Todkranke Patienten: „In der Palliativstation ist es, als wären Sie im prallen Leben“ | ABC-Z
Nur etwa ein Fünftel der deutschen Krankenhäuser hat eine Palliativstation. Dabei kann eine individuell zugeschnittene Behandlung sterbenskranken Patienten sehr helfen – vor allem auch emotional und psychisch. So wie Uschi Funk. Ein Besuch in Düsseldorf.
Uschi Funk hat ihre Beerdigung bereits bezahlt, die Karte ihres Bestatters steckt in ihrem Portemonnaie. Es ist ihr dritter Krebs, die ersten beiden Male war es erblicher Brustkrebs, dieser nun ist Zufall, befiel die Lunge der Nichtraucherin und streute dann schnell.
Viereinhalb Monate, sagt Funk, sei sie ohne korrekte Diagnose von Arzt zu Arzt gelaufen mit Schmerzen in der rechten Flanke, die mal auf einen Bandscheibenvorfall, dann auf „Untrainiertsein“ zurückgeführt worden seien, bis zum Januar, danach tägliche Bestrahlungssitzungen bis zum Befund: keine Aussicht auf Heilung für die 57-jährige Krankenschwester.
Es war Sommer, Funk kehrte nach Hause zurück, zu Labradorhündin Paula, die sie bald wieder weggeben musste, ihre Kraft reichte nicht mehr. Einem befreundeten Ehepaar, das ihr half, habe sie gesagt: „Bringt mich ins Hospiz, bringt mich irgendwo hin, wo ihr wollt, ich kann nicht mehr. Ich geh‘ hier kaputt.“ Die Schwester eines SAPV-Teams –„spezialisierte ambulante Palliativversorgung“ –, das Funk etwas später im Jahr auf dringenden Rat eines Arztes zu betreuen begann, riet ihr: „Sie sollten mal bei uns auf die Palliativstation kommen“.
„Oh Gott, habe ich gedacht, da kommst du nicht mehr raus“, sagt Funk, „dahin geht man zum Sterben“. Die Pflegerin beharrte aber, das könne ihr nur nutzen, viele verließen die Station gestärkt. Funk ließ sich überzeugen und auf eine Warteliste setzen. Sie kam „relativ zügig“ rein. Das war Anfang Oktober.
Nach 14 Tagen war Funk wieder zu Hause. „Mir ging es 70 Prozent besser als vorher“, nicht nur wegen neuer Schmerzmedikamente: „Gespräche und Kunsttherapie“ hätten ihr ihre „Kräfte zurückgegeben“. Todesstation? „Unten in der Palliativstation ist es, als wären Sie im prallen Leben.“
„Unten“, sagt sie, weil die Palliativstation im Untergeschoss eines 80er-Jahre-Betonklotzes auf dem Campus der Uniklinik Düsseldorf liegt. Hinter grell beleuchteten Krankenhaus-Fluren, schon frühmorgens im Vollbetrieb, und einem dunkelgrauen Treppenhaus liegt wie versteckt eine grüne Tür, der Hintereingang zur Station. Am Haupteingang steht ein Schild: „Bitte sprechen Sie uns an – Wir nehmen uns Zeit.“ Auf der Station verebben die Krankenhaus-Geräusche, der Boden sieht aus wie Parkett, das Licht leuchtet indirekt, in einem „Wohnzimmer“ stehen ausladende Sessel, ein Weihnachtsbaum.
„Nachts sind viele Leute hier wach, denken nach, haben Angst“
Acht Uhr morgens. Der Leitende Arzt, Martin Neukirchen, eröffnet die Dienstbesprechung, kurzer Stand zu jedem Patienten. Zwölf Personen sitzen am Konferenztisch, Pfleger, Ärzte, Therapeuten tauschen sich aus. Insgesamt arbeiten etwa 60 Personen im Palliativzentrum, dazu gehören Pflegerinnen, eine ist gleichzeitig auch Klangschalentherapeutin, eine Psycho-Onkologin und Kunsttherapeutin, ein Tiertherapeut mit Hund, Psychologen, Sozialarbeiter, Seelsorger, Ärzte für alles Mögliche: Onkologie, Anästhesiologie oder Gynäkologie, fast jeder mit Zusatzweiterbildung Palliativmedizin.
