Ist der Hut oder eine Mütze im Haus respektwidrig? | ABC-Z

Neulich bei der Chorprobe fragte mich ein Mitsänger, ob man mir meine Mütze chirurgisch vom Haupt entfernt habe. Erst da bemerkte ich es selbst: Ich war obenrum blank. Zur Probe war ich mit dem Rad gekommen, und als ich den Fahrradhelm ablegte, vergaß ich, die im Rucksack verstaute Schiebermütze aufzusetzen. Schnell war mein Erscheinungsbild wieder komplettiert.
Eine Mütze trage ich fast immer. Natürlich nicht zu Hause, doch draußen auf der Straße und häufig auch drinnen: in der Kneipe, auf Partys, gelegentlich auch im Büro. Ich besitze Schiebermützen in verschiedenen Farben, wärmere für den Winter, leichtere für den Sommer. Die Mütze schützt vor Kälte und vor Hitze, vor allem aber: Ich gefalle mir damit. Jedenfalls besser als ohne. Mein Haupthaar ist leicht schütter, mit markanten Geheimratsecken, man könnte sogar sagen – und hiermit sage ich es: Ich habe eine Glatze. Vor bald dreißig Jahren rasierte ich mir erstmals den Schädel kahl, ungefähr damals kaufte ich die erste Schiebermütze. Ein Accessoire, das die Lücke füllt, wo bei anderen eine Frisur sitzt. Eine Blume in der Wüste.
Marcel Bauer, 33 und für Die Linke im Bundestag, hat volles Haar, auch er aber mag Mützen – so sehr, dass er mit einer schwarzen Baskenmütze auf dem Kopf einer Parlamentssitzung beiwohnen wollte. Gleich zweimal wurde ihm das am 15. Mai verwehrt, erst von der Parlamentspräsidentin Julia Klöckner (CDU), später von ihrer Vertreterin Andrea Lindholz (CSU), die ihn von der Sitzung ausschloss. Bauer habe die Mütze abzunehmen, so Klöckner, „weil das Gepflogenheit hier im Haus ist“. Das Machtwort gegen die Mütze unterstützten überraschende Allianzen: Bei Bauers erstem Abgang klatschten Union und AfD, beim zweiten auch Abgeordnete von SPD und Grünen, Bauers Einspruch befürwortete nur die Linke – und die AfD. Er verließ das Feld geschlagen, aber mit Mütze, und erzielte doch so etwas wie das Gegenteil eines Pyrrhussiegs: schmählich verbannt – und plötzlich bekannt.
Die Würde des Hauses
Nach seinem Ausschluss verwies Bauer auf Utensilien, welche die Würde des Hauses mehr verletzt hätten als seine Mütze, Anstecker etwa mit der rechtsfolkloristisch gekaperten Kornblume, mit denen sich ab und an AfDler schmücken. Doch welchen Vergehens hat sich Bauer eigentlich schuldig gemacht? In der Hausordnung des Bundestags heißt es sehr allgemein, die Kleidung müsse „der Würde des Hauses entsprechen“. Zur darauffolgenden Sitzung am 21. Mai erschien Bauer ohne Mütze. „Bis die rechtliche Lage zum Ermessensspielraum des Bundestagspräsidiums klarer erscheint, werde ich auf Kopfbedeckungen bei der Arbeit im Plenum verzichten“, teilte er mit – aber auch, dass die Baskenmütze für ihn zu seiner „politischen Arbeit“ gehöre.

Die Baskenmütze trugen Bauern in den Pyrenäen, französische Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg, der verklärte Comandante „Che“ Guevara, der kritische Schriftsteller Heinrich Böll; die flache Kappe mit dem neckischen Zipfel oben ist irgendwie links konnotiert, ohne symbolpolitisch so eindeutig zu sein wie etwa das Palästinensertuch. Marcel Bauer, wie mir sein Büro mitteilt, sieht sich dann auch in keiner bestimmten Traditionslinie und hat die Mütze offenbar erst kürzlich für sich entdeckt; das erste Instagram-Foto damit zeigt ihn bei einem Wahlkampftermin im Februar 2025. „Trotz Gegenwind nach links“, schreibt er. War die politisch aufgeladene Kappe für ihn ursprünglich nur ein Kälteschutz?
Anruf bei Jonathan Lösel, 36, Stilberater und Vorsitzender des Deutschen Knigge-Rats. „Die Mütze ist historisch ein funktionsrelevantes Kleidungsstück für Herren, die sich draußen vor dem Wetter schützen wollten, vor Sonne, vor Regen, vor Schmutz. In Innenräumen hat man den Hut dann abgesetzt“, erzählt er. Und das sollte man seiner Meinung nach auch weiterhin tun, sei es im Büro oder im Bundestag. „Es hat etwas mit Achtung zu tun, mit Respekt und Wertschätzung“, sagt er. Zwar würden Individualisierung und persönliches Stilempfinden immer wichtiger und die einst strengen Dresscodes zusehends entspannter: „Im beruflichen Kontext geht es aber primär um die Sache, um den Inhalt, und weniger darum, sich individuell ausdrücken zu können oder müssen.“
Zurück in die Ritterzeit
Warum aber soll ein Hut im Haus respektlos sein? Zur Beantwortung dieser Frage gehen Historiker zurück in die Ritterzeit. Mit offenem Visier, erst recht aber ohne Helm signalisierten demnach die hochgerüsteten Herren Friedfertigkeit und Vertrauen. Betrachtet man freilich, wie friedfertig und vertrauensvoll die helm- und hutlosen Bundestagsabgeordneten so miteinander umgehen, dann fragt sich, ob solche Stilregeln aus grauer Vorzeit dann nicht doch überholt sind.

Für bestimmte Berufsgruppen gelten sie ohnehin nicht, und zwar für die Künstler und Kreativschaffenden. Für viele von ihnen – und mit sehr viel Wohlwollen ließen sich Politiker und Journalisten dazuzählen – ist die Mütze untrennbarer Teil ihrer Marke. Otto Waalkes versteckt seine immer dünnere friesische Frise unterm Ottifantenkäppi. Gerry Friedle alias DJ Ötzi sagt über seine Häkelmütze: „Sie ist einfach alles! Mit ihr bin ich der DJ Ötzi – und ohne der Gerry.“ Comedian Torsten Sträter trägt „Slouch Beanie“, seit er an einem heißen Tag merkte, dass ihm damit „das Make-up und der ganze Schweiß“ nicht in die Augen floss. Popstar Mark Forster überdeckt mit seiner Baseballmütze sein „immer dünner und grauer“ werdendes Haar und hat es zu schätzen gelernt, dass er, wenn er sie doch mal absetzt, seine Anonymität zurückgewinnt. Ähnlich geht es Marc-Uwe Kling, Autor der „Känguru-Chroniken“, der mir in einem Interview über seine Schiebermütze sagte: „Wenn ich sie abnehme, werde ich unsichtbar.“
Und dann wäre da noch Udo Lindenberg, über dessen Hut und Sonnenbrille Benjamin von Stuckrad-Barre schrieb, sie könnten auch als „unveränderliche Kennzeichen“ in dessen Ausweis eingetragen werden. Sind eigentlich Sonnenbrillen im Bundestag erlaubt? In seinem Kampf gegen die kleidungstechnischen Konventionen des Bundestags könnte Marcel Bauer erst am Anfang sein.