Musikprojekt: Grafing hat ein Sinfonieorchester für alle Generationen – Ebersberg | ABC-Z

Fragt man Marie Sieben, in welchem Alter sie zum „GJO“ kam, sagt sie „mit drei Wochen“ und grinst. Das stimmt natürlich nicht wirklich, aber ganz falsch ist es auch nicht. Schon als Neugeborene war Marie nämlich beim Weihnachtskonzert des Grafinger Sinfonieorchesters dabei. Auf dem Schoß der Oma, denn der Rest der Familie saß mit Streichinstrumenten in den Händen auf der Bühne.
Heute ist Marie zehn Jahre alt und damit das jüngste Orchestermitglied. Am anderen Ende der Skala steht Franz Mlnarschek, 87 Jahre alt. Dazwischen tummeln sich Teenies, junge und etwas ältere Erwachsene sowie rüstige Rentner, insgesamt etwa 90 Musikerinnen und Musiker. Sie alle zusammen werden Ende Juni wieder den Alten Speicher in Ebersberg zum Beben bringen, und zwar mit einem Jahreskonzert, das sich um musikalische Grenzen nicht schert. Zu hören gibt es Klassik, Pop und viele Genres dazwischen. Zu den Highlights gehören Werke von Dimitri Schostakowitsch, John Williams, Dua Lipa, Leroy Anderson, Johann Strauss und Max Raabe.
Doch wie kam es überhaupt zu einer derart heterogenen Besetzung, die in der Kulturlandschaft im Großraum München ihresgleichen sucht? Und wie gelingt es, daraus einen homogenen Klangkörper zu formen? Haben Alt und Jung nicht ganz unterschiedliche Bedürfnisse? Um darauf Antworten zu geben, haben sich drei Menschen im Musiksaal des Grafinger Gymnasiums eingefunden, dort, wo einst alles begann: Orchesterleiterin Hedwig Gruber, die zehnjährige Geigerin Marie Sieben und der 87-jährige Bratscher Franz Mlnarschik.
Vor gut 20 Jahren bekam Musiklehrerin Gruber vom damaligen Direktor des Gymnasiums den Auftrag, ein Schulorchester zu gründen. Doch mit den üblichen Grenzen eines solchen hielt sich die energische Grafingerin nicht lange auf. „Ich habe bald eine sehr offene Aufnahmepolitik betrieben“, sagt Gruber und grinst schelmisch. Neben Schülerinnen und Schülern holte sie nicht nur Kolleginnen und Kollegen mit ins sinfonische Boot, sondern auch Geschwister, Eltern und irgendwann sogar externe Interessierte.
Mit Erfolg. Das Ensemble, das bis heute offiziell „Grafinger Jugendorchester“ heißt, gedieh vorbildlich, sein Niveau wurde weit über Grafing hinaus bekannt und geschätzt. Doch dann, nach etwa zehn erfolgreichen Jahren, wechselte die Schulleitung – und die bunte Besetzung des Ensembles war am Gymnasium nicht mehr erwünscht. „Das war unsere erste Krise“, sagt Gruber, „eine ganz schwere Entscheidung.“ Das Erfolgskonzept aufgeben und bleiben? Oder auf eigene Faust weitermachen? Die Orchesterfamilie votierte für Zweiteres und agiert seitdem als eigenständiger Verein.
Es folgten einige komplizierte, heimatlose Jