisher der Atom-Schutzschirm?
Deutschland und die meisten europäischen Staaten sind nur durch die erklärte Bereitschaft der USA wirksam geschützt, zur Verteidigung der Nato-Partner notfalls auch Atomwaffen einzusetzen. Das bedeutet maximales Risiko für einen möglichen Angreifer. Leise Zweifel an der Atomschirm-Garantie gab es immer wieder – durch Trumps abrupten Kurswechsel ist das Vertrauen der Europäer nun aber massiv gesunken.

Der Kopf einer US-Interkontinentalrakete im Titan Missile Museum in Tucson, Arizona.
© picture alliance / imageBROKER | Erich Schmidt
Nach dem Ende des Kalten Krieges haben die USA den Großteil ihrer 7000 Atomwaffen aus Europa abgezogen, doch im Konzept der „erweiterten Abschreckung“ sollen die Bündnispartner durch das amerikanische Arsenal geschützt sein – das besteht vor allem aus strategischen Langstreckenraketen und Atomwaffen etwa auf U-Booten. Außerdem verfügen die USA über etwa 100 Atombomben in Europa.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
Hinter den Kulissen der Politik – meinungsstark, exklusiv, relevant.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der
Werbevereinbarung
zu.
Etwa 20 Sprengköpfe befinden sich in Deutschland, einsatzbereit in unterirdischen Bunkern des Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz. Weitere Depots liegen in Belgien, den Niederlanden, Italien und der Türkei. Die Atomwaffen in Deutschland würden im Ernstfall – nach Freigabe durch den US-Präsidenten – von Tornado-Kampfjets der Bundeswehr ins Zielgebiet geflogen und abgeworfen. Mit dieser „nuklearen Teilhabe“ sollen die Nato-Staaten ohne eigene Atom-Bewaffnung in die Zielplanung einbezogen werden. Die USA tauschen die Sprengköpfe in Europa derzeit gegen die modernere Version B61-12 aus, die Ziele präziser treffen können. Der Bund lässt den Standort Büchel für über eine Milliarde Euro modernisieren.
Um die nukleare Teilhabe zu sichern, hat die scheidende Bundesregierung in den USA 35 moderne Tarnkappen-Kampfjets vom Typ F-35 für rund zehn Milliarden Euro bestellt Der Verteidigungsexperte Karl-Heinz Kamp von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) moniert allerdings, dass das gesamte Konzept aus dem Kalten Krieg stammt, als es Teil eines viel größeren Waffenpotenzials und vor allem auf Ziele in Osteuropa ausgerichtet war. Heute müssten die Trägerflugzeuge im Einsatzfall unter großen Risiken bis nach Russland fliegen, wären der gegnerischen Luftabwehr ausgesetzt und damit überaus verwundbar – anders als Raketen oder Marschflugkörper, warnt Kamp. Das reduziere in den Augen des Angreifers die Glaubwürdigkeit der Abschreckung.
Wie könnte eine europäische Lösung aussehen?
Im Raum steht ein mehrfach erklärtes Angebot von Frankreichs Präsident Macron, mit Berlin über die nukleare Abschreckung zu reden. Ernsthafte Gespräche gab es bisher aber nicht, Kanzler Olaf Scholz hat auch kein Interesse gezeigt. Das Problem: Die Mitsprache Deutschlands hätte nach jetzigem Stand enge Grenzen, im Ernstfall würde der französische Präsident allein über den Einsatz von Atombomben entscheiden. Einen britischen Zeitungsbericht über ein Angebot aus Paris, Kampfflugzeuge mit Atomwaffen in Deutschland zu stationieren, bestätigt die Regierung in Paris nicht.

Das getauchte U-Boot USS Tennessee der US-Marine schießt bei einem Test eine Rakete vom Typ Trident II ab. Im Ernstfall würde diese Rakete einen Atomsprengkopf tragen.
© picture alliance / Phil Sandlin/AP/dpa | Phil Sandlin
Hinzu kommt inzwischen die Befürchtung, dass 2027 die rechtspopulistische Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewinnen könnte – dann stünden Beistands-Absprachen auf wackligen Füßen. Für die Kooperation mit Frankreich bräuchte es erstmal ernsthafte Gespräche und politische Bewegung in Paris. Von Großbritannien ist ein Gesprächs-Angebot bislang nicht bekannt, die Diskussion müsste hier also ganz neu beginnen.
Denkbar ist auch, dass sich EU-Staaten zusammentun, um gemeinsam ein neues Atomwaffen-Arsenal aufzubauen. Eine solche große europäische Lösung wäre aber „eher ein Projekt für die nächsten 20 Jahre“ – so sagt es der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, der diese Idee engagiert propagiert. Kritiker wie der Verteidigungsexperte Kamp winken ab: Eine gemeinsame europäische Nuklearstreitmacht im Rahmen der EU sei unrealistisch, die nukleare Abschreckung liege eindeutig bei der Nato – und sie werde weiter vor allem von den USA bereitgestellt.
Muss Deutschland selbst Atommacht werden?
Das gilt unter Fachleuten als kaum realistisch: Es wäre militärtechnisch ambitioniert, angefangen vom Bedarf an waffenfähigem Uran oder Plutonium. Benötigt würden hohe Milliarden-Investitionen, selbst unsere EU-Nachbarn wären irritiert. Die Bundesrepublik hat sich im Atomwaffen-Sperrvertrag zum Verzicht auf Atombomben verpflichtet, ein Ausstieg würde weltweit als Signal zum Wettrüsten verstanden. Allerdings wird unter Verteidigungsexperten ab und zu über eine „freundliche Proliferation“ durch die USA spekuliert: Die US-Regierung könnte Deutschland und Europa einen Teil ihrer ausgemusterten, aber noch nicht zerstörten Atomwaffen zur Verfügung stellen. Anzeichen gibt es dafür bisher nicht, auf diesem Weg ließe sich aber ein eigener Schutzschirm in wenigen Jahren herstellen.