Tierparkchef über die Corona-Krise im Zoo: “Baban, was ist hier los?” | ABC-Z

München – Von heute auf morgen keine Besucher mehr? Was im Tierpark Hellabrunn bis zur Corona-Pandemie als unvorstellbar galt, passierte während der Lockdowns. Wir haben mit dem Tierpark-Chef gesprochen, wie der Zoo die Zeit überstanden hat, woher das Corona-Virus kam – und wie traurig die Tierwelt dreinblickte, ganz ohne Besucher.
AZ: Herr Baban, bevor wir uns über die Coronazeit unterhalten: Was passiert gerade?
RASEM BABAN: Ein Zoo ist eine Dauerbaustelle.
Jeder Zoo?
Ich kenne keinen, wo das nicht so wäre. Es gibt immer etwas zu reparieren, zu modernisieren oder etwas Neues, das gebaut werden muss.
Ist ja in der Stadt München auch so. Teils eine Dauerbaustelle.
Tiere sind eigentlich die dankbarsten Bauherren. Aber sie gehen mit der Immobilie am schlimmsten um. Wenn Sie irgendwo nicht die richtigen Materialien verbaut haben, nehmen die alles auseinander. Wenn die Tür nicht richtig eingebaut ist, trampeln sie die am nächsten Tag nieder. Wenn der Außenzaun nicht fest verbaut ist, dann kriegt der ein Loch.
Der ultimative Materialtest!
Das muss so sein, das ist gut so. Tiere sind neugierig darauf, was sich in ihrer unmittelbaren Umgebung verändert hat. So wie wir alles mal genauer anschauen, wenn wir umziehen. Sie testen. Nach dem Motto: Daran habe ich mich doch früher geschubbert! Das mache ich jetzt wieder. Und dann fällt das Ding um. Und Sie dürfen das wieder dranschrauben (lacht).
Die aktuell größte Baustelle ist?
Die Dschungelwelt und unsere Separationsstallung.
Was ist das genau?
Der Bereich, wo wir Tiere unterbringen werden, die den Tierpark in einen anderen Zoo verlassen, im Rahmen von Zuchtprogrammen zum Beispiel. Oder wenn wir neue Tiere bekommen. Dann nutzen wir die Stallung als Quarantänestation, um sicher zu gehen, dass die Neuen keine Krankheiten haben. Wir wollen ja unseren Tierbestand nicht gefährden.
Wir mussten genau 202 Tage schließen
Aktuell gibt es wieder ein paar Tierkrankheiten in Europa.
Die Maul- und Klauenseuche geht ja im östlichen Europa um. Auch die Vogelgrippe, die gibt es jetzt ganzjährig, dann die afrikanische Schweinepest… Da müssen wir aufpassen und errichten Schleusen, damit die Tierpfleger keine Krankheitserreger von A nach B schleppen.
Ein Zoo ist ein abgegrenzter Raum, wie überträgt sich das?
Über die Kleidung und über die Schuhe sowie Stiefel kann man etwas einschleppen, auch von Zoobesuchern kann das kommen. Deshalb gibt es bei den Stallungen zum Beispiel Seuchenmatten mit Desinfektionsmittel. Oder nehmen wir die Vogelgrippe. Ein Zoo ist nach oben hin offen.
Da kann ein Virus wortwörtlich einfliegen. Sie müssen mit Ihren Kollegen auf sehr viel achten.
Das schon, aber jetzt kommt die warme Jahreszeit. Viele Viren und Bakterien mögen das UV-Licht gar nicht. Und das macht das Leben im Zoo einfacher.
Wie viele Arten gibt es derzeit im Tierpark Hellabrunn?
Etwa 500.
Und die Anzahl der Tiere?
Das kann ich nicht für alle Arten exakt beantworten. Wie zählt man eine Fischkolonie oder ein Ameisenvolk?
Vielleicht eine Bandbreite?
Im Tierpark leben rund 481 Säugetiere, 459 Vögel und mehrere Tausend Fische, Reptilien, Amphibien und Insekten.
Das Seuchenthema schließt gut an, wenn wir auf Corona zurückblicken. Wie viele Tage war der Tierpark geschlossen während der Lockdowns?
Genau 202. Die längste Phase in der Geschichte von Hellabrunn, in der es keinen Publikumsverkehr gab.
Das wissen Sie wirklich noch so genau?
