Drei Jahre nach dem Tod Mahsa Aminis: Iran braucht Hilfe von außen | ABC-Z

Der Mann holt mit seinem Schlagstock aus – und schlägt ihn hart gegen meine Windschutzscheibe. Das Glas zersplittert, Scherben spritzen über meinen Körper und mein Gesicht. Er reißt die Autotür auf, packt mich am Schopf und schleudert mich zu Boden. Sein Gesicht ist hinter einer schwarzen Maske verborgen. Er knurrt mich an: „Du Hure, hast du wirklich geglaubt, ich würde dich so durch die Straßen laufen lassen?“
Ich wache schweißgebadet auf. Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass ich mich in meiner Wohnung in Berlin befinde. Es fühlt sich an, als wäre ich drei Jahre zurück nach Teheran versetzt worden.
In jene Tage, als Mahsa, Nika und Sarina getötet wurden; in die Nachmittage, als ich auf den Straßen von Teheran demonstrierte und kämpfte; in die Nächte, in denen ich aus Angst vor der Verhaftung bei Freunden schlief, und in die Morgenstunden, in denen ich Berichte schrieb und Videos für ausländische Medien schnitt.
Jene Tage, als eine Nachricht nach der anderen über die Verhaftung von Freunden und Kollegen eintraf, spielen sich immer wieder in meinem Kopf ab. So viele junge Männer und Frauen sind ums Leben gekommen. Die Mordmaschine des Klerikalregimes war einmal mehr in Gang gesetzt worden und nicht mehr aufzuhalten.
Vor drei Jahren, am 16. September 2022, kam die iranische Kurdin Jina Mahsa Amini ums Leben. Sie starb in Polizeigewahrsam, nachdem von der Moralpolizei wegen angeblicher Verstöße gegen die islamischen Kleidungsregeln festgenommen worden.
Ihr Tod war Auslöser monatelanger Massenproteste im Iran – unter dem Slogan „Frauen, Leben, Freiheit“. Die Demonstrationen breiteten sich wie ein Lauffeuer aus und richteten sich rasch gegen das gesamte autoritäre Herrschaftssystem der Islamischen Republik, ehe sie gewaltsam niedergeschlagen wurden.
Zwar führten die Proteste zu keinen direkten politischen Veränderungen, doch haben sie das Land gesellschaftlich und kulturell nachhaltig verändert. Viele Frauen in den Metropolen widersetzen sich inzwischen als Zeichen des Protests und der Selbstbestimmung den islamischen Kleidervorschriften. Der Staat hat die Kontrollen durch Sicherheitskräfte zurückgefahren und setzt verstärkt auf juristische Mittel und Videoüberwachung. Die Kopftuchpflicht gilt weiterhin als eine der ideologischen Grundsäulen der Islamischen Republik.
Ich schlafe wieder ein, der Albtraum kehrt zurück. Diesmal ist es der Moment der Hinrichtung von Majidreza Rahnavard. In meinem Traum bin ich mit ihm in der Folterkammer. Seine linke Hand ist gebrochen, sie stampfen weiter gnadenlos mit ihren Füßen darauf. Weil er ein Tattoo mit dem Löwen und der Sonne auf seiner Haut trägt. Der Löwe und die Sonne sind eines der wichtigsten Symbole des Iran. Bis zur Revolution von 1979 waren sie auf der Nationalflagge zu sehen.
Ich schreie und flehe sie an, aufzuhören, aber sie sehen und hören mich nicht. Die Folterer der Islamischen Republik, taub für meine Schreie, bringen Säure. Sie gießen sie über Majidrezas Hand, die Säure verbrennt sein Fleisch. Dann bringen sie ihn weg, um ihn hinzurichten. Wieder schrecke ich aus dem Schlaf, diesmal ist mein Gesicht nass. Ich wische die Tränen weg und greife nach meinem Handy, um zu sehen, was im Iran passiert.
