Stil

Treffen mit Mascha Schilinski, dem neuen Star im deutschen Film | ABC-Z

Vor wenigen Tagen ist Mascha Schilinski gelungen, was kein deutscher Filmemacher seit mehr als drei Jahrzehnten geschafft hat: Cannes zeichnete sie mit dem Preis der Jury aus – zuletzt wurde diese Ehrung 1993 Wim Wenders Drama „In weiter Ferne, so nah!“ zuteil. Wenders war damals schon ein gefeierter Regisseur. Schilinski hingegen hat es mit ihrer zweiten Regiearbeit an einem Langspielfilm direkt zum wichtigsten Filmfestival der Welt geschafft; „In die Sonne schauen“ eröffnete dort den Wettbewerb um die Goldene Palme und wurde von der internationalen Presse in höchsten Tönen gelobt. Was wie ein Senkrechtstart für eine junge Filmemacherin klingt, war durchaus kein Spaziergang. „Dieser Preis zeigt, dass es sich lohnt, an die eigene künstlerische Vision zu glauben, auch wenn der Weg dahin schwierig ist“, sagte Schilinski in ihrer Dankesrede auf der Abschlussgala am vergangenen Samstagabend. Sie habe bei ihrer Recherche viel über Frauen gelernt, die von der Geschichte marginalisiert wurden. Einige solcher Schicksale stehen im Mittelpunkt ihres Films. „Ich widme diesen Preis allen Frauen, die nicht die Mittel haben, Filme zu machen“, so Schilinski.

Wer sie in den Tagen zwischen Filmpremiere und Abschlussgala an der Croisette erspähte, konnte bewundern, wie eine Filmemacherin heutzutage Karriere und Familie unter einen Hut bringt, denn sie war nicht allein zum Festival gereist. Die Einundvierzigjährige ist gerade erst Mutter geworden. Ihr Mann, der zugleich als Kameramann für „In die Sonne schauen“ arbeitete, kümmerte sich um den knapp fünf Monate alten Sohn, während die Regisseurin Interviews gab.

„Ich wollte den Film machen, den ich bislang vermisst habe“

Zum Gespräch, das wir kurz nach der Premiere ihres Films im Festivalpalast führten, kommt sie in schwarzer Kleidung, dunkles Haar umrahmt das Gesicht, und obwohl der Filmverleih am Abend zuvor eine Party für das gesamte Team geschmissen hatte, liegt über den wassergrünen Augen der Regisseurin nicht ein Schleierchen der Müdigkeit. Sie wirkt unaufgeregt, aber keinesfalls abgeklärt, vielmehr wie jemand, dem es gelingt, ruhig auf einem Surfbrett zu balancieren, während er die größte Welle seiner bisherigen Karriere reitet. Solchen Erfolg beschwört, wer sich nicht an vorgefertigte Förmchen hält. „Ich wollte versuchen, den Film zu machen, nach dem ich selbst eine Sehnsucht gespürt habe, den ich selbst gerne sehen möchte. Und den ich vielleicht auch bislang vermisst habe“, sagt Schilinski. Vor allem aber habe sie ein Werk drehen wollen, das mit den Sehgewohnheiten bricht und traditionelle Erzählstrukturen infrage stellt – ein mutiges Projekt, für das man aber nicht leicht die Finanzierung zusammenbekommt.

Mascha Schilinski (dritte von links) mit ihrem Filmteam bei der Pressekonferenz in Cannes.EPA

Mehr als fünf Jahre arbeitete die gebürtige Berlinerin daran, die Geschichte über vier junge Frauen, deren Schicksale sich über den Zeitraum eines Jahrhunderts erstrecken, auf die große Leinwand zu bringen. Unterstützung erhielt sie schließlich unter anderem durch das ZDF-Format „Das kleine Fernsehspiel“, das seit mehr als 50 Jahren junge Filmemacher fördert. Schon damit durfte sich Schilinski in eine Reihe mit Rainer Werner Fassbinder, Fatih Akin oder Tom Tykwer stellen, die in dieser Reihe ebenfalls Filme realisiert haben.

