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Talent Justin Engel im Tennis: Auf den Spuren der Größten – Sport | ABC-Z

Es gibt ein paar Videoschnipsel aus Almaty, der Hauptstadt von Kasachstan, aufgenommen am vergangenen Montag. Der junge Mann darauf trägt ein blau-schwarzes Achselshirt, blaue Hose, weiße Schuhe, ein weißes Basecap – und ein Goldkettchen. Er scheucht seinen Gegner (kein Basecap, kein Goldkettchen) über den blauen Hallenboden, mal mit einer peitschenden Vorhand, mal mit seiner außergewöhnlichen Rückhand, mal mit einem frechen Stopp-Ball. Auch sein Aufschlag ist, soweit man das beurteilen kann nach Ansicht der Schnipsel, eine Waffe.

Manchmal spielte Justin Engel noch ein wenig ungestüm, er rannte dann ohne Not ans Netz und bekam dann den Ball von Coleman Wong aus Hongkong, seinem Gegner, immerhin 133. der Welt, um die Ohren geschlagen. Aber am Ende breitete der Nürnberger Engel, 17 Jahre jung, Rang 458, seine Arme aus. Er hatte den mehr als 300 Plätze besser notierten Wong in der ersten Runde mit 7:5 und 6:4 geschlagen. Das allein ist schon eine Besonderheit, die aber noch besonderer wird, weil es Engels erstes gewonnenes Match auf der ATP-Tour in seiner Karriere war. Und noch ein wenig besonderer, wenn man bedenkt, dass Engel nun der jüngste Sieger eines Tourmatches seit Carlos Alcaraz 2020 ist.

„Es ist unglaublich. Mit 17 ein ATP-Match zu gewinnen, ist das beste Gefühl, dass ich mir vorstellen kann. Ich habe keine Worte“, sagte Engel nach seinem kleinen Historienstück angemessen ergriffen: „Ich liebe es, hier zu spielen, deswegen habe ich gewonnen.“ Sein Vater, ein Nürnberger Unternehmer, der im Hauptjob Mietzelte mit einer Kapazität von bis zu 8000 Personen vertreibt, dürfte vor Stolz fast zerflossen sein am Spielfeldrand. Im Nebenjob ist Horst Engel ja Cheftrainer des eigenen Sohnes – und gerade vor Ort in Almaty.

Die Geschichte von Justin Engel ist eng mit seinem Vater verwoben. Horst Engel war selbst ein passionierter Tennisspieler, erfolgreich bei den Senioren, und auch einst als Trainer von Anca Barna, die es vor zwanzig Jahren mal bis auf Rang 46 der Welt geschafft hatte. „Deshalb spiele ich jetzt Tennis: Weil mein Vater dachte, ,come on, jetzt habe ich ein Kind, wir können das doch noch einmal versuchen’“, zitiert den Sohn nun die ATP-Tour-Homepage. Deshalb versuchte er, schon als Dreijähriger die Bälle übers Netz zu schieben, auch wenn dem Jungen das manchmal überhaupt keinen Spaß machte. Deshalb gab er das Kickboxen auf, das er annähernd professionell betrieb, das ihm aber zu gefährlich wurde im Hinblick auf seine Tenniskarriere. Engel verzaubert seither eher mit seinen Schlägen, als dass er welche einstecken muss.

Engel fühlt sich inzwischen „frei von der Schule, nun liegt der volle Fokus auf meiner Tenniskarriere“

Im vergangenen Jahr machte er seine Mittlere Reife, seither „bin ich frei von der Schule, nun liegt der volle Fokus auf meiner Tenniskarriere“, wie er nach dem gewonnenen ITF-Turnier in Uslar im Juli 2023 sagte. Engel siegte bei drei weiteren Wettkämpfen dieser niedrigsten Profikategorie. Bei seinem ersten Titel im Mai in Villach war er 16 Jahre und 231 Tage alt – und damit der jüngste deutsche Sieger bei einem solchen Turnier seit Mischa Zverev im November 2003.

Von seinem Vater ist er dabei nicht mehr ganz so abhängig, denn Engel ist auch im Nachwuchskader des Deutschen Tennis Bundes (DTB), er trainiert unter der Woche oft an der Tennisbase in Oberhaching mit Coach Lars Uebel. Nicht selten macht er Sparrings mit Philipp Kohlschreiber und Maximilian Marterer. Auch Chef-Bundestrainer Michael Kohlmann ist Engels Aufstieg nicht verborgen geblieben: „Er ist ein unglaublich harter Arbeiter, trainiert sehr viel und bleibt auch positiv, wenn er einen leichten Punkt vergeben hat – was selten ist bei Jugendlichen“, sagte Kohlmann am Dienstag der SZ: „Seine rasante Entwicklung freut mich sehr. Und ich hoffe, dass diese Alcaraz-Vergleiche ihm jetzt auch die Motivation geben, weiter hart an sich zu arbeiten.“

Alcaraz also. Engels Rückhand wird nicht selten mit jener von Alexander Zverev verglichen. Der Teenager selbst bewundert Rafael Nadal, der gerade seinen Rücktritt angekündigt hat. Mit dessen Kampfgeist und Energie könne er sich vollkommen identifizieren, sagte Engel kürzlich in einem DTB-Interview. Und bei Novak Djokovic könne er sich in Sachen Ernährung etwas abschauen. „Mit Djokovic würde ich gerne mal trainieren, um zu schauen, wie das Tempo ist und wie es ist, gegen ihn Punkte zu spielen.“

Es sind Namen, mit denen Engel da jongliert, die sich lesen wie das Who is Who der Tenniswelt.

Kohlmann weiß, wie schnell ein solcher Komet verglühen kann, wie sehr die größer werdenden Ansprüche und der steigende Druck rising stars, diese jungen Talente also, erdrücken können. Er hat schon zu viele Sternschnuppen in seinem Sport schnell vorüberziehen und verschwinden sehen. Auch deshalb ist er vorsichtig mit Prognosen, gerade bei einem 17-Jährigen, der gerade seine ersten Schritte auf der Profitour macht. „Man darf jetzt nicht erwarten, dass er nächstes Jahr unter den Top 10 ist“, sagt Kohlmann. Andererseits: „Man sollte ihm auch keine Limits setzen. Auch in den Davis-Cup schmeißt man mal gerne junge Spieler rein.“

Ein Limit setzt sich Justin Engel selbst auch erst einmal nicht. In Almaty hat er gegen Coleman Wong nervenstark neun von zehn Breakbällen abgewehrt und seinen zweiten Matchball verwandelt. Warum nun also den Mut verlieren vor seinem Achtelfinale am Mittwoch gegen den an Position vier gesetzten Weltranglisten-31. Francisco Cerundolo aus Argentinien? Es wäre abermals eine Premiere – der erste Sieg gegen einen Top-100-Spieler.

Eines steht jetzt schon fest: Seine bislang errungenen 23 840 US-Dollar Preisgeld wird er in Kasachstan fast verdoppeln – im Falle einer Niederlage gegen Cerundolo. Aber nur allzu gerne würde Justin Engel noch ein wenig in der Höhenluft von Almaty verweilen. Sie scheint ihm ziemlich gutzutun.

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