Todkranke Kinder warten auf Spenderorgan: KiO hilft Familien |ABC-Z
Die kleine Raica zieht sich beim Warten im Untersuchungszimmer die Stiefel schnell selbst aus, fragt vorher, ob sie das auch dürfe, schaut geduldig ein Bilderbuch an und singt gut gelaunt ein Lied von einem Fuchs. Seit wenigen Wochen ist sie im Kindergarten, wie das für ein im September drei Jahre alt gewordenes Mädchen ganz normal ist. Dabei war im Leben von Raica bisher eigentlich nur sehr wenig normal. Für den Kindergarten braucht sie eine Integrationsassistentin, ein zäher Kampf mit der Verwaltung, wie die Eltern, Oxana und Lukas Holicki, erzählen. Doch sie sind mittlerweile gewohnt, dass es nicht immer rund läuft.
Bei einer routinemäßigen Ultraschalluntersuchung in der 19. Schwangerschaftswoche stellte der Frauenarzt fest, dass das sich entwickelnde Mädchen in viel zu wenig Fruchtwasser schwamm. So eine Fehlentwicklung – eine Oligohydramnion – gilt als Anzeichen für eine Fehlbildung der Nieren. Von da an waren Ärzte und Eltern alarmiert. In der Frankfurter Universitätsklinik wurden sie nach einer längeren Ärzteodyssee von Professor Frank Louwen medizinisch betreut, dem Leiter der Geburtshilfe und Pränatalmedizin.
„Uns sind zuerst von verschiedenen Ärzten so viele schreckliche Szenarien für die Gesundheit unserer Tochter ausgemalt worden, jede Woche kam ein anderes Drama dazu, manche wollten uns sogar zu einer Abtreibung drängen“, erzählen Oxana und Lukas Holicki. Louwen sei der Erste gewesen, der entdeckt habe, dass im Körper des kleinen Mädchens zwar keine ausgebildeten Nieren vorhanden sind, aber durchaus Nierengewebe, das auch funktionierte. „Er war derjenige, der uns endlich Mut gemacht hat.“ Als Raica am 7. September 2021 auf die Welt kam, habe sie sofort geschrien, was für eine gut funktionierende Lunge sprach. Rund 20 Ärzte, Hebammen und Pflegepersonal standen bereit, um das kleine, ganz gelbe und aufgequollene Wesen ins Leben zu begleiten und sofort auf die Intensivstation zu bringen.
Banges Warten auf ein Spenderorgan
Von der Uniklinik kam Raica ins Clementine Kinderhospital, wo sich Oberarzt Matthias Hansen, der Leiter des angeschlossenen KfH-Nierenzentrums (Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation für Kinder und Jugendliche), seither um sie und rund 25 weitere dialysepflichtige Kinder mit großen Nierenproblemen kümmert. Drei Monate musste sie im Krankenhaus bleiben. Mehr Lebensqualität gab es für die Familie aus Darmstadt wieder, nachdem Raica ein sogenannter Tenckhoff-Katheter gelegt werden konnte. Über den erhält sie seither zu Hause eine sogenannte Bauchfelldialyse (Peritonealdialyse).
Dabei wird das Blut nicht außerhalb des Körpers gereinigt, sondern im Körperinneren über das Bauchfell. Die Bauchhöhle wird über den Katheter mit einer Dialyselösung gefüllt, die aus dem Blut die harnpflichtigen Substanzen löst. Die Eltern schließen das Gerät jeden Abend unter sterilen Bedingungen an, ein sogenannter Cycler regelt die Blutwäsche von Raica im Schlaf, ein Chip zeichnet die Flüssigkeitsmengen und den Zeitverlauf auf.
