Gesundheit

Primärarztsystem: Facharzttermine nur noch über den Hausarzt |ABC-Z

Analyse
Nur mit Überweisung zum Facharzt – ist das gut für uns?








Mit Knieschmerzen direkt zum Orthopäden – ist damit bald Schluss? Das “Primärarztsystem” soll die freie Arztwahl einschränken. Das könnte nach hinten losgehen.

Die Bundesregierung will es, die Krankenkassen wollen es, die Standesvertreter offenbar auch: ein “verbindliches Primärarztsystem”. Bis Ende der Woche diskutierten die Mediziner darüber auf dem Deutschen Ärztetag in Leipzig.

Primärarztsystem heißt: Künftig soll, wer Knieschmerzen bekommt oder eine schwere Schwindelattacke erlebt, zuerst bei seiner Hausärztin vorsprechen. Die entscheidet dann, ob wirklich eine Überweisung nötig ist oder sie das Problem selbst behandeln will. CDU und SPD sind sich im Koalitionsvertrag einig, dass nur so die Patientenströme vernünftig gesteuert und endlich Kosten im Gesundheitswesen effizient eingespart werden können.

Bisher sind Facharzttermine ohne Überweisung erlaubt

Und es stimmt ja auch: Wir Deutschen gehen zu oft zum Arzt! Fast zehnmal im Jahr schlagen wir beim Hausarzt auf, ein internationaler Spitzenwert. Jedes Mal schenkt er uns im Schnitt siebeneinhalb Minuten Zeit für die Diagnose und Beratung. Alsdann verlassen viele unzufrieden die Praxis und machen auf eigene Faust noch einen Termin bei der Orthopädin, dem Neurologen oder HNO-Arzt.

Sie buchen sich Arzttermine ohne Überweisung – sozusagen per Flatrate. Das dürfen sie, egal, was es kostet, denn so ist es in Paragraf 76 des fünften Sozialgesetzbuchs geregelt. Es gilt freie Arztwahl – und die kostet die Solidargemeinschaft viel Geld. Es herrscht ein Versorgungschaos, es werden unnötige Doppeluntersuchungen veranlasst, Gesunde mit eingebildeten Krankheiten und kleinen Wehwehchen nehmen denjenigen, die wirklich schwer krank sind, die Termine weg – weil sie es dürfen.

Die freie Arztwahl soll nun gehörig eingeschränkt werden. Vom Primärarztsystem ausgenommen sein sollen lediglich die Gynäkologie und die Augenheilkunde.

Das Primärarztsystem soll chronisch Kranke ausklammern

Wie nicht anders zu erwarten, stritten auf dem Ärztetag diejenigen, die das umsetzen sollen, wie genau es gehen soll. Der deutsche Hausärztinnen- und Hausärzteverband ist ohne Wenn und Aber für das Primärarztsystem. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die auch die Interessen der Fachärztinnen und Fachärzte im Blick hat, fordert hingegen, dass chronisch Kranke ohne Überweisung einen Facharzt aufsuchen können.

Nach Zahlen des Robert Koch-Instituts wäre das etwa die Hälfte der Deutschen im Alter ab 18 Jahren, und sicherlich ist das auch jene Hälfte, die öfter Arzttermine bucht als die Gesunden. 

Nicht zu Unrecht kontern die Hausärzte, diese Sonderregelung bringe  “ein Primärarztmodell nach dem Prinzip ‘Schweizer Käse’ hervor – mit unzähligen Ausnahmen, Schlupflöchern und alternativen Versorgungspfaden.

Und beide Parteien haben ja irgendwie recht. Wenn jemand zum Beispiel an Multipler Sklerose leidet, kann die betreuende Neurologin wahrscheinlich besser als der Hausarzt einschätzen, ob die neu aufgetretenen Kopfschmerzen einen Schub ankündigen und eine Therapieanpassung erfordern. Wenn der gleiche Patient hohen Blutdruck bekommt, könnte auch der Hausarzt die Therapie einleiten – wobei er aber wissen sollte, dass sich bestimmte Bluthochdruck-Medikamente günstiger auf den Krankheitsverlauf einer MS auswirken als andere. Patientensteuerung funktioniert nun mal nicht nach Schema F.

Hausärzte verschleppen nicht selten Diagnosen

Apropos Multiple Sklerose – sie gehört zu den chronischen Krankheiten, mit denen sich Hausärzte besonders schwertun. 2,7 Jahre vergehen durchschnittlich zwischen den ersten Symptomen und der Diagnosestellung, informiert die Deutsche Multiple-Sklerose-Gesellschaft (DMSG). Wertvolle Jahre, in denen neurologische Schäden wegen der fehlenden Therapie ungebremst voranschreiten. Das liegt laut DMSG unter anderem an wenig sensibilisierten und geschulten Hausärzten, die unspezifische Symptome wie chronische Müdigkeit und Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, Empfindungs- und Sehstörungen nicht richtig einordnen könnten.

Auch die vier Millionen Betroffenen von “Seltenen Erkrankungen” (es gibt etwa 8000 seltene Syndrome) oder die zwei Millionen von rheumatischen Erkrankungen Betroffenen haben oft monate- bis jahrelange Krankheits-Odysseen hinter sich, bei denen Hausärzte wohl nicht selten zur Verschleppung der Diagnose beigetragen haben.