Ich habe jeden Tag gezählt. Wir hatten keine Einnahmen und die üblichen Ausgaben.
Und Homeoffice funktioniert als Tierpfleger auch nicht.
Eben. Wir haben pro Bereich zwei Tierpfleger-Einheiten im Schichtsystem gebildet und geschaut, dass sich die nicht gegenseitig anstecken. Das wäre fatal gewesen. Irgendwer muss ja die Tiere pflegen.
Hat Sie Corona überrumpelt?
Ehrlich gesagt, gar nicht.
Wie das?
Wir hatten schon immer Tierseuchenpläne in der Schublade und wussten genau, was im Alltag zu tun ist. Mit Behörden abgestimmte Hygiene- und Notfallpläne. Die Tierseuchenpläne waren bei den Hygienevorgaben fast unverändert anwendbar. Auch die Schutzausrüstung hatten wir vorrätig. Wir waren nur überrascht, dass es eine Seuche unter Menschen war.
Und die Tiere waren irritiert, als keine Menschen mehr kamen?
Das war nicht sofort feststellbar, als der Lockdown kam. Manchmal haben wir ja einige Tage geschlossen, wenn etwa Sturmwarnung ist. Das kannten die Tiere schon.
Aber sie kannten keine 202 Tage Lockdown.
Nach zwei bis drei Wochen hat man bei vielen Tieren ein Fragezeichen im Gesicht gesehen. Nach dem Motto: Wo sind die ganzen Menschen hin, warum kommen die nicht mehr? Hier stimmt doch was nicht! Klar, die Tierpfleger kommen noch, aber wo sind die anderen hin? Das merkte man auch am Verhalten.
Bei welchen Tieren besonders?
Manche sind enorm zurückhaltend. Die Nyalas zum Beispiel, eine Antilopenart. Sie halten viel Distanz, ganz scheu. Plötzlich standen die ganz vorne. Da bin ich hingegangen, wir haben uns in die Augen gesehen. Wenn die reden könnten, hätten sie gefragt: Baban, was ist hier los?
Tierseuchenpläne waren bei Corona sehr hilfreich
Wo ist es noch aufgefallen?
Im Urwaldhaus, bei Primaten vor allem. Ich mache regelmäßig meine Runde, mindestens einmal die Woche. Die ein oder anderen Tiere erkennen mich natürlich über all die Jahre. Bei den Primaten gibt es das Gorillaweibchen Sonja. Normalerweise hat sie mich kurz angeschaut und das war es, so etwas wie ein stiller Gruß. Gorillas soll man nicht in die Augen schauen. Das ist für sie bedrohlich. Und während des Lockdowns stand sie ganz nah an der Scheibe. Ich lief wie üblich vorbei. Aber ich merkte schnell, das ist ihr jetzt zu wenig. Als ob sie eine Frage hätte.
Und vielleicht Aufmerksamkeit brauchte?
Ich glaube schon. Ich blieb länger da und hatte das Gefühl, dass sie das beruhigt hat. Als ob sie so die Antwort bekommen hätte: Es ist alles okay.
Wie haben Sie mit Ihrem Team reagiert?
Wir erweiterten bei einigen Arten unser Tierbeschäftigungsprogramm. Kleine alltägliche Herausforderungen und Anreize, die wir ohnehin setzen, haben wir verstärkt.
Haben die Tiere Gefahr gewittert, weil keiner mehr kam?
Nein, ich denke, es war schlicht eine völlig ungewohnte Situation ohne Menschen. Eine Kuratorin hat gesagt, das ist vielleicht damit vergleichbar, wenn bei Menschen der Fernseher kaputt ist. Es fehlt etwas, die Routine. Als wir wieder öffnen konnten, war nach einer knappen Woche alles wie früher.
Wie sieht so ein Tierbeschäftigungsprogramm aus?
Spielzeuge wie Bälle reinlegen, Futter verstecken, wo es noch nie lag, auch im Ball, neue Gegenstände ins Gehege bringen, etwas, das sie zerrupfen konnten, Gewürze, an denen sie schnuppern konnten. Darauf sind Eisbären und Katzenarten sehr fixiert. Und eben die Ansprache, gut zureden.
Gewürze?
Zimt zum Beispiel. Das riecht für die Tiere sehr angenehm.
Wir sprechen beim Lockdown bestimmt von einigen Millionen Einnahme-Ausfall oder?
