Thüringens neuer Regierungschef: Mario Voigt steht vor schier unmöglicher Aufgabe | ABC-Z
Thüringens neuer Regierungschef
Mario Voigt steht vor schier unmöglicher Aufgabe
12.12.2024, 13:03 Uhr
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Eine Patt-Koalition aus CDU, SPD und BSW, unterstützt von der Linken: Mario Voigt muss jetzt ein äußerst instabiles Konstrukt gegen Björn Höckes AfD verteidigen.
Da war er, der Satz, der in Thüringen am 5. Februar 2020 eine Regierungskrise ausgelöst hatte – der aber jetzt, am 12. Dezember 2024, zur Bildung einer arbeitsfähigen Landesregierung führen wird. Am Donnerstag um 11.27 Uhr sagte Mario Voigt: “Ja, ich nehme die Wahl an.” Wenige Minuten später beendete er die Vereidigungsformel mit dem Satz “So wahr mir Gott helfe.” So gehört sich das für einen Christdemokraten.
Doch eigentlich hatte ihm jemand sehr Irdisches ins Amt verholfen. Denn nur, weil einige oppositionelle Linke-Abgeordnete den CDU-Landeschef wählten, kam er bereits im ersten Wahlgang auf die absolute Mehrheit. Er erhielt 51 von 88 Stimmen. Der AfD war jeder Raum für destruktive Manöver genommen.
Das Experiment des Mario Voigt
Auch sonst beginnt mal wieder ein original thüringisches Experiment: Voigts CDU regiert mit der SPD und einer Partei, die immer noch wie eine Mischung aus politischem Rotary Club und Sahra-Wagenknecht-Wahlverein wirkt.
Überhaupt ist die Koalition mit dem etwas albernen Namen “Brombeere” ein Sonderfall in der bundesrepublikanischen Demokratie. Weder verfügt sie über eine eigene Mehrheit im Landtag noch lässt sie sich als Minderheitsregierung bezeichnen. 44 von 88 Stimmen sind ein Patt.
Die Rollen in Erfurt sind nun vertauscht
Aber hey, das ist eben Thüringen. Das Land, in dem mit Bodo Ramelow der erste und einzige linke Ministerpräsident amtierte. Das Land, in dem ein FDP-Regierungschef namens Kemmerich mithilfe der AfD gewählt wurde. Das Land, das zuletzt von einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung verwaltet wurde und wechselnde Mehrheiten erlebte.
Thüringen ist auch das einzige Land, in dem CDU und Linke schon bisher notgedrungen miteinander kooperierten. Nach dem Rücktritt Kemmerichs vor knapp fünf Jahren ließ die CDU den Linken Ramelow zurück ins Amt und sich zeitweilig auf eine De-facto-Tolerierung seiner Regierung ein. Nun, knapp fünf Jahre später, sind die Rollen vertauscht. Zumindest indirekt stützt die Linke eine CDU-geführte Regierung.
Ein Zeichen politischer Reife
Dass es wahrscheinlich sieben Linke-Abgeordnete waren, die Voigt im ersten Wahlgang zur absoluten Mehrheit verhalfen, beweist politische Reife. Nachdem die bisherige Regierungspartei über Wochen zwischen Hybris und Doppelmoral mäandert hatte, entschloss sie sich, die Handlungsfähigkeit des Landes über ihre Eigeninteressen zu stellen. Zuvor war ihr allerdings Voigt noch einmal etwas entgegengekommen.
Für den Unionskanzlerkandidaten Friedrich Merz ist das natürlich nicht wirklich schön. Zwar stellt seine Partei keinen Ministerpräsidenten von Gnaden der AfD, dafür aber einen Regierungschef mit dem Segen Ramelows, der dazu noch mit Wagenknechts Partei koaliert. Für die Bundes-CDU, die 2018 einen Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber der Linke gefasst hatte, ist das natürlich eine Belastung.
Aber immerhin, die Union hat jetzt einen Ministerpräsidenten mehr. Zudem war die zentrale Lehre aus der Kemmerich-Wahl zu beachten: Unterschätze niemals die Zerstörungskraft von Extremisten. Schließlich ist Thüringen auch das Land, in dem die AfD von Björn Höcke geführt wird – die jetzt sogar über eine Sperrminorität verfügt.
Und im Hintergrund lauert Björn Höcke
Höcke wird im Hintergrund lauern und auf Fehler warten. Denn Voigt steht vor einer schier unmöglichen Aufgabe. Die Stagnation der Wirtschaft, die Spaltung der Gesellschaft, der Vertrauensverlust in die Institutionen, die Konjunktur von Populisten und Extremisten: All das, was in ganz Deutschland zu beobachten ist, zeigt sich in Thüringen verstärkt.
Zudem fehlt der Regierung nicht nur eine Mehrheit im Landtag, sondern auch das nötige Geld zum Gestalten. Die letzten Reserven sind mit dem aktuellen Haushaltsentwurf verplant. Ab 2026 droht ein Milliardendefizit. Entsprechend hoch ist die Skepsis gegenüber der Voigt-Regierung. Nur ein Drittel der Menschen in Thüringen findet die neue Koalition laut einer Umfrage gut. Die Hälfte lehnt sie ab, der Rest ist unentschieden.
Thüringen könnte bald überall sein
Doch womöglich bedeuten diese geringen Hoffnungen auch eine Chance. Wenn die Thüringerinnen und Thüringer nicht viel von der Landesregierung halten, könnte Voigt sie genauso positiv überraschen wie mit seinem Wahlergebnis.
Darüber hinaus hat Thüringen die politische Unberechenbarkeit nicht mehr exklusiv. In Brandenburg wurde Dietmar Woidke erst im zweiten Wahlgang als Chef einer SPD-BSW-Regierung bestätigt, und dies vielleicht bloß dank Stimmen aus der AfD. Und in Sachsen droht kommenden Mittwoch dem CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer bei seinem Wiederwahlversuch ein Großdebakel.
Vielleicht ist das, was Voigt in den nächsten Jahren bevorsteht, sogar die Zukunft der gesamten Bundesrepublik. Niemand weiß, welche Mehrheiten sich im neuen Bundestag bilden können oder wie stark die AfD oder BSW werden. Thüringen könnte bald überall sein.