“The Secret Agent”: Im Bauch des Hais | ABC-Z

Der Titel führt in die Irre – oder vielleicht auch nicht. In diesem Film gibt es weder Geheimagenten noch geheime Missionen, dennoch jongliert er mit den Elementen des Spionagethrillers. Die Bilder sind durchzogen von Paranoia, von einer kaum zu fassenden Bedrohung. The Secret Agent von Kleber Mendonça Filho spielt im Brasilien des Jahres 1977 während der brasilianischen Militärdiktatur.
Marcelo (Wagner Moura), Anfang 40, Akademiker und früherer Universitätsangestellter, ist auf der Flucht, ohne genau zu wissen, vor wem. In der Hoffnung, seinen kleinen Sohn wiederzusehen, reist er zur Karnevalszeit nach Recife und taucht unter falschem Namen unter. Möglichst schnell will er das Land verlassen, wartet auf gefälschte Pässe. Je länger er in der Hafenstadt verweilen muss, desto tiefer wird er in ein tödliches Spiel hineingezogen, dessen Regeln er nicht durchschaut. Irgendwann wird klar: Auftragskiller wurden auf ihn angesetzt, weil er Zeuge eines staatlichen Korruptionsskandals ist. Und in der Tageszeitung liest er von bereits 91 Toten während der Karnevalszeit.
Im vergangenen Jahr rekonstruierte der Regisseur Walter Salles mit seinem oscarprämierten Film Für immer hierdie Willkür und Gewalt der brasilianischen Militärdiktatur, ausgehend von einer wahren Familiengeschichte: Der Ingenieur und Ex-Politiker Rubens Paiva, ehemaliger Abgeordneter der Arbeiterpartei PTB, wird von Regierungsbeamten verschleppt. Unermüdlich sucht seine Frau Eunice (Fernanda Torres), Mutter der fünf gemeinsamen Kinder, nach ihm und wird zur zentralen Figur im Kampf um die Aufklärung staatlicher Verbrechen und Folter.
Nun nominiert Brasilien in diesem Jahr einen weiteren Film über jene Schreckensjahre für den Oscar. The Secret Agent ist eine atmosphärische Auseinandersetzung mit der brasilianischen Diktatur, eine Fiktion, die durch und durch Kino ist – und doch wahrhaftiger nicht sein könnte.
Gedreht wurde der Film in Panavision, dem Breitwandformat des US-Politthrillers der 1970er-Jahre. Sein umwerfender Auftakt gleicht einer Ouvertüre, gibt Themen, Motive und Stimmungen vor. Die Bilder entfalten eine Weite und sind zugleich klaustrophobisch. Eine einsame Tankstelle in staubiger Landschaft. Neben dem Gebäude ragen die Füße einer Leiche unter einem Pappkarton hervor. Die Hitze scheint die Farben zum Explodieren zu bringen. Ein leuchtend gelber VW-Käfer fährt vor, mit der Lässigkeit eines Cowboys steigt Marcelo aus. Ein dickbäuchiger Tankwart in Gummilatschen lässt ihn wissen, dass die Polizei über den Toten Bescheid wisse, jedoch wegen des Karnevals überlastet sei.
Ein Streifenwagen hält an, die beiden Beamten würdigen die Leiche keines Blickes, einer von ihnen filzt Marcelos Auto. Auf seiner verschwitzten Uniform befindet sich ein frischer Blutfleck. Der Polizist bittet um eine “kleine Spende” Marcelo übergibt ihm seine angebrochene Packung Zigaretten. Als er weiter Richtung Recife fährt, blickt er immer wieder in den Rückspiegel. Ein Alltag im Ausnahmezustand, inszeniert mit lakonischer Wucht.
Auf den Filmfestspielen in Cannes wurde Wagner Moura für sein nervös beherrschtes Spiel als bester Darsteller ausgezeichnet und Kleber Mendonça Filho für die beste Regie. Recife, die Heimatstadt des Filmemachers, übernimmt eine weitere Hauptrolle. Schon in seinen vorherigen Filmen Aquarius (2016) und Neighbouring Sounds (2023) zeigte der brasilianische Filmemacher, wie sich Politik in die Stadtarchitektur einschreibt, wie neue in die Höhe schießende Gebäude Historie verdrängen, wie sich die Gewalt hinter kleinbürgerlichen Fassaden verbirgt.





















