Technologie und Kultur: Die Glückshochburg Kassel steckt voller Überraschungen | ABC-Z

Groß war die Genugtuung, aber auch die Verwunderung, als Kassel im Juni zum zweiten Mal zur glücklichsten Großstadt Deutschlands gekürt wurde. Frankfurt dagegen landete nur auf Platz 35 von 40 deutschen Metropolen. Überraschend ist Kassels Kür zur glücklichsten Großstadt, weil sie dem Klischee der mürrischen Nordhessen widerspricht. Die Kasseler sind weniger als geborene Frohnaturen bekannt, sondern eher als raue Gesellen.
Ihr Charakter passt zum kernigen Aroma ihrer berühmt-berüchtigten Ahlen Wurst. Der nordhessische Dialekt klingt schroff und knorrig, ganz anders als das weiche südhessische Idiom, das den Zuhörer umschmeichelt. In Kassel ist die dortige Redewendung „Ich werde dir helfen“ kein freundliches Angebot, sondern eine Warnung an die Nachbarskinder, die Finger von den Kirschen zu lassen, oder an die notorischen Dauerparker rund um den Wilhelmshöher Bahnhof, ihre Autos während der Fernreise lieber vor einer anderen Haustür abzustellen. Solche Töne hört man im diplomatisch bewanderten Frankfurt kaum.
Hinter dem sprachlichen Wattebausch der Frankfurter verbergen sich allerdings manche Spitzen, gern auch gegen die erdverbundeneren Kasseler. Die Nordhessen dagegen ziehen mit ihren scharfen Zisch- und Krächzlauten schon sprachlich eine deutliche Grenze zwischen sich und der Welt. Doch was sie sagen, ist konkret und verlässlich. Und es gilt auch noch am nächsten Morgen, wenn sich am Main der Apfelweindunst eines Sommerabends schon wieder verzogen hat.
Klischee und Gegensatz
Keine Frage, beide Städte haben einen sehr unterschiedlichen Charakter. Kassel im Norden, Frankfurt im Süden – nicht nur geographisch herrschen Gegensätze. Während die Finanzmetropole am Main die großen Deals aushandelt und komplizierte Kapitalmarktinstrumente konstruiert, pflegt Kassel eher bodenständige Industriekultur. So baut der Rüstungshersteller Rheinmetall in den ehemaligen Kasseler Henschelwerken gepanzerte Rad- und Kettenfahrzeuge oder schürft der in Kassel beheimatete Rohstoffriese K+S wertvolles Kalium für Kunstdünger aus dem Boden.
Vor allem gibt das Volkswagenwerk im benachbarten Baunatal vielen Kasselern und Menschen aus der Region einen soliden Arbeitsplatz. Noch, muss man allerdings sagen, schließlich hat der Volkswagenkonzern im Dezember 2024 einen historischen Stellenabbau beschlossen, von dem der VW-Standort Kassel/Baunatal weitgehend verschont geblieben ist. Geblieben ist aber auch die Sorge von Zeitarbeitern und befristeten VW-Beschäftigten um ihren Arbeitsplatz, trotz angekündigter Investitionen von 800 Millionen Euro in die Herstellung von Komponenten für Elektroautos in Baunatal.
Natürlich ist das Bild der umtriebigen Finanzmetropole Frankfurt im Gegensatz zur biederen Betriebsstätte Kassel ein Stück weit Klischee. Denn auch in Kassel würde sich ohne finanztechnischen Schmierstoff kein Rädchen drehen, während die Bankenstadt Frankfurt etwa mit ihrem Rhein-Main-Flughafen oder dem Industriepark Höchst ebenfalls tief im Boden der Realwirtschaft verankert ist. Aber ein gewisser Gegensatz bleibt.
Der wird auch in dem Ranking deutlich, das Kassel als Mekka der Zufriedenen ausweist. Der vom öffentlich-rechtlichen Lottoanbieter SKL mit der Uni Freiburg erstellte Glücksatlas berücksichtigt nicht nur harte Daten, sondern auch, wie zufrieden sich die insgesamt rund 23.000 persönlich befragten Großstädter losgelöst von den objektiven Kriterien fühlen. Kassel liegt im SKL-Glücksatlas auf dem ersten Platz, obwohl die Stadt mit Blick auf Infrastruktur, Bildung, Kultur oder Gesundheitswesen nur leicht überdurchschnittlich abschneidet. In Sachen Arbeitsmarkt und Einkommen liegt sie sogar unter dem Durchschnitt.
Gemütlicher als die Mainmetropole
Trotzdem fühlen sich die Kasseler mehrheitlich hochzufrieden, was auch für Bewohner mit wenig Geld gilt. Brodelnde Städte wie Frankfurt dagegen bieten zwar mehr hoch bezahlte Jobs oder Spitzenrestaurants, doch ziehen die Schattenseiten von Großstädten die Zufriedenheit vieler Frankfurter nach unten: Lärm durch Verkehr und Baustellen, teure Mieten, hohe Preise, Kontraste zwischen Armen und Reichen sowie Kriminalität.