Auch die Mutter war Filmemacherin

Vom Kino träumte Schilinski schon früh. Ihre Mutter Claudia Schilinski war ebenfalls Filmemacherin, nahm die Tochter mit auf Reisen und an Drehorte. Bevor Mascha Schilinski sich ganz dem Filmgeschäft verschrieb, sammelte sie noch ein paar andere Erfahrungen. Ihr Fachabitur schloss sie in Psychologie ab, tourte zwei Jahre als Feuertänzerin und Zauberin mit einem kleinen Zirkus durch Italien, reiste später durch Spanien, Frankreich und Portugal, schrieb Kurzgeschichten. Und lernte: Inspiration schleicht sich gern ins Leben, wenn man nicht mit ihr rechnet. So erzählt sie im Gespräch, dass ihr die Idee für „In die Sonne schauen“ kam, als sie eigentlich an einem anderen Projekt arbeitete.

Gemeinsam mit einer Freundin hatte sie sich auf einen abgelegenen Hof in Elbenähe zurückgezogen. Die beiden Frauen wollten in Ruhe an Schreibprojekten arbeiten. Sie tippten, sie tranken Wein, sie erkundeten das alte Haus. „Es gab eine Fotografie von drei Frauen auf diesem Hof, ein Schnappschuss um 1920. Die drei Frauen schauten direkt in die Kamera und sahen uns an.“ Das war der Schlüsselmoment, in dem sich etwas in Schilinski und ihrer Ko-Autorin Louise Peter zu regen begann. „Wir haben uns gefragt: Wer sind diese Frauen?“ Obendrein blickten die beiden an ebenjener Stelle auf die Aufnahme, an der die Fotografie entstanden war; ein Hauch Geschichte wehte ins Jetzt. „Es hat etwas mit uns gemacht, dass wir hundert Jahre später an der gleichen Stelle auf diesem Hof stehen, der noch genauso aussah wie auf dem Foto.“

DSGVO Platzhalter

Solche Gedanken treiben Schilinski schon seit ihrer Kindheit um. Geboren 1984 in Westberlin, wuchs sie in einer Altbauwohnung auf und fragte sich als Kind manchmal, wer wohl früher zwischen den hohen Wänden gelebt hatte. Was sich in diesen Räumen wohl einmal abgespielt hat? Wer auf diesem Stuhl, an genau der gleichen Stelle wie sie, früher gesessen hat?

Entlang dieser Linie denkt „In die Sonne schauen“. In ihrer Kunst findet Schilinski Wege, verschiedene Zeitebenen einander überlappen zu lassen. Den Film lässt sie ausschließlich auf einem Gehöft in der Altmark spielen. Die Kamera folgt dem Mädchen Alma zu Beginn beim Fangenspielen durch die Räume, gibt dem Publikum Orientierung über den Handlungsort, an dem sich in den folgenden 140 Minuten alles abspielen wird. Alma lebt mit ihrer Familie um 1910 auf dem Hof, schwere Holzmöbel stehen an den Wänden Spalier. Einige bewohnen ihren Platz auch in den Vierzigerjahren noch, wenn den Flur, den zuvor Alma entlangrannte, eine junge Frau namens Erika auf Krücken durchquert, um sich in das Körpergefühl eines Einbeinigen hineinzuversetzen, der hier gepflegt wird. Beim Gang durch die Räume trübt sich manchmal der Kamerablick ein wie bei einem Blinzeln.

Und dann befindet man sich wieder im gleichen Raum, aber in einer anderen Zeit. Angelika verbringt ihre Pubertät in den Achtzigerjahren auf dem Hof, hilft ihrer Mutter in der Wirtschaft, testet Grenzen aus, entdeckt ihre Sexualität. Und irgendwann ist der Hof verlassen, und eine Familie zieht nach der Jahrtausendwende aus Berlin ins Grüne, entrümpelt die Räume. Die Mutter zertrümmert den alten Kachelofen, ihre Töchter liegen in der Sonne am Elbestrand. Beim Zuschauen fragt man sich unwillkürlich, wie die Schicksale zusammenhängen. Sind die Frauen verwandt? Sehen wir mehrere Generationen einer Familie? Verbindet sie mehr als der bloße Zufall des Bewohnens der gleichen Räume? Eine genaue Antwort bleibt der Film schuldig. Das ist Absicht. „Jeder Zuschauer darf das selbst sehen, wie er das sehen möchte“, erklärt Schilinski. „Wir würden uns wünschen, dass man sich nicht hinsetzt und den Stammbaum versucht zu zeichnen. Man ist gut beraten, wenn man den Film einfach fühlt und nicht gleich versucht, ihn intellektuell zu verstehen.“

