Geopolitik

Pekings Macht: „Die chinesische Regierung sieht den Westen als im Abstieg begriffen“ | ABC-Z

Früher wurde China romantisiert – heute wird es dämonisiert. Beides sei falsch, sagt die Sinologin Marina Rudyak. Die Deutschen müssen mehr über eine Nation lernen, die sich als führende Zivilisation sieht. Und den Westen längst abgeschrieben hat.

In ihrem Buch „Dialog mit dem Drachen – Wie uns strategische Empathie gegenüber China stärken kann“ analysiert die Sinologin Marina Rudyak, wie China sich selbst sieht und welche strategischen Ziele es verfolgt. Und sie erklärt, warum viele Begriffe, die in Berlin und Brüssel selbstverständlich erscheinen, in Peking eine ganz andere Bedeutung haben. Rudyak gehört zu den Initiatorinnen der Plattform Decoding China, die zentrale politische Begriffe aus Pekings Perspektive erklärt – und in China inzwischen zensiert ist.

WELT: Sie haben lange in China gelebt. Wie unterscheidet sich das deutsche China-Bild vom Leben vor Ort?

Marina Rudyak: In Deutschland erscheint China oft sehr eindimensional – als monolithisch, top-down organisiert, gleichgeschaltet. Es herrscht der Eindruck, als seien alle mit der Regierungslinie einverstanden und als gebe es keine Kritik. In China ist das ganz anders. Es gibt ein Sprichwort: „Der Himmel ist hoch und der Kaiser ist weit.“ Die Regierung ist wie das Wetter – man kann sie nicht ändern, also arrangiert man sich mit ihr. Im Alltag äußern sich viele durchaus kritisch, Taxifahrer etwa schimpfen offen über die Regierung.

WELT: Auch in Ihrem Buch schreiben Sie, dass man sich in China oft mehr durchwursteln kann, als es von außen wirkt.

Rudyak: Genau. Selbst am Platz des Himmlischen Friedens kommt man – mit etwas Improvisation – erstaunlich weit. Offiziell braucht man Wochen im Voraus ein Ticket, doch dann winkt einen der Wachmann plötzlich durch – bis zur nächsten Schranke. Das beschreibt gut, wie viele Dinge in China funktionieren: nicht so starr, wie man vermuten würde.

WELT: Sie fordern mehr „strategische Empathie“ im Umgang mit China. Was meinen Sie damit?

Rudyak: „Strategische Empathie“ heißt: Verstehen, warum das Gegenüber so handelt, wie es handelt. Es geht darum, Handlungslogiken zu durchdringen – inklusive Ideologien, Narrative, Geschichte. Der Begriff stammt von Zachary Shore und wurde von Trumps ehemaligen Sicherheitsberater H. R. McMaster als Gegenentwurf zum „strategischen Narzissmus“ aufgenommen – also der Annahme, andere handelten wie wir. Wichtig dabei ist: Empathie ist nicht Sympathie. Verstehen heißt nicht gutheißen.

WELT: Sie schreiben, China sei nicht „aufgestiegen“, sondern „zurückgekehrt“. Warum ist dieses Selbstbild so zentral?

Rudyak: Weil es erklärt, warum China globale Gestaltungsmacht beansprucht. Aus chinesischer Sicht war man über Jahrhunderte eine führende Zivilisation. Nur im 20. Jahrhundert fiel China zurück – durch westliche und japanische Interventionen. In China bezeichnet man den Aufstieg auf Mandarin als „Fuxing“ – also Renaissance beziehungsweise Wiederbelebung. Ziel ist, den einstigen Platz im Zentrum der Weltordnung zurückzuerlangen.

WELT: Warum fällt es Deutschland so schwer, differenziert über China zu sprechen?

Rudyak: Zum einen wegen mangelnder Sprachkenntnisse. Nur ein Bruchteil chinesischer Inhalte ist übersetzt – oft durch staatliche Stellen. Zum anderen haben wir kaum China-Kompetenz im Bildungssystem. Nur rund 5000 Schüler in ganz Deutschland lernen Chinesisch, aber 500.000 Latein. Hinzu kommt ein starkes Schwarz-Weiß-Denken: Früher wurde China als „exotisch“ romantisiert – heute dämonisiert. Beides verhindert eine differenzierte Auseinandersetzung.