Und manchmal verkennen die Generalisten selbst einfachste Krankheitsbilder – so wie kürzlich bei meinem Kollegen Helmut Broeg, der an der häufigsten Form von akut auftretenden Schwindelattacken litt. Die Verdachtsdiagnose kann man nach einfachen Tests und ohne Geräte stellen, Broeg aber wurde vom Hausarzt mit einem wirkungslosen Medikament nach Hause geschickt – und wurde ohne Überweisung bei einem HNO-Arzt vorstellig, der sein Problem schnell löste. Seine Geschichte über den “Benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel” lesen Sie hier.

Bei meiner eigenen Schwiegermutter versagte der Hausarzt bei der Therapie eines Blutmangels – auch das ist ein klassisches Krankheitsbild der Allgemeinmedizin. Nach einer Knie-OP wurde diese Anämie lebensbedrohlich, ihr Herz raste, ihr Blutdruck rauschte ab, sie war zu schwach zum Gehen. Notfallmäßig wurde sie aus der Reha-Klinik in ein Kreiskrankenhaus gebracht, wo sie Blutkonserven erhielt.

Zur Ehrenrettung muss man einwenden: Natürlich gibt es viele hervorragende Hausärzte, mein eigener zählt da übrigens dazu. Doch ihre Qualifikation variiert stark – manche waren früher “praktische Ärzte” und sind ohne jede weitere Prüfung nach einer kurzen Praxisphase im Krankenhaus in die Niederlassung gerutscht. Andere tragen zusätzlich einen Facharzttitel in Innerer Medizin oder auch noch Zusatzbezeichnungen zum Beispiel in Diabetologie oder Pulmologie.

Ein Primärarztsystem erfordert strengere Fortbildungspflichten

Wenn wir darüber reden, dass Hausärztinnen und Hausärzte künftig die “Gatekeeper” sein sollen, die entscheiden, ob Patienten zu Fachärzten dürfen oder nicht, dann sollten wir auch darüber reden, wie sie diese gigantische Aufgabe meistern können.

Ein möglicher Ansatzpunkt wäre die Fortbildungspflicht. Bisher sind Allgemeinärzte völlig frei in der Wahl der Veranstaltungen, die sie besuchen, um ihre jährlichen Fortbildungspunkte zu sammeln. Nicht selten landen sie (so wie Fachärzte natürlich auch) auf industriegesponserten Symposien mit Hotelübernachtung und gutem Essen, wo Pharmaunternehmen ihre Produkte anpreisen. Man könnte Allgemeinärzte verpflichten, sich gezielter in Themen fortzubilden, die hochrelevant für ihre tägliche Praxis sind.

Nicht beantwortet wird damit aber die drängende Frage, wie immer weniger Hausärzte ihre Lotsenfunktion im Gesundheitssystem für immer mehr Patienten wahrnehmen wollen, wenn sie zusätzlich zu denjenigen, die sie ohnehin schon betreuen, noch all jene untersuchen und diagnostizieren müssen, die ansonsten gleich zum Facharzt gegangen wären.

Die Primärversorgung der Zukunft funktioniert nur mit vielen Säulen

Ein verbindliches Primärarztsystem würde für Hausärzte rechnerisch zwischen 217 und 1944 zusätzliche Behandlungsfälle pro Jahr bedeuten, hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung errechnet. Obendrein fehlt eine effiziente Steuerung der ambulanten Praxen. Es mangelt an medizinischen Angeboten im ländlichen Raum, wo 60 Prozent der Bevölkerung wohnen. Aber auch in Großstädten tun sich Versorgungslücken auf – so sind aktuell in Berlin nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin mehr als 120 Hausarztsitze nicht besetzt. Viele Allgemeinärztinnen und -ärzte stehen kurz vor dem Ruhestand, in zehn Jahren schon werden Prognosen zufolge 11.000 Hausärzte fehlen. Die Bevölkerung aber ist dann weiter gealtert, die Zahl der chronisch Kranken gestiegen.

Nur wenn die Primärversorgung insgesamt anders aufgestellt wird, kann ein Primärarztsystem funktionieren. Dazu braucht es weitere Säulen. In skandinavischen Ländern oder auch Kanada zum Beispiel nehmen Pflegefachpersonen eine Schlüsselrolle für die Patientensteuerung in den Kommunen und Städten wahr. Sie haben sich per Studium zur Community Health Nurse weitergebildet. Ärztliche Aufgaben übernehmen können auch speziell weitergebildete Medizinische Fachangestellte (MFA) und akademisch geschulte Physician Assistants, wie es sie auch schon in einigen fortschrittlichen Hausarztpraxen gibt. 

Die Zukunft der Primärversorgung liegt in der Arbeitsteilung – sonst werden die Hausärzte an ihrer Lotsenfunktion scheitern. Und hier hat Deutschland gegenüber anderen Ländern großen Nachholbedarf, es werden zu wenig Studiengänge und Weiterbildungen für interessierte Pflegefachpersonen und MFA angeboten.

Das Primärarztsystem aber wird  kommen, und gesetzlich Versicherte müssen sich damit arrangieren. Darauf vorbereiten kann man sich nur, indem man beizeiten überprüft, ob die Hausärztin oder der Hausarzt des Vertrauens auch wirklich die Richtigen sind. Mein Kollege Helmut Broeg erkannte durch die Schwindelattacke, dass der seine offenbar wenig taugte – und suchte sich einen neuen, mit dem er sehr zufrieden ist.

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