Wieder schrecke ich aus dem Schlaf, diesmal ist mein Gesicht nass. Ich wische die Tränen weg und greife nach meinem Handy, um zu sehen, was in Iran passiert. Ich öffne Instagram. Ungezählte junge Frauen in den Straßen von Teheran teilen Bilder aus ihrem Alltag. Sie zeigen sich unverschleiert, befreit von der Pflicht, den Hidschab zu tragen. Ohne dass ich es gleich merke, beginne ich zu lächeln.
Ich spüre, wie in mir ein kleiner Keim Wurzeln schlägt. Könnte es sein, dass unser Kampf, der Kampf iranischer Frauen und Männer für Freiheit in den vergangenen fünf Jahrzehnten, endlich Früchte getragen hat? Ich weiß es nicht.
War die Bewegung „Frauen, Leben, Freiheit“ eine Frauenbewegung? Oder war es eine Freiheitsbewegung jenseits der Geschlechtergrenze? Kann man eine Trennlinie ziehen zwischen dem Kampf für Freiheit und der Ablehnung eines obligatorischen Islam?
Resultiert die zumindest teilweise erreichte Freiheit in Bezug auf den Zwang zum Tragen des Hidschabs aus dem Widerstand der Bevölkerung oder ist sie das Ergebnis internationalen Drucks und der Drohung amerikanischer und israelischer Angriffe?
Wenn sie die Errungenschaft der Bewegung „Frauen, Leben, Freiheit“ ist, warum haben wir im vergangenen Jahr nicht einmal diese begrenzte Freiheit gesehen? Der Strom von Fragen reißt nicht ab. Ich habe das Gefühl, dass ich mit Menschen in Iran sprechen muss, um zu hören, wie sie die Dinge sehen.
Der Wandel in Iran vollzieht sich schnell
Babak ist ein vierzigjähriger Musiker, der in Teheran lebt. Er schickt mir eine Sprachnachricht auf Whatsapp: „Heutzutage sind mehr Frauen ohne Hidschab auf den Straßen unterwegs, mehr Frauen fahren Motorrad. Der Grund dafür ist, dass die Sittenpolizei zurückgezogen wurde; die Agenten der Islamischen Republik sind nicht mehr auf den Straßen präsent. Ich bin mir fast sicher, dass das eine direkte Folge des Zwölf-Tage-Kriegs ist.
Seit der Mahsa-Bewegung sind drei Jahre vergangen, natürlich hat sie die Gesellschaft verändert, genauso wie die Grüne Bewegung oder die Proteste vom November 2019 ihre Spuren in den folgenden Jahren hinterlassen haben. Alle diese Bewegungen haben sich Schicht für Schicht abgelagert.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Er spricht weiter: „Letztendlich hat jedoch keine dieser Bewegungen die Islamische Republik zu einem vollständigen Rückzug gezwungen. Keine hat zum dauerhaften Abzug der Sittenpolizei geführt oder den Druck auf Frauen wirklich verringert. Es waren vielmehr der internationale Druck und die Angst des Regimes vor einem Zusammenbruch angesichts eines militärischen Angriffs, die letztlich das Gleichgewicht der Macht verschoben haben. Der Wandel in Iran vollzieht sich so schnell, dass die Erinnerung an die Mahsa-Bewegung schon verblasst ist.
Viele junge Männer und Frauen, die ich kenne, sagen, dass sie sich einer solchen Bewegung, sollte sie wieder entstehen, nicht anschließen würden. Die Kosten, argumentieren sie, überwiegen den Nutzen. Die Anführer aus dieser Zeit werden heute in der öffentlichen Meinung verachtet oder an den Rand gedrängt. Die einzige Persönlichkeit, die nach wie vor eine zentrale Rolle in der iranischen Opposition spielt, ist Prinz Reza Pahlavi.“
Nika ist 41 Jahre alt. Sie ist Krankenschwester und lebt in der Hauptstadt. Während des Zwölf-Tage-Kriegs, als die israelische Luftwaffe das iranische Atomprogramm und Repräsentanten des Regimes angriff, hatte sie große Angst und hoffte, dass er möglichst bald enden würde. In einer kurzen Sprachnachricht, die sie mir über Telegram schickte, sagt Nika: „Die jetzige Situation ist das Ergebnis vieler Faktoren, der Mahsa-Bewegung, ja, aber auch der Kämpfe all derer, die davor und danach gekämpft haben, des israelischen Militärschlags und natürlich des Aufstiegs der Generation Z. Wir können nicht nur einen Faktor isoliert betrachten.“
Die Islamische Republik weiß, dass ein weiterer Fehler ihr letzter sein könnte
Shayan arbeitet in einem Supermarkt. Er ist 37 Jahre alt und lebt in Teheran. Auch er schickt mir eine Sprachnachricht via Telegram: „Obwohl die Mahsa-Bewegung für die Situation der Frauen im heutigen Iran nicht irrelevant ist, war es der israelische Militärschlag, der eine funktionale und praktische Wirkung hatte. Ich hasse Krieg, aber ich glaube nicht, dass es einen anderen Weg gibt. Ich kann den wirtschaftlichen Druck, die Armut, den uns aufgezwungenen Islam, die ständigen Ausfälle in der Strom- und Wasserversorgung nicht mehr ertragen. Ehrlich, ich gehe nicht mal mehr auf die Straße. Ich möchte nicht durch die Kugeln der Streitkräfte der Islamischen Republik erblinden oder gelähmt werden. Wenn Proteste Ergebnisse bringen würden, hätten sie das inzwischen getan. Was jungen Menschen heute ein etwas freieres Leben ermöglicht, ist die Angst des Regimes. Sie gründet einzig und allein in dem militärischen Angriff und der Gefahr eines Massenaufstands. Die Islamische Republik weiß, dass ein weiterer Fehler ihr letzter sein könnte.“
Ich scrolle weiter durch Instagram. Meine Timeline wird von einer Welle seltsamer neuer Werbeanzeigen aus Iran überschwemmt. Unverschleierte junge Frauen mit starkem Make-up werben für Cafés, Partys und Diskotheken. Videos zeigen Massen junger Menschen, die tanzen. Selbst in der Jameh-Moschee von Jasd, eine der heiligen Stätten in Iran, gibt es Musik und Gesang.
Nichts davon erscheint mir natürlich. Bis vor Kurzem ging die iranische Cyberpolizei gegen solche Beiträge vor und brandmarkte sie als „Verbreitung von Korruption“. Diejenigen, die sie geteilt haben, wurden verhaftet, inhaftiert oder mit Geldstrafen belegt.
Ich vermute, dass all das eine Inszenierung ist, die von der Islamischen Republik orchestriert wurde, um die Menschen zu täuschen. Rechtlich hat sich nichts geändert. Das Regime hat seine Cyber-Einheiten mobilisiert, um ein idyllisches Bild zu zeichnen und so sowohl das heimische als auch das ausländische Publikum zu blenden.
Ich öffne ein Word-Dokument und starre auf den leeren weißen Bildschirm. Wie soll ich all das einem deutschen Publikum erklären? Die wichtigsten Informationsquellen über Iran in Deutschland sind oft Menschen, die das Land vor Jahrzehnten verlassen haben. Das schafft natürlich eine Distanz zwischen ihnen und der sich schnell verändernden Realität der iranischen Gesellschaft. Es ist schwierig, sich ein realistisches Bild vom Alltag einer Gesellschaft zu machen, in der man so lange nicht gelebt hat.
Das Regime reagiert auf Protest mit Gewalt, Verhaftungen und Morden
Viele Menschen in Iran sind heute desillusioniert. Sie hoffen nicht mehr auf Proteste und Massenbewegungen. Ihnen steht eine religiöse Diktatur gegenüber, die durch Öleinnahmen am Leben erhalten wird. Das Regime reagiert auf Protest mit Gewalt, Verhaftungen und Morden, während die Menschen unbewaffnet sind. Viele sehen keine andere Möglichkeit mehr als eine militärische Intervention von außen, die sie von der Theokratie befreien könnte. Das mag surreal klingen, aber es ist die Realität.
