Heimatsound-Festival in Oberammergau: Passionstheater wird zur Partyzone – Bayern | ABC-Z

Mit dem Passionsspielort muss man erst mal warm werden. Das geht auch mit Ironie. Zum Beispiel angesichts des Holzkreuzes, an das hier alle zehn Jahre vor 500 000 Pilgern aus aller Welt ein Jesus-Darsteller gehängt wird. Jetzt lagert das Trum mahnend in einen Raum hinter den Kulissen des Passionstheaters. Eine Musikerin in schrill-pinkem Bühnendress wird etwas neckisch gefragt, ob sie das Kreuz heute schon drei Mal ums Haus geschleppt habe. „So war die Bedingung“, dass sie hier beim Festival spielen dürfen, antwortet Julia Viechtl, natürlich auch nicht im Ernst. Ihre beiden Mitmusikerinnen Maria Moling und Teresa Staffler vom Trio Principess, ebenfalls in kämpferischem Pink, posieren derweil auf einem Theater-Thron für eine Socialmedia-Fotografin und haben sichtlich Spaß daran. Man wird langsam warm mit diesem katholischen Ort.
Das „Heimatsound Festival“ hilft dabei. Seit 2013 bringt es bunten Trubel zwischen die Herrgottschnitzerläden. Einheimische Familien, Sportwanderer, Ausflugssenioren, Touristen aus Asien und Pop-Fans verwirbeln miteinander. Die meisten umzingeln an diesen beiden Tagen im Ortskern das Passionstheater. Wer keine Karten mehr bekommen hat, breitet seine Picknickdecke auf den Grasflächen drumherum aus, man weiß längst, durch die offenen Seitentüren wird man alles auch draußen hören.
Fan-Fest-Heiterkeit wie beim Taylor-Swift-Konzert, nur mit regionalen Leberkäs-Buden und Künstler-Treff-Ständen der Münchner Lieblingsplattenfirmen Millaphon und Trikont. Entlang der Ammer und hinterm Theater, wo Hunderte herausgeschraubte Stühle lagern, drängeln sich Wohnmobile. Eines trägt einen aufblasbaren Riesenpimmel auf dem Dach – ein untrügliches Anzeichen eigentlich, dass man sich auf einem typischen Pop-Festival befindet.
Ganz so typisch soll es aber eben gar nicht sein. Dafür kämpfen Principess, etwa mit ihrer aufblasbaren Vulva-Hüpfburg auf dem Cover ihres Debütalbums. Und natürlich ihren Songs. Die Münchnerinnen sind als Dritte am ersten Tag dran, das Publikum ist unfassbar feierwillig. Sie nutzen das, um gegen „Die Hand“, die unweigerlich irgendwann mal auf dem Hintern jeder Flinta-Person lande („Du bist doch mein Muschilein …“), anzusingen, gegen jegliche männliche Übermacht und gegen die machistische Vorstellung, Frauen seien „Hysterisch“ oder müssten sich für ihre Tage(s)timmungen entschuldigen: „Scusi“. Diese Belehrung macht aber Riesenspaß, eine Party in Pink, voller schmissigem Italo-Rock, The Doors-Georgel, „Stranger Things“-Eighties-Schrulligkeit und – was diesmal besonders heraussticht – Teresa Stafflers hinreißendem Vintage-Schmelz à la Marianne Rosenberg in der Stimme. Dass sie den alten Aufreißer-Song „Mambo No. 5“ recht schlicht „verprincipessen“ zu „Rambo No. 5“, kann man als Notwehr durchgehen lassen.
Wenn man an diesem ersten Heimatsound-Tag etwas bemängeln könnte, dann, dass Principess so ziemlich allein als Frauen auf dieser immens breiten Bühne stehen. Das wird am zweiten Tag besser werden, wo Moop Mama mit Alice eine Rapperin vorschicken, wo beim vom Burgenland bis in die USA erfolgreichen Duo Cari Cari Stephanie Widmer singt, wo mit Amy Warning und Vandalisbn weitere starke weibliche Stimmen zu hören sind. Gut, der erste Tag ist hauptsächlich für die Boys – aber das hier sind ja die Guten, von den Garmischer Reggae-Burschen Irie Fambli („We’re fighting for humanity“) bis zu den Münchner Reggae-Entertainern Jamaram und dem jung-sentimentalen, sich mit großen Gesten nach dem Süden und dem guten Leben sehnenden Chansonnier Florian Paul und seiner Kapelle der letzten Hoffnung.