Uns fehlte ein siebenstelliger Betrag, ja. Da muss ich betonen: Wenn uns die Landeshauptstadt München nicht unterstützt hätte, wäre es eng geworden. München hielt die Hand über Hellabrunn. Das war auch für die Belegschaft ganz wichtig. Allein, um das Futter zu kaufen. Einige Lieferketten wurden gestoppt. Wir konnten im Großmarkt nicht mehr alles kaufen, die Preise schossen nach oben. Deswegen mussten wir unsere Vorratslager so voll wie möglich machen. Ich konnte ja unseren Tieren nicht sagen: Heute gibt es nichts oder weniger.
Corona war außerordentlich. Haben Sie als Leiter des Tierparks daraus lernen können?
Grundsätzlich lief der Umgang mit Corona allgemein sehr professionell, sehr gut gemanagt. Als Tierpark konnten wir uns durch unsere Tierseuchenpläne in Ruhe allen Herausforderungen stellen. Wichtig war, dass die Tierpfleger-Teams gesund geblieben sind. Wir arbeiten auch mit gefährlichen Tieren. Da muss man genau wissen, was man macht. Lerneffekt war, dass wir uns als Zweischichtsystem gut organisieren und uns nicht gegenseitig anstecken. Und auch bei der Vorratshaltung haben wir dazugelernt.
Inwiefern?
Wir haben nach Corona unsere Lager umgebaut und erweitert, vor allem die Kühllagerung, damit wir für den Fall der Fälle einen größeren Vorrat anlegen können und autark sind. Und wir haben Szenarien entworfen, wie das aussehen würde, wenn wir unter Quarantäne stehen. Dafür kauften wir Feldbetten, damit die Tierpfleger eine Zeit lang hier leben können, ohne den Tierpark zu verlassen. Wir sind noch besser vorbereitet.
Vielleicht entdecken wir neue Wirkstoffe
Wie groß sehen Sie die Gefahr, dass sich das alles wiederholt?
Wir haben auf diesem Planeten vermutlich zwischen zwölf und 100 Millionen Pflanzen- und Tierarten. Untersucht sind etwa zwei Millionen Arten. Wir kratzen an der Oberfläche. Der Mond ist wahrscheinlich besser erforscht als die Tiefsee. Allein vor dem Hintergrund müssen wir uns die Frage stellen, was das für ein Potenzial hat. Im Guten wie im Schlechten. Es wäre hochspekulativ zu sagen, ja, so etwas kommt nochmal oder auch zu sagen, nein, so etwas passiert nicht mehr. Es gibt ohnehin ein viel größeres Problem.
Nämlich ?
Den menschengemachten Klimawandel, dem wir uns stellen müssen. Der Kontakt Mensch und Wildtier wird auch durch die daraus resultierenden schrumpfenden Lebensräume häufiger werden. Und wenn wir zusätzlich davon ausgehen, dass in Großmärkten von anderen Ländern exotische Tiere gehandelt werden, kann ich mir nicht vorstellen, dass es das war. Es wird weitergehen, aber es muss nicht zwangsläufig negativ sein.
Was könnte denn positiv sein?
Vielleicht entdecken wir neue Wirkstoffe aus der Natur, die uns weiterbringen. Wir kennen bei Weitem nicht alle Pflanzenarten. All die Forschung kann uns helfen. Die Wissenschaft schreitet stetig voran.
Glauben Sie, Corona war ein menschgemachter Virus oder stammt er aus der Tierwelt?
Da bin ich nicht Fachmann genug. Wir dürfen diese Frage auch nicht banalisieren, das wird dem Thema nicht gerecht. Wir haben Millionen Menschen verloren. Einige von uns haben langfristige gesundheitliche Nachwirkungen. Das ist eine extrem komplexe Frage. Mein höchster Respekt gilt den Menschen, die in dieser Geschwindigkeit den Impfstoff entwickelt haben.
Aber Sie sind seit 22 Jahren in Zoos tätig. Als Leiter des Tierparks, der Tierseuchen kennt: Was klingt für Sie plausibler?
Wie ich schon sagte, ich bin kein Virologe. Aber ich glaube, der tierische Ursprung ist wahrscheinlicher. Viel wichtiger ist, dass wir das Problem gelöst haben, in dieser gefährlichen Gesamtsituation.