Die beiden so gegensätzlichen hessischen Städte Kassel und Frankfurt sehen sich – anders als man meinen könnte – keineswegs als Konkurrentinnen. Das liegt daran, dass Frankfurt in einer ganz anderen Liga spielt als Kassel, was nicht nur für den Fußball gilt. Wegen der fehlenden Augenhöhe wird Kassel von Frankfurt aus nur selten wahrgenommen, während die Kasseler allenfalls ab und zu etwas neidisch auf Frankfurt schielen, wenn die Mainmetropole von sich reden macht, wie nach dem Sieg von Eintracht Frankfurt in der Europa League 2022 oder wenn mal wieder ein neuer Wolkenkratzer eröffnet wird.
Dabei müsste Kassel gar nicht so bescheiden sein, blickt die Stadt doch auf eine lange Tradition wissenschaftlicher, technologischer und kultureller Premieren und Superlative zurück, von denen sie noch heute zehren kann. Ein Rückblick im Zeitraffer: Die Ära der Erfindungen und Entdeckungen in Kassel begann 1560, als Landgraf Wilhelm „Der Weise“ auf den Balkonen seines Kasseler Schlosses die erste feste Sternwarte Mitteleuropas einrichten ließ. Die Vermessung des Weltalls von Kassel aus leistete einen wichtigen Beitrag zur Revolutionierung des Weltbildes und sorgte für technischen Fortschritt, weil die Sternenbeobachtung nicht nur gestochen scharfe Fernrohre, sondern auch minutengenaue Zeitmesser erforderte.
Kassel als „Stadt der Innovationen“
Der von Wilhelm nach Kassel geholte Schweizer Mathematiker und Ingenieur Jost Bürgi ließ in Kassel 1585 zum ersten Mal die Sekunde in einem Uhrwerk ticken und konstruierte ebenso prächtige wie präzise mechanische Himmelsgloben und Sternenkarten. Wilhelms Sohn und Nachfolger, Landgraf Moritz „Der Gelehrte“, machte Kassel zur großen Bühne, als er 1604 in der Residenzstadt das erste feste Schauspielhaus Deutschlands nach dem Vorbild der englischen Theater der Shakespearezeit bauen ließ. Das Kasseler Staatstheater kann sich daher auf die längste Tradition deutscher Bühnenhäuser berufen. Das gilt auch für das Kasseler Orchester, eines der ältesten Orchester, dessen Vergangenheit bis ins Jahr 1502 zurückreicht.
Die Liste mit Kasseler Premieren wurde immer länger: 1706 führte der von Landgraf Karl geholte Erfinder Denis Papin, ein hugenottischer Glaubensflüchtling aus Frankreich, in Kassel wegweisende Versuche mit einem Dampfkolben aus, einer Art Mutter aller Maschinen. Bevor er nach Kassel kam, hatte er schon den Schnellkochtopf erfunden. Er war als Erster auf die Idee gekommen, mit der gewaltigen Kraft des Wasserdampfs Maschinen anzutreiben.
Papin hatte noch jede Menge andere Ideen auf Lager und testete sogar ein Tauchboot in der Fulda. In Kassel eröffnete 1779 das Fridericianum als erstes deutsches Museum seine Tore für die Öffentlichkeit. Der Erbauer und Namensgeber, Landgraf Friedrich, holte seine Kunstschätze aus dem Schatten der Palastmauern ans Licht. Heute dient das Fridericianum als einer der Ausstellungsorte für die Documenta, die 1955 vom Kasseler Arnold Bode ins Leben gerufene internationale Kunstausstellung, die alle fünf Jahre stattfindet.
Nicht nur die legendären Landgrafen brachten Kassel nach vorn. Im Jahr 1831 trotzten die freiheitlich gesinnten Kasseler Bürger ihrem Landesherren eine liberale Musterverfassung ab, eine der damals modernsten Europas. Das war, 17 Jahre bevor in Frankfurt 1848 das erste deutsche Parlament tagte.
Das Lustschlösschen und die Sternwarte
Von solchen Glanzpunkten hört man selten, wenn in Hessen oder der Welt von Kassel die Rede ist. Stattdessen prägen Bausünden, Waschbärenplagen und Documenta-Skandale das Image der Stadt. Einer, der sich für einen vollständigeren Blick einsetzt, ist Jürgen Fischer, Vorsitzender des Kasseler Geschichtsvereins. „Kassel ist immer wieder als Stadt der Innovationen hervorgetreten und war Anziehungspunkt für einige der größten wissenschaftlichen und technologischen Talente ihrer Zeit“, sagt Fischer.