Sie alle sollen eine Haltung mitbringen. Darauf achten beim Engagieren der Künstler Till Hoffmann vom Lustspielhaus und Ex-Jesus-Darsteller Frederick Mayet vom Volkstheater. Heimat, ja, die steckt auch irgendwie drin, weil man dem Festival nun mal vor Jahren das vom Radiopartner Bayern 2 ausgetüftelte Vermarktungsetikett „Heimatsound“ aufgepappt hat, das seinen Zweck längst erfüllt hat, sich aber heute nicht mehr abknibbeln lässt.
So reisen Bands von Wien bis Nürnberg an. Von dort stammen Schrödingers Taube. Deren Anti-Handy-Song „Ciao Ciao“ hat ihnen im B2-Hörerwettbewerb den Eröffnungsauftritt beschert. Auch die Neo-Punker fremdeln zunächst etwas mit dem Kreuz überm Haupteingang: Schon seltsam, der Ort, „und wir singen hier einen Song gegen die Deutsche Bank“. Aber genau diese Fun-Pöbeleien mit „Sierra Madre“-Trompeten und ungestümen Parolen („Höhere Erbschaftssteuer!“) braucht es hier. Und dann – wo sonst Jesus vom Volk sterben gelassen wird – wiegeln sie zum „Wall of Death“-Tanz gegen die Faschisten und die Gleichgültigen auf, das hat schon was.
Nach dem Gen-Z-Charmebolzen Rian spielt der Nino aus Wien den Saal heldenhaft halb leer
Das Kontrastprogramm dazu gibt zur Primetime des ersten Tages der Kärntner Florian Gruber, besser bekannt als Rian, mit seiner gänzlich unpolitischen Partypumpe. Mit Sprüchen wie „Ich bin ein Frechdachs“ zwinkert er den Mädels zu, viele zwinkern zurück, ja, „es läuft grad ziemlich gut mit Happy-Sein“, singt er. Der Gen-Z-Charmebolzen im weißen Unterhemd fantasiert übers Altwerden („absolut keine Probleme, in der Bauchtasche meine Zähne“), er besingt in seinem Radio-Hit eskalierende Verwandtschaftstreffen (auf denen Verschwörungstheoretiker nerven, aber schon irgendwie dazugehören) und meckert auch mal fünf Strophen lang wie eine „fiese Ziege auf der Wiese“.
Das ist so doof, das muss man sich erst mal trauen. Brachte ihm aber 50 Millionen Klicks. Und kommt beatreich rausgeballert alles irre an bei den Drei- bis 80-Jährigen im Publikum (tatsächlich ergibt Rians Kurzumfrage: Die meisten hier sind in den 60er- und 70ern geboren, was angesichts einer Fülle an melierten Ur-Surfer- und Snowboarder-Typen in der Stadt nicht verwundert). Jedenfalls: Das Publikum eskaliert; Kinder und Jugendliche stehen nachher am Hintereingang Schlange um Autogramme.
Hübsch, harmlos, ein Hype. Man wundert sich nur, dass Rian laut Amadeus-Award der „beste Singer-Songwriter 2024“ in Österreich sein soll. Gibt es da nicht tiefsinnigere Typen wie den Nino aus Wien? Der „Bob Dylan vom Praterstern“, der Posterboy des Wiener Liedes spielt nach Rian mit seinen sentimentalen Befindlichkeitsschauen heldenhaft den Saal halb leer. Solche Grantler-Poesie kann man schon feiern. Zum Teil auch mal kritisieren, etwa das Stück „Schnackerl“. Darin wird Ninos Ex jedes Mal vom Schluckauf geplagt, wenn er an sie denkt – männliche Übergriffigkeit eben bis zum Nicht-verlassen-werden-können.
Jetzt könnte man auch den acht Jungs von Jamaram den – naturgegebenen – männlichen Blick vorhalten. So beklagt ihr Song „#jungle“ die Einsamkeit und Handy-Sucht im Großstadt-Urwald – natürlich am Beispiel einer erkalteten Frau. Aber das wäre unfair: Heuer schon 25 Jahre als Reggae-Wanderzirkus unterwegs, schaffen es die Band-Gründer Tom Lugo, Sam Hopf, Murxen Alberti und ihre Truppe mit – poppig angeeigneten – Sehnsuchts- und Party-Sounds von Jamaika über Kuba bis Pan-Afrika, Menschen in fröhlichster Laune zu verbinden. Das tun sie etwa in „Green Leaf“, ihrer „Ode an das Leben“. In einem Happy-Hop werden alle Gäste in einem Animationstanz zu sich wiegenden Bäumen. Und Jamaram holen gut 50 Zuschauer jeden Alters, Geschlechts und Temperaments zu sich herauf, drücken ihnen goldene Pompons in die Hand und lassen sie freidrehen. Da fällt einem auf: So eine bunte Truppe hat hier im ehrwürdigen Passionstheater wohl noch nie auf der Bühne gestanden.