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Tennis sollte man im Fernsehen oder im Stream schauen | ABC-Z

Es gibt diese sehr lustige, weil sehr ernste Liebeserklärung des 44-jährigen David Foster Wallace an den 25-jährigen Roger Federer in Wimbledon. Sie erschien 2006 in der „New York Times“ und heißt „Roger Federer als religiöse Erfahrung“, womit man eigentlich schon alles weiß: Foster Wallace ist ein Jünger der Präsenzerfahrung. Bei „TV-Tennis“, meint er (und meint Männertennis), gehe die „schiere Körperlichkeit“ verloren, „ein Gefühl für die Geschwindigkeiten“ und „Distanzen“ von „richtigem Tennis“. Im Fernsehen sehe man zwar die „Gesamtgeometrie des Ballwechsels“ besser. Aber die Übersicht des Platzes in der Totalen, von weit oben schräg herunter, verkürze diesen zugleich perspektivisch, womit etwas Wichtiges eingebüßt werde: „Richtiges Tennis ist schließlich drei­dimensional aber das Bild auf einem Fernsehbildschirm ist nur 2D“. Des­wegen verhalte sich „TV-Tennis“ zu „Live-Tennis“ „ungefähr so wie Pornographie zur“ – oh je – „gefühlten Realität der menschlichen Liebe“. Deswegen sei Tennis „kaum fernsehtauglich“.

Tennis ist der fernsehtauglichste Sport von allen

Seit gut zwanzig Jahren klebt diese Ansicht jetzt an einer der in Wahrheit besten aller Sommerbeschäftigungen. Vielleicht, weil sie 2022, pünktlich zum Karriereende Federers, wieder hervor­geholt und neu veröffentlicht werden konnte (bei Kiepenheuer & Witsch, zweisprachig)? Oder weil Andrea Petković, die bis 2022 Profitennis spielte, Foster Wallace und seine Texte über Tennis immer wieder empfahl, zum Beispiel 2020, als erste Lektüre ihres Instagram-Buchklubs „Racquet Book Club“? Tennis im Fernsehen oder im Stream schauen hat es jedenfalls verdient, endlich gegen sein größtes Missverständnis verteidigt zu werden. Nur Tennis im Stadion soll „richtiges Tennis“ sein? Das Gegenteil ist der Fall. Tennis der fernsehtauglichste Sport von allen.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Nicht nur weil es Tennis ohne Bildschirme ja auch auf dem Platz eigentlich gar nicht mehr gibt. Auch da schaut man auf Serving Clock, Shot Clock, Aufschlagsgeschwindigkeitenanzeige, auf Hawk-Eye, Replays in Superzeitlupe und Werbespots. Tennis ist der fernsehtauglichste Sport – nicht nur weil Fernsehen und Streaming die immer interessanter werdende Raumgeometrie der Spielenden wirklich viel besser sichtbar macht, auch mit statistischen Visualisierungen. Er ist es nicht nur wegen der Presse­konferenzen danach (Jannik Sinner, der sich nach fünfeinhalb Stunden Nieder­lage im French-Open-Finale selbst davon zu überzeugen versucht, dass Tennis vielleicht doch nicht das Allerwichtigste sei). Tennis im Fernsehen und Stream ist vor allem deswegen überragend gut – weil es erst durch Fernsehen und Stream zu dem wurde, was es heute glücklicherweise ist: Innerlichkeitstennis.

Kampfsport und Kammerspiel

Tennis aus Publikumsperspektive ist psychologischer Kampfsport, Kammerspiel unter freiem Himmel. Ein in sich geschlossenes System, aus dem keine Energie unbemerkt entweichen kann. Nicht die Dreidimensionalität, nicht die Körperlichkeit, auch nicht in erster Linie die Geometrie machen das Spektakel. Sondern zwei Einsame, die unmenschlich lang miteinander und mit sich selbst ringen, am besten gegensätzlich stoisch und expressiv, und das komplett exponiert auf kleiner Bühne, die sie nicht verlassen dürfen, und zunehmend müde auf dem Saison-Müdigkeitshöhepunkt Wimbledon. Und dabei brillieren, bescheuerte Fehler machen, aufholen, einbrechen, nach Stunden wieder beim Gleichstand sind, Selbstgespräche führen, schreien, sich selbst anschreien, ausrasten und irgendwie immer noch spielen, während Livekommentatoren und Millionen Zuschauende an ihnen psychologisierende Oberflächenhermeneutik betreiben, an Körpern, die anpassungsfähig, cool, willensgeformt sind – vielleicht die ultimativen Körper der Moderne.