Nur noch alle zwei Wochen kommen die Holickis ins KfH zur Kontrolle von Raica. Ihr Vater gibt dem Arzt den Chip, der ihn ausliest und auf einem Diagramm sieht, ob alles in Ordnung ist. Die Holickis sind mittlerweile selbst Experten der Erkrankung ihrer Tochter geworden. Mit ihren displastischen Nieren beidseitig könnte sie ohne Dialyse nicht überleben. Weil eine Dialyse aber immer nur ein Hilfsmittel ist, mit dem man die Zeit bis zu einer Organtransplantation überbrückt, wartet die ganze Familie auf den erlösenden Anruf, dass ein geeignetes Spenderorgan gefunden sei. Denn irgendwann würde sich das Bauchfell auflösen und der Belastung der nächtlichen Spülungen nicht mehr gewachsen sein – das wissen sie alle.
„Eine Transplantation kann erst ab einem Körpergewicht von zehn Kilogramm vorgenommen werden, deshalb kommen Kinder erst dann überhaupt auf die Transplantationsliste, wenn sie dieses Gewicht erreicht haben“, sagt Hansen. Bei Raica war das genau zwei Tage vor ihrem zweiten Geburtstag. Dass sie dieses Gewicht erreichte, war allein schon ein schwerer Kampf. Denn das Mädchen wird größtenteils über eine Magensonde ernährt. „Sie ließ sich ein Jahr lang kaum füttern, nachdem der Schluckreflex der Neugeborenen erloschen war“, sagt Vater Lukas. Deshalb die Magensonde. Alle 20 Minuten gaben die Eltern eine Mischung aus Premilch, kaliumarmer Milch, Traubenzucker, Eiweißkonzentrat, Vitaminen und Mineralien wie Eisen, Kalium und Magnesium. „Mittlerweile hat sich der Rhythmus auf alle 40 bis 50 Minuten eingespielt, und es ist möglich, 50 Milliliter auf einmal zu geben.“ Sogar ein Schluck Tee darf dazu.
Eltern pflegen rund um die Uhr: „Wir wechseln uns ab in Schichten“
Auch während des Besuchs im KfH muss dieser Essensrhythmus eingehalten werden. Raicas Eltern haben alles in einer großen Tasche dabei. Die fertig gemixte Flüssigkeit wird auf eine Spritze aufgezogen und in den Schlauch der Magensonde gespritzt. „Ich hab Durst“ , sagt Raica stoisch nach der Gabe und darf mittlerweile sogar einen Schluck Mineralwasser trinken, ein Riesenfortschritt. „Am Familientisch zu Hause bekommt sie auch immer mal ein wenig von dem, was die anderen essen.“ Weil das vorhandene Nierengewebe mitwächst, darf sie nun mehr Flüssigkeit zu sich nehmen. Aber alles, was in den Körper hineinkommt und ausgeschieden wird, muss nach wie vor sorgfältig gewogen und registriert werden.
Vater Lukas hat dafür ein eigenes Computerprogramm geschrieben. Raicas Eltern sind rund um die Uhr im Einsatz. Ihr Vater kann den größten Teil seiner Arbeitszeit bei einer Firma für Windenergie mobil verbringen, zählt aber genau wie seine Frau die kurzen Zeiten des Schlafs als unschätzbares Gut. „Wir wechseln uns ab in Schichten“, sagen sie. Sie sind ein eingespieltes Team. Auch der fünfjährige Sohn verlangt Zuwendung und Fürsorge – und die Familie erwartet ein drittes Kind. Schwester oder Bruder? „Ein Elefant!“, sagt Raica und lacht.
Alle drei Monate wird der Dialyseschlauch gewechselt, dieses Mal prüft der Arzt aber nur, ob sich am Bauch nichts entzündet hat. Er wertet den Chip aus und bestimmt die Blutwerte: Kreatinin, Blutsalze, Kalium. Raica lässt die Untersuchungen gelassen über sich ergehen. Auch als ein wenig Blut tropft, ist sie weniger beeindruckt als die Erwachsenen im Raum. Alles ist in Ordnung, nur kein buntes Einhornpflaster ist heute da, aber auch das findet sie nicht so schlimm. Dafür gibt es einen Lutscher.