Sie betreuen acht Patienten in Einzelzimmern auf der Palliativstation und um die 50 auf anderen Normal- und Intensivstationen. Eine davon ist zurzeit auch Uschi Funk sieben Stockwerke höher, sie ist für einige Tage zurück im Krankenhaus. Ein Tumor an ihrem linken Arm wird bestrahlt, zur Schmerzreduktion.
Als Neukirchen durch die Patientenakten klickt, die ein Beamer an die Wand wirft, stehen dort immer Vermerke wie: Herr So-und-so „war Prothesenbauer. Hobbys: Kochen, liebte es, zu Hause zu sein“. Bei Neueingängen liest Neukirchen das oder andere Details zur Persönlichkeit des Patienten vor. In einer Akte steht, der Patient habe zuletzt die Düfte „Sonnenaufgang“, „Übelkeit adé“ und „Lavendelblüte“ gerochen im Zuge einer Aromatherapie. Das Team weiß, dass einem Herr YZ das Ersticken fürchtet und einem anderen gerade „die Scheibe Brot geschmeckt hat“.
Und es geht auch viel um die Verwandten, zum Beispiel den Durchbruch im Gespräch mit der minderjährigen Tochter einer tödlich erkrankten Mutter, den Psychoonkologin/Kunsttherapeutin A. Cornelia Weigle schildert.
Die Bilder, die in der Arbeit mit ihren Patienten entstehen, hängen an fast jeder freien Stelle des Stationsflurs, Angehörige von Verstorbenen überlassen sie der Station oft noch für einige Jahre, bis sie sie nach Hause holen.
Das jüngste Bild, das Uschi Funk gemalt hat, hängt vor ihrem Bett auf der Strahlenstation. Es heißt „Böse Überraschung“ und thematisiert Funks neuen Armtumor, zeigt eine Art stachliges Auge umrandet mit Fragezeichen. Laut Funk hätten Ärzte den Tumor lange nicht erkannt und selbst dann noch für ein Hämatom gehalten, als sie es selbst schon aufgrund der Härte der Schwellung als Tumor erkannt habe.
„Dieses Bild hat mir geholfen, die Gefühle noch mal zu spüren, wahrzunehmen, weil da war ja nicht nur Wut, da war auch Ohnmacht und auch Schmerz“, sagt Funk. Das zu benennen, zu fühlen, somit auch ad acta legen zu können – all das sei durch dieses Bild entstanden.
Nach einer knappen Stunde ist die Besprechung des Palliativteams vorbei. Um neun Uhr dann die Visite: Zwei Ärztinnen und die leitende Pflegerin, auszubildende Ärzte im Schlepptau. Erste Tür: Die Patientin schläft, sie lassen sie schlafen. Zweite Tür: Der Patient isst, sie lassen ihn essen. Sie werden später wiederkommen; auf der Station gibt es viel Zeit, auch zum Reden.
„Nachts sind viele Leute hier wach, denken nach, haben Angst. Viele Pfleger sitzen oft stundenlang in den Nächten in Gesprächen an Patientenbetten“, sagt Jacqueline Schwartz, Neukirchens Stellvertreterin, während der Visite.
Uschi Funk sagt, was das bedeutet: Sie habe nach Monaten der Erschöpfung „einfach Zeit“ gebraucht, „um Gespräche zu führen, auch mit dem Pinsel, mit Farben, Formen und einer eigenen Symbolik. Und dafür war immer jemand da, ob die Psycho-Onkologin, die Kunsttherapeutin, die Krankenschwester, der Arzt, der Seelsorger.“
Oder die Leute im „Wohnzimmer“, wo es „sehr natürlich“ sei, „mit wildfremden Leuten sehr schnell in Kontakt zu kommen, ob andere Patienten oder Angehörige“. Das ist es, was Funk mit „prallem Leben“ meint.