Nochmal Sabalenka im selben Spiel: Darüber, was diese wohl Geste bedeutet, spekulierten Kommentatoren und Zuschauende live.
Nochmal Sabalenka im selben Spiel: Darüber, was diese wohl Geste bedeutet, spekulierten Kommentatoren und Zuschauende live.AP

Dieses so faszinierende Innerlichkeitstennis wurde durch Bildschirme hervorgebracht. In der nach wie vor phantas­tischen Leichtlektüre „Being John McEnroe“ (2003) gibt es diesen ziemlich klugen Absatz: „Tennis war ja auch wie geschaffen fürs Fernsehen. Das Spielfeld passte perfekt auf den Bildschirm, und die Zahl der beteiligten Akteure beschränkte sich auf ein Minimum“. Und weiter: „Bei Übertragungen dieser Sportarten“ – gemeint sind Tennis und witzigerweise Billard – „konnte der Zuschauer nicht nur die Fähigkeiten der Spieler beobachten, sondern sich auch Spekulationen über ihr Innenleben hingeben. So gesehen, wurde Wimbledon (…) Englands erste große Realityshow, zwanzig Jahre vor ihrer Zeit“. Der Autor dieser Zeilen, Tim Adams, schreibt nicht nur über den amerikanischen Tennisspieler McEnroe, der Tennispublikum im Allgemeinen und Wimbledonpublikum im Speziellen leidenschaftlich verach­tete, und das Turnier trotzdem, oder deswegen, 1981, 83, 84 gewann – Ahnherr aller Ausrastenden und Schutzpatron des Youtube-Genres „Angry Tennis Players“, das Tennis nur noch lustvoll zu einem Best-of-Contenanceverlust zusammenschneidet.

„Echtzeitgefühle“

Adams schreibt auch über die immer mehr und immer besser werdenden Kameras und Mikrofone auf den Tennis­plätzen, die um diese Zeit begannen, „jede gemurmelte Äußerung“ festzuhalten, „jede Gemütsbewegung, jede Grimasse, jedes Zucken“. Auch über das neue Zusammenspiel von Profitennis, Celebrity Culture und aufkommendem Sponsoren- und Logo-Kapitalismus („Nike war mehr als jedes andere Unternehmen bestrebt, die Grenzen zwischen Sponsor und gesponsertem Sportler aufzuheben“). Aber vor allem eben über dieses eine, Ultrafernsehtaugliche: „Echtzeitgefühle“. Nun hat sich seit 2003 im Profitennis offensichtlich einiges getan – Generationenwechsel, eine breitere Spitze, mehr Geld, neue Arbeitszeiten, neue Regeln und ein ganzes Ökosystem an Podcast-Analyse und Kritik. Aber diese Faszination, die vor allem ein Fasziniertsein von Gesichtern in Nahaufnahme ist, die hat sich nicht verändert.

Wenden wir Foster Wallaces Evidenzargument – dass Fernsehtennis defizitär sei, werde klar, wenn man einmal Stadiontennis gesehen hätte – also am besten einmal gegen ihn selbst: Schauen Sie sich mal ein Finale im Stream an, dann werden Sie schon sehen. Und falls Sie sich darauf einstimmen möchten: Lesen Sie auf keinen Fall Foster Wallace. Sondern schauen Sie doch lieber noch etwas anderes: das von vorn bis hinten umwerfende Interview mit der 1943 geborenen Billie Jean King, aus der Doku-Reihe „Makers: Women Who Make America“ (2013, auf Youtube). King gibt darin nicht nur die beste Antworte auf die Frage, wie es sich anfühlt, Tennis zu spielen. Sie wird auch gefragt, ob sie sich an die Verabschiedung des „Title IX“-Bundesgesetzes am 23. Juni 1972 erinnern könne. Ihre Antwort: „Klar, das war während Wimbledon, machst du Witze? Ich hab drauf gewartet.“

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