„Wir sind froh, dass wir vor der Geburt von Raica von Bremen zu den Schwiegereltern nach Darmstadt gezogen sind. Nach Frankfurt ist es von dort nicht so weit“, sagt Oxana Holicki. Viele Eltern fahren auch schon vor einer Transplantation deutlich weiter.
Das KfH betreibt in Deutschland für junge Dialysepatienten 17 spezialisierte Behandlungseinrichtungen, sogenannte KfH-Nierenzentren für Kinder und Jugendliche. Hier versorgt das KfH in Kooperation mit den jeweiligen Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin die meisten chronisch nierenkranken Kinder in Deutschland.
Im Wartebereich der Klinik liegen Infoflyer von KiO aus, der Hilfsorganisation für Organtransplantierte Kinder und Jugendliche, für die die F.A.Z. ihre Leser in diesem Jahr um Spenden bittet. Denn alle, die hier behandelt werden, warten auf eine Nierentransplantation. Und die Dialyse ist immer nur ein medizinisches Hilfsmittel auf Zeit. Wie bei Raica.
Rund zwei Jahre Wartezeit bei Nieren für Kinder
Raicas Eltern selbst können ihrer dreijährigen Tochter keine Niere spenden. Denn kleine Kinder brauchen auch eine sehr kleine Niere, entweder von einem anderen Kind oder von einem sehr zierlichen Erwachsenen. Wie lange die Holickis noch auf ein neues Organ warten müssen und wann der erlösende Anruf kommt, das weiß niemand. „In der Regel beträgt die Wartezeit bei Nieren für Kinder zwei Jahre“, sagt Hansen. Erwachsene warteten im Durchschnitt sogar acht Jahre. Das sind statistische Durchschnittswerte. So hat Hansen, der seit 2012 das KfH im Frankfurter Ostend leitet, in diesem Jahr bereits sieben Kindern eine Nierentransplantation vermitteln können, im Vorjahr war es dafür keine einzige. Etwa 150 Kinder in Deutschland warten gegenwärtig auf eine Niere.
Transplantiert würde Raica in Heidelberg, aber auch im Transplantationszentrum Marburg wäre das möglich. Für manche Familien ist es schwierig, die finanziellen Mittel aufzubringen, solche Zentren zu erreichen und ihren Kindern beizustehen. Entweder haben sie kein Auto, oder die Spritkosten für die langen Wege oder die Gebühren für eine Übernachtung in einem Hotel in der Nähe übersteigen das Budget. Und auch Geschwisterkinder müssen betreut werden. In solchen Fällen springt KiO schnell und unkompliziert ein. Dafür gibt es beispielsweise einen Hilfsfonds, aus dem bürokratielos ein Hotel bezahlt werden kann.
Im KfH liegen während Raicas Termin auch vier Kinder und Jugendliche in Betten, die eine herkömmliche Blutwäsche bekommen. Dreimal pro Woche müssen sie dafür jeweils vier Stunden an das Gerät angeschlossen werden. Insgesamt hat das Zentrum sechs Dialysegeräte und Betten. Obwohl die Heimdialyse für die jungen Patienten schonender sei und ihr Alltag wie etwa in der Schule einfacher werde, entscheiden sich nicht alle Eltern dafür. Manche lehnten die Verantwortung ab, selbst für die Blutwäsche des Kindes zuständig zu sein, und kämen lieber in die Klinik, sagt Hansen. Oder medizinische Gründe sprechen dagegen: Bei einem Vierjährigen im KfH ist das Bauchfell durch Operationen so verwachsen, dass eine Bauchfelldialyse nicht möglich ist.
Für Familie Holicki ist der medizinische Fortschritt der Heimdialyse aber ein großer Gewinn. Trotzdem sind ihre Handys immer eingeschaltet: Sie warten täglich auf den entscheidenden Anruf von Hansen, dass ein passendes Organ für Raica gefunden worden ist und sie sich auf den Weg nach Heidelberg machen können. Die Kliniktaschen sind jedenfalls schon gepackt.