Anfang Juli hat er unter dem Motto „Barock trifft Innovation“ eine Veranstaltung im Palais Bellevue organisiert, auf der mit Vorträgen und Vorführungen der Kasseler Erfindergeist und der kulturelle Reichtum der Stadt erlebbar wurden. Das Palais Bellevue an der Schönen Aussicht mit Blick auf den Park an den Auen der Fulda passte bestens zum Motto des Events. Denn das heute als Veranstaltungsort genutzte Anwesen diente seinem Bauherrn, Landgraf Karl, nicht nur als Stadt- und Lustschlösschen, sondern beherbergte auch eine kleine Sternwarte. Der Barockfürst Karl knüpfte damit bewusst an die von seinem Vorfahren Wilhelm IV. begründete astronomische Vorreiterrolle Kassels an, wie der Wissenschaftler Karsten Gaulke in seinem Vortrag erläuterte.
Das astronomisch-technische Spitzenniveau der Zeit von Wilhelm dem Weisen und Bürgi konnte Karl zwar nicht halten, dafür trat Kassel in anderen Disziplinen nach vorn, etwa mit dem Familienunternehmen Henschel, das im 19. Jahrhundert zu einem großen europäischen Eisenbahnhersteller aufstieg. Karls Schützling Papin war es, der mit seiner Dampfforschung wichtige Grundlagen für das Eisenbahnzeitalter und die Industrialisierung gelegt hatte.
Standort für Wissenschaft und Technologie
Auch nachdem Henschel im 20. Jahrhundert seine Eigenständigkeit verloren hatte, brachte der Kasseler Eisenbahnbau immer noch Innovationen aufs Gleis – etwa den superschnellen Schwebezug Transrapid, der in Deutschland nicht zum Durchbruch gelangte, dafür aber Anfang der Zweitausenderjahre nach Shanghai geliefert wurde. Zudem lag Kassel mit Technologien rund um erneuerbare Energien schon weit vorn, bevor sich die Nachhaltigkeit als gesellschaftliches und wirtschaftliches Großthema etablierte.
So gründete der Ingenieur Werner Kleinkauf als Professor für Elektrotechnik an der Universität Kassel die heutige SMA Solar Technology. Das Unternehmen mit Sitz in Niestetal vor den Toren Kassels ging nach einem starken Wachstum 2008 in Frankfurt an die Börse und notiert im Technologieindex Tec-Dax. SMA hat viele Höhen und Tiefen des Kapitalmarkts und der Globalisierung durchlebt und trotz aller Turbulenzen einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, die erneuerbaren Energien alltagstauglich und erschwinglich zu machen. Auch das Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik in Kassel steht für den Ansatz, das Problem der knappen Ressourcen technologisch anzugehen statt ideologisch.
Von seinen wissenschaftlichen, technologischen und kulturellen Wurzeln kann Kassel bis heute zehren. Doch das Bewusstsein für diese Wurzeln ist bei vielen Kasselern nur schwach ausgeprägt oder gar nicht vorhanden. Für die erstaunliche Spitzenposition der Kasseler im Glücksranking werden daher andere Erklärungen herangezogen. „Es ist Kassels Vielfalt, die überzeugt“, sagte Oberbürgermeister Sven Schoeller (Die Grünen) in einer Pressemitteilung. Worin besteht diese Vielfalt?
Städtisches Leben in Naturnähe
Laut Schoeller verbindet Kassel Natur und Kultur, Tradition und Innovation, Menschen und Möglichkeiten. Er lobt Kassel als eine Stadt der kurzen Wege mit einem reichen kulturellen Angebot vom Staatstheater bis zum Indie-Club, von Alten Meistern bis zur jungen Kunstszene. Auch sei der Weg ins Grüne nie weit. Der Habichtswald und die Fulda liegen vor der Haustür, und in der Nähe laden Reinhardswald, Meissner, Dörnberg, Edersee und die Diemel zur Erholung ein.
Die vom Oberbürgermeister angesprochene Vielfalt findet sich auch in den historischen Glanztaten der Kasseler. Sie spielten in den unterschiedlichsten Disziplinen wie Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Kunst. Die formal getrennten Fächer konnten sich offenbar gegenseitig bereichern, was ein wichtiger Standortfaktor ist. Mit diesem Bewusstsein wird deutlich, warum die internationale Kunstausstellung Documenta ausgerechnet in Kassel so gut aufgehoben ist: Die Kunst ist eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Sphären und vereint diese. Klingt reichlich abstrakt, ist in Kassel aber konkret gelungen. Zum Glück.
Mark Fehr ist Wirtschaftsredakteur der F.A.Z. Sein Buch „Geniestreiche aus Kassel“ ist im Verlag Frankfurter Allgemeine Buch erschienen. 176 Seiten, 20 Euro. ISBN: 978-3-96251-211-8