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Tischtennis: Onkel Boll geht heim | ABC-Z

Kurz bevor Timo Boll für seinen letzten Satz an die Platte tritt, stellen die Hallensprecher ihn noch mal vor. Boll wischt gerade mit seinem Handtuch seine Seite der Tischplatte sauber, da erfahren die Zuschauer, dass dies nun seine siebten Olympischen Spielen sind. Dass er der beste deutsche Tischtennisspieler aller Zeiten ist. Als ob das irgendjemand in der Halle nicht wüsste.

Ein paar Minuten später gerät der letzte Ball zu lang. Boll gratuliert seinem Gegner, dem Schweden Anton Källberg, schüttelt den Schiedsrichtern die Hand, klatscht ins Rund und sitzt irgendwann auf einem Stuhl direkt hinter der Bande. Man kann ihm dabei zusehen, wie er versucht, zu verstehen, dass es das war, das Ende seiner Karriere auf einer Bühne wie dieser. 

Doch fürs Verstehen bleibt keine Zeit. “Timo, Timo, Timo!”, hallt es in der Halle im Pariser Süden. Boll steht wieder auf, winkt zu allen Seiten und begräbt sein Gesicht im Handtuch. “Timo, Timo, Timo!” Trainer und Teamkollegen applaudieren, das siegreiche Team aus Schweden applaudiert. Dirk Nowitzki, zwei Köpfe größer als alle anderen weit und breit, applaudiert und macht Fotos mit seinem Handy. Auch Schwedens König Carl Gustav und seine Gemahlin Königin Silvia, die mit Fernglas kam, applaudieren.

“Bei den Sprechchören hat’s mich brutal übermannt”, sagt Timo Boll später. “Ich wusste gar nicht, wie ich mich verhalten soll.” Andererseits sei er enttäuscht gewesen, dass seine Mannschaft klar mit 0:3 im Teamviertelfinale gegen Schweden ausgeschieden war. Er sei unzufrieden mit seinem Spiel gewesen, seinen Spielen: das verlorene Doppel mit Dang Qiu, sein verlorenes Einzel. All die harte Arbeit habe sich nicht gelohnt. Auf der anderen Seite hat eine ganze Halle einem Mann gehuldigt, der zwar verloren hat, aber seine internationale Karriere so oder so als Legende beendet.

Als Timo Boll das erste Mal bei Olympia gegen einen Ball schlug, standen in New York noch die Twin Towers, brachte Nokia gerade das 3310 auf den Markt und Anton Källberg, gegen den Boll jetzt verlor, war drei Jahre alt. Im Jahr 2000 war das und seitdem hat Timo Boll seinen Sport verändert: Immer wieder stand er, ein Hesse, auf Platz 1 der Weltrangliste. Er gewann zweimal Silber und zweimal Bronze bei Olympia mit der Mannschaft und fünfmal WM-Silber. Seine EM-Titel kann er wahrscheinlich selbst kaum zählen, die deutschen Meistertitel erst recht nicht. Boll hat das Tischtennis in Deutschland nicht zum Boomsport gemacht, aber er hat es zumindest vom Hobbykellermief befreit.

In Deutschland wurde er bekannt, in China wurde er zu einem Megastar. Weil er, ein Europäer, regelmäßig die heimischen Superstars schlug. Einmal wurde Boll von einem chinesischen Frauenmagazin zum attraktivsten Sportler der Welt gewählt, vor David Beckham, was Boll unangenehm war. In China nennen sie ihn mittlerweile 波叔, “Onkel Boll”, ein Ausdruck der Zuneigung und des Respekts. Jetzt geht Onkel Boll nach Hause.

Der älteste Weltranglistenerste der Geschichte

Er war der mit der Supersehkraft. Bei Tests soll bei ihm, für die Fähigkeit, einen sich schnell bewegenden Gegenstand mit den Augen zu verfolgen, ein Wert von 280 Prozent gemessen worden sein. Die beste je ermittelte Zahl. So war er in der Lage, anhand des kleinen Stempels auf dem Tischtennisball dessen Richtung und Stärke der Rotation zu erkennen, wenn sie auf ihn zuflogen. Er konnte genauer zurückschlagen.

Mit vier Jahren hatte Boll seinen ersten Tischtennisschläger in der Hand, mit 15 spielte er das erste Mal in der Bundesliga, mit 17 schlug er den Vizeweltmeister, mit 20 gewann er beim World Cup gegen den Olympiasieger, mit 21 stand er erstmals oben in der Weltrangliste. 

Und wie es sich für eine lange Karriere gehört, hat er auch Altersrekorde zu bieten: Mit 37 Jahren war er der älteste Weltranglistenerste der Geschichte. Und mit seiner Bronzemedaille bei der WM 2021 wurde er zum ältesten Medaillengewinner aller Zeiten. Mittlerweile ist er 43 Jahre alt.

Fängt er noch eine Lehre als Bankkaufmann an?

Er wird noch eine Saison für Borussia Düsseldorf in der Bundesliga spielen. Aber es ist ihm anzumerken, dass er sich international gerne anders verabschiedet hätte, erfolgreicher. Meist, das ist das Gemeine im Sport, tritt man mit einer Niederlage ab. Boll erzählt, er habe auch einen gewissen Druck verspürt. “Es war eine schwere Nominierung”, sagte er. 

Der aktuell bestplatzierte deutsche Spieler, Patrick Franziska, fuhr nur als Ersatzmann nach Paris, kam nicht zum Einsatz. Der ließ immer wieder anklingen, dass er die Entscheidung akzeptiere, aber nicht nachvollziehen könne. “Ich wollte meine Nominierung rechtfertigen”, sagte Boll. “Das hat leider nicht so geklappt, wie ich mir das vorgestellt hatte.”

Trotzdem, sagt Timo Boll, sei er ganz zufrieden, wie die letzten 25 Jahre gelaufen sind. Was er dann machen möchte, weiß er noch nicht. Er hätte ja noch lange gedacht, mit Ende 20 würde er irgendwo eine Lehre als Bankkaufmann anfangen, sagt er und lacht. “Ich weiß gar nicht, ob es dafür jetzt zu spät ist.”

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