WELT: Wie lässt sich China-Kompetenz in Deutschland stärken?

Rudyak: Es braucht Maßnahmen auf Bundesebene. China ist ein geopolitisches Thema – das kann man nicht nur den Ländern überlassen. Wir brauchen mehr Lehrstühle, mehr China-Zentren, mehr Chinesisch-Unterricht – und die Lehrkräfte dazu. Außerdem sollte China in politische, wirtschaftliche, technologische Studiengänge und in Schulcurricula integriert werden. Und: Es fehlt an Ausbildung für Übersetzung und Dolmetschen – es gibt derzeit keinen einzigen Studiengang für chinesischsprachige Dolmetscher in Deutschland.

WELT: Es gibt aber auch die Sorge, dass chinesische Muttersprachler in Deutschland die offizielle Linie vertreten könnten.

Rudyak: Diese Sorge höre ich oft, sehe sie in der Praxis aber kaum bestätigt. In der Sprachausbildung zeigt sich das nicht. Was fehlt, ist vielmehr systematische Dolmetscher-Ausbildung für deutsche Muttersprachler – auch aus sicherheitspolitischen Gründen.

WELT: Wie sieht China den Westen?

Rudyak: Die chinesische Regierung sieht den Westen als im Abstieg begriffen – zugleich aber als potenzielle Gefahr, etwa durch Bündnisse wie die Nato. China baut weltweit Partnerschaften auf, um geopolitische Spielräume zu sichern. Die Welt gilt als unruhig und fragmentiert – China inszeniert sich dagegen als rationaler, stabiler Akteur.

WELT: Zum Beispiel im Vergleich zu Trump?

Rudyak: Absolut. Die Trump-Regierung ermöglicht es China, sich als Stimme der Vernunft zu präsentieren. Ein aktuelles Beispiel ist das Erdbeben in Thailand und Myanmar – während die USA zögerten, war China schnell mit Hilfslieferungen vor Ort. Auch Strafzölle könnten China am Ende nutzen, etwa durch technologische Eigenständigkeit. Die Innovationskraft ist enorm – nicht zuletzt wegen des riesigen Talentpools.

WELT: Wie steht China zu Russland?

Rudyak: Die Partnerschaft ist keine Allianz, aber eine strategische Zweckgemeinschaft, gewachsen aus gemeinsamer Ablehnung westlicher Dominanz und der Notwendigkeit, eine 4000 Kilometer lange Grenze zu managen. Auch wenn sich China zum Ukraine-Krieg in „prorussischer Neutralität“ positioniert, ist in Peking klar: Der Krieg wird nicht gutgeheißen.

WELT: China präsentiert sich als Partner des sogenannten Globalen Südens. Ist das neu?

Rudyak: Keineswegs. Die Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika reicht zurück bis in die 1950er-Jahre. China bedient das Narrativ, dass es Afrika geholfen habe – selbst als es noch arm war. Und: Afrika half China 1971, den UN-Sitz zu bekommen. Auf solchen historischen Verflechtungen baut China noch heute auf.

WELT: In Deutschland herrscht Konsens, dass „Wandel durch Handel“ gescheitert sei. Sie sehen das anders – warum?

Rudyak: Es kommt darauf an, was man unter Wandel versteht. Wenn man Demokratie nach westlichem Vorbild erwartet hat – ja, dieser Wandel blieb aus. Aber es gab viele graduelle Veränderungen: im Arbeitsrecht, Zivilrecht, bei der Möglichkeit zu klagen. Gerade der deutsche Einfluss im juristischen Bereich ist groß. Diese Veränderungen schaffen Freiräume, die langfristig gesellschaftlichen Wandel ermöglichen.

Christina zur Nedden ist China- und Asienkorrespondentin. Seit 2020 berichtet sie im Auftrag von WELT aus Ost- und Südostasien.

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