Natürlich gibt es in jeder Gesellschaft unterschiedliche Stimmen. Einige einflussreiche iranische Strömungen in den westlichen Medien neigen jedoch dazu, die Realität eher aus ideologischer Sicht als aus der gelebten Erfahrung in Iran darzustellen. In einigen Fällen sind die Darstellungen stark von antiisraelischen oder propalästinensischen Tendenzen geprägt, was manchmal dazu führt, dass die Gewalt der Islamischen Republik heruntergespielt wird.
Mein Ziel ist es, den deutschen Lesern die Realität des heutigen Iran ohne ideologische Vorurteile zu vermitteln. Ich habe keine andere Wahl, als mutig zu sein, wie die Männer und Frauen, die ihr Leben für die Freiheit geopfert haben.
Menschen in Iran versuchten mit demokratischen Mitteln ihre Freiheit zu erlangen, indem sie wählen gingen. Sie organisierten stille Demonstrationen während der Grünen Bewegung im Jahr 2009. Sie demonstrierten friedlich und unbewaffnet während der Proteste im Dezember 2017 und November 2019 und wurden niedergeschossen. Schließlich gipfelte der Kampf in der Bewegung „Frauen, Leben, Freiheit“, der Freiheitsbewegung iranischer Männer und Frauen.
Heute sind die Menschen durch bittere Erfahrungen zu der Erkenntnis gelangt, dass sie die tödlichen Waffen der Geistlichen nicht mit bloßen Händen bekämpfen können. Sie brauchen Hilfe von außen.
Der Kampf des iranischen Volkes für die Freiheit wird niemals enden. Er geht weiter, er wächst, er wird Früchte tragen.
Die Sozialwissenschaftlerin Zara Kanaani sagt: „Auch wenn wir heute keine sichtbaren Proteste wahrnehmen können, ist die Bewegung in eine latente Phase getreten. Das ist ein Begriff aus den Sozialwissenschaften, der beschreibt, wenn öffentliche Aktionen nachlassen, aber der alltägliche Widerstand fortbesteht. Wir können nicht ignorieren, dass sich die Fähigkeiten der Islamischen Republik zur Repression durch den anhaltenden Widerstand der Menschen und den internationalen Druck abgenutzt haben.“
Laut Kanaani schwächen heute wirtschaftliche, politische und soziale Krisen das Regime. „Alltägliche Akte des Widerstands bedeuten, dass die Angst, die einst viele Menschen davon abhielt, sich zu engagieren, zunehmend schwächer wird, insbesondere da immer mehr Frauen vorangehen. Was einst als Widerstand galt, wird allmählich zu normalem Verhalten im Alltag. Ich glaube, dass der internationale Druck den Herrschenden Angst eingeflößt und zugleich den Menschen die Hoffnung verliehen hat, dass die Islamische Republik irgendwann zusammenbrechen wird.“
Die Geschichte zeige, dass es fast unmöglich ist, ein einmal gebrochenes gesellschaftliches Tabu wiederherzustellen, selbst wenn der Staat versucht, Widerstand gegen seine Wiederherstellung für eine gewisse Zeit zu unterdrücken, meint die Soziologin. Ebendies ist mit der Hidschab-Pflicht in Iran geschehen. Jetzt kann jede gesellschaftliche Krise zum Funken werden, der eine weitere Massenbewegung entfacht. Lassen Sie es mich einfach ausdrücken: Die Islamische Republik ist tot, und bald wird sogar ihr Leichnam von der Erde verschwinden.
Aus dem Englischen von Ulrich Gutmair
Die Namen von in Iran lebenden Personen wurden geändert.