Leben mit Krankheit – „Es gibt Tage, an denen ich jeden Blick spüre“ | ABC-Z

Berlin. Das Aussehen von Svenja Hartmann ist für viele irritierend. Wie sie mit Hasskommentaren umgeht und sich auf Instagram für Inklusion einsetzt.
Es passiert ihr jeden Tag. Svenja Hartmann ist verwunderten Blicken ausgesetzt. Manche glotzen richtig, beleidigende Kommentare lassen nicht lange auf sich warten. „Mama, guck mal. Warum sieht die Frau da so komisch im Gesicht aus?“, rufen Kinder im Supermarkt und zeigen mit dem Finger auf sie. Den Eltern sei das laute Denken ihrer Kinder oft unangenehm. „Sie packen sie und entfernen sich schnell von mir“, erzählt die 32-Jährige. „Dabei ist das genau die falsche Herangehensweise, weil keine Erklärung für das Kind folgt.“
Krankheit im Kindesalter: Keine Prognosen möglich
Svenja erkrankte im Alter von etwa vier Jahren an einer Fibrösen Dysplasie, einer gutartigen Tumorbildung des Knochens. Dabei wird normales Knochengewebe durch faserartiges Gewebe ersetzt, was zu Auftreibung und Verformungen des Kiefers führen kann. Zusätzlich erhöht die genetische Krankheit, die nicht von Eltern an ihre Kinder weitergegeben werden kann, die Bruchgefahr des Knochens. „Ganz langsam begann sich mein Gesicht zu verändern. Ich habe das selbst gar nicht wahrgenommen.“ Ihre Eltern hätten sie vorsorglich untersuchen lassen. „Als ich fünf Jahre alt war, stand die Diagnose Krebs im Raum.“
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In der Grundschulzeit entdeckten ihre Mitschüler, dass Svenja anders aussah als sie. „Wenn sich jemand über meine Krankheit lustig gemacht hat, habe ich gesagt, dass mein großes Gehirn viel Platz braucht. Dann waren sie ruhig.“ Das habe im zunehmenden Alter dann nicht mehr funktioniert, ihre Art habe ihr aber viel möglich gemacht: „Leute um mich zu versammeln, fiel mir immer leicht. Ich hatte immer viele Freunde um mich herum, die mich in Schutz genommen haben.“
„Die kritischen Jahre der Pubertät habe ich gut gemeistert“, im Alter von elf und 16 Jahren musste sie die ersten Operationen über sich ergehen lassen. In beiden wurde Gewebe abgetragen, „aber jeweils nicht sehr viel, damit die Stabilität meines Kiefers nicht gefährdet wird“. Es sei ein Teufelskreis, da das Gewebe immer nachwachse: „Eigentlich sollte es das nur bis zum Alter von 18 Jahren, was es offensichtlich bei mir nicht tut. Die Krankheit war von Anfang an unberechenbar.“ Bereits in jungen Jahren konnten ihre Ärzte nicht prognostizieren, ob und wie sich die Krankheit ausdehnen werde.
Zweite seltene Erkrankung bei Operation entdeckt
Bei einer weiteren Operation mit Anfang 20 entdeckten die Ärzte ein Riesenzellgranulom in Svenjas Mund – ebenfalls eine gutartige, tumorähnliche Gewebevermehrung. „Auch wenn es auf den ersten Blick anders erscheint, verlaufen beide Erkrankungen unabhängig voneinander“, berichtet die 32-Jährige. Dass sie gleich zwei recht seltene Erkrankungen habe, war auch für die Ärzte sehr überraschend.
Wenn das Gewebe wieder lange Zeit gewachsen ist, hat Svenja Schmerzen. Die letzte OP sei inzwischen ein paar Jahre her, für kommende hat sie sich eins vorgenommen: „Ich entscheide, wann ich mich operieren lassen will. Das wird aber nur noch passieren, wenn es gesundheitlich notwendig ist und nicht aus ästhetischen Gründen. Es stört mich nicht, ich habe ein tolles Leben und mir geht gut.“ Diese Stärke sei nicht immer einfach so abrufbar: „Natürlich gibt es Tage, an denen ich jeden der Blicke spüre“.
Über Krankheiten zu sprechen und andere dafür zu sensibilisieren, dass Andersartigkeit etwas ganz Normales innerhalb unserer Gesellschaft ist – das hat sich Svenja zu ihrer Herzensaufgabe gemacht. Auf ihrer Internetseite gibt sie schon seit Jahren Einblicke in ihr Leben, auf Instagram findet man sie seit wenigen Wochen unter dem Namen „alltagspoetin_“ – und das bereits mit einer Millionenreichweite. Als „Aktivistin für Inklusion“ gibt sie Einblicke in ihren Alltag und möchte „Menschen Mut machen, die unsicher sind und an sich zweifeln und ihnen zeigen, dass sie alle schön sind, wie sie sind“.
Im Internet und auf der Straße: Hasskommentare von Jung und Alt
Vor Hasskommentaren sei man weder im Netz, noch in der realen Welt sicher: „Es passiert in der Stadt oder beim Spazierengehen am See. Von Jung und Alt höre ich manchmal sowas wie ‚Wie kann man denn so hässlich sein‘ oder ‚Was ist mit Ihnen passiert? Schon mal an eine OP gedacht?‘“ Die 32-Jährige hat viel darüber nachgedacht, wie ihre Gedanken aufgenommen werden: „Es hat mich zuerst verängstigt, weil über Nacht zehntausende Leute meine Videos geschaut haben. Man trägt ja auch Verantwortung, für das, was man sagt.“
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In einem Video zeigt Svenja Bilder aus ihrer Kindheit, in einem anderen spricht sie oft gehörte Beleidigungen direkt an. Ganz besonders ist für sie aber eine Aufnahme, in dem man ihren Sohn hört. Die Frage, ob seine Mama normal sei, bejaht er – die, ob seine Mama anders als andere Mamas sei, verneint er. „Die Kinder von meinen Freunden haben nie infrage gestellt, ob etwas an mir anders ist. Für sie bin ich normal, für sie bin ich einfach Svenja“, das sei das positive Ergebnis, wenn man offen mit Kindern spreche.
Wie es auf Instagram weiter gehe, „sehen wir dann. Ich freue mich über die vielen schönen Kommentare.“ Ein gut gemeinter von ihnen sei ‚Du bist ja trotzdem hübsch‘, „daraus lese ich, dass ich noch viel zu tun habe“. Zu sagen hat Svenja auch außerhalb der virtuellen Welt viel. Vor ein paar Wochen hat sie sich in Hamburg als Stand-up-Comedian ausprobiert: „Herzhaft lachende Menschen erfüllen mich sehr. Ich möchte nicht nur für meine Erkrankung wahrgenommen werden, denn hinter mir steckt noch viel mehr.“