Welche Geister wohnen in diesen Räumen? Lena Urzendowsky in „In die Sonne schauen“
Welche Geister wohnen in diesen Räumen? Lena Urzendowsky in „In die Sonne schauen“Studio Zentral

Intuition ist ein Wort, das im Gespräch öfter fällt, nicht nur wenn es um die Arbeit am Drehbuch geht, bei der Schilinski und Peter sich zunächst auf lose Szenen konzentrierten, die sie dann assoziativ den verschiedenen Zeitepochen zuordneten. Schilinski hat eine Vorliebe für die Per­spektive von Kindern. Der nüchterne Blick der Mädchen stellt die Psychospiele der Erwachsenenwelt schärfer, macht die Absurdität und Brutalität in den Handlungen der Eltern sichtbar. Schon in ihrem Regiedebüt „Die Tochter“, das 2017 auf der Berlinale Premiere feierte, erzählt die Regisseurin die Trennung eines Paares aus der Sicht der siebenjährigen Tochter.

Für die Rolle des Mädchens engagierte Schilinski damals die Kinderdarstellerin Helena Zengel, die unverstellt und mit großer Energie den Film trägt. Mit zwölf Jahren erhielt sie 2020 den Deutschen Filmpreis als beste Hauptdarstellerin für die Rolle als wütendes Problemkind in „Systemsprenger“, ein Jahr darauf drehte sie in Amerika an der Seite von Tom Hanks das Westerndrama „Neues aus der Welt“. Die Arbeit mit Kindern scheuen viele Filmemacher. Dass Schilinski solche Ausnahmetalente wie Zengel findet und hinter der Kamera anzuleiten weiß, mag zum einen ihrer Erfahrung in einer Castingagentur geschuldet sein, wo sie sich auf Kinder- und Jugenddarsteller spezialisiert hatte. Zum anderen hatte sie selbst als Kind in kleinen Rollen in Filmen mitgewirkt, kennt also beide Seiten des Filmemachens aus Kindersicht.

Fototermin in Cannes: Mascha Schilinski nach der Filmpremiere
Fototermin in Cannes: Mascha Schilinski nach der FilmpremiereAction Press

„In die Sonne schauen“ weiß diesen Blick der Jüngsten sehr effektiv zu nutzen. Schonungslos legt er Übergriffe, Gewaltakte und patriarchale Gesellschaftsstrukturen offen. Alma sieht durch den Spalt zwischen Holzlatten zu, wie ein Bruder von den Eltern misshandelt wird, und sie fängt den Blick ihrer Mutter auf, als diese sich später hysterisch lachend auf dem Teppichboden windet. Erika sieht Frauen aus Angst vor Vergewaltigungen nach Kriegsende in die Elbe gehen. Angelika wiederum sucht in den Augen ihrer Mutter nach Schutz und Hilfe, als ein Onkel die Hand auf ihren Oberschenkel legt. Die Mutter blickt weg, und das Publikum spürt die Ohnmacht der jungen Frau. „Es geht um die Weitergabe von Traumata durch Generationen hinweg“, sagt Schilinski in unserem Gespräch.

Um solche schwierigen Themen zu transportieren, hat sie nicht nur phantastische Kinderdarsteller wie die zehn Jahre alte Hanna Heckt als Alma finden können. Ihr Ensemble wird getragen von einigen der engagiertesten jungen Darstellerinnen, die man derzeit im deutschen Film finden kann: Lea Drinda gibt die sensible Erika, Lena Urzendowsky die wilde Angelika und Laeni Geiseler das unsichere Mädchen Lenka in der Gegenwartserzählung. „Die zentrale Frage für uns im Film war: Was prägt uns, was lange vor unserer eigenen Geburt geschehen ist und worauf wir selbst keinen Zugriff mehr haben? Und was hat sich durch die Zeit hindurch in unsere Körper eingeschrieben, was für Körpererinnerungen bleiben?“, so die Regisseurin. Für solche abstrakten Ideen findet sie anschauliche Bilder von großer Poesie – was die Jury in Cannes überzeugte.

Back to top button