Wie viel Zeit Funk selbst noch hat, weiß sie nicht. Aus diesem Grund habe sie auch die Beerdigung und anderen Papierkram schon vorbereitet: Sie fühle sich nun „frei, den Rest des Lebens zu leben. Nicht ständig daran denken zu müssen.“ Diese Haltung ähnelt dem Kerngedanken der Palliativmedizin selbst, die das nahende Unvermeidliche kennt, in Kauf nimmt und sich deshalb darauf konzentrieren kann, das Leben bis dahin möglichst sorgen-, schmerz- und angstarm zu machen.
„Auch viele Ärzte haben Angst vor dem Tod“
Martin Neukirchen, der nicht nur Leiter des Palliativzentrums, sondern auch im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin ist, sagt: „Nur ungefähr 20 Prozent der Krankenhäuser haben eine Palliativstation oder einen Palliativdienst, der auf die Stationen geht.“ Zwischen 2021 und 2023 ist die Zahl der Mediziner mit palliativer Zusatzausbildung um zehn Prozent gestiegen, insgesamt etwas unter vier Prozent aller deutschen Ärzte. Das Feld galt lange als Nische.
„Auch viele Ärzte haben Angst vor dem Tod“, sagt Neukirchen. Den Tod als natürlichen Bestandsteil des Lebens anzuerkennen, falle vielen schwer, sagt er, als er den Stationsflur hinab läuft, zum „Verabschiedungsraum“. Hier können Angehörige ihre Verstorbenen aufbahren lassen, bis zu 48 Stunden, um auch mehrmals zu kommen und sich zu verabschieden. „Zu spüren: Dieser Mensch wird kühl – das macht den Tod begreifbarer“, sagt Neukirchen.
Weder diese Aufbahrung noch Aromatherapie oder die psychosoziale Begleitung durch das ambulante Team, auch nicht den an die Station angeschlossenen Garten, wo Patienten übernachten und auch sterben dürfen, zahlen die Versicherungen. Sondern der Förderverein der Station mit einem „niedrigen sechsstelligen Betrag“ jährlich, sagt Neukirchen. Dazu kommen 40 Ehrenamtler, die sich zusätzlich um die Patienten kümmern. Exklusive alledem kostet ein Tag auf der Station im Schnitt laut Neukirchen immer noch etwa 750 Euro.
Laut DGP reichen die mit der SPD-Krankenhausreform zukünftig für die Palliativstationen vorgesehen Mittel nicht aus. Gelder für die Palliativversorgung außerhalb der Station, wie Uschi Funk sie zurzeit erhält, sind darin gar nicht vorgesehen. Und die DGP sieht noch weitere Herausforderungen: In den Altenheimen etwa mit immer mehr mehrfach erkrankten Hochbetagten brauche es deutlich mehr Palliativbetreuung. „Palliativversorgung kann ja sehr frühzeitig beginnen. Wir behandeln Patienten teilweise mehrere Jahre, bevor sie sterben. Das bräuchte es auch in den Heimen“, sagt Neukirchen.
Uschi Funk sagt, sie würde „eigentlich jedem diese Behandlung gönnen“. Im Weg stünden die Kosten, aber auch die Behandlungskultur: „In Deutschland gehen wir viel mehr auf mechanische Medizin, arbeiten viel mit Röntgen, Operationen, Medikamenten, während in den skandinavischen Ländern viel ganzheitlicher betreut wird.“
Neukirchen hat eine Idee, wie es mehr Geld für die Palliativmedizin geben könnte. „Die Behandlungskosten pro Kopf steigen im letzten Lebensmonat exponentiell, es gibt häufig zu viel Intensivversorgung. In Deutschland gehen wir oft auch auf expliziten Wunsch der Patienten viel mehr auf Maximaltherapie, um das Leben bis zuletzt zu erhalten, machen immer noch zu viel Diagnostik, teilweise ohne Konsequenzen.“ Das bedeute: „Das Geld ist eigentlich drin im System. Würde man es umschichten, aus der Überversorgung in die Palliativversorgung in der Breite, dann wäre eigentlich allen geholfen und es bliebe am Ende sogar noch etwas übrig.“
Politikredakteur Jan Alexander Casper berichtet für WELT über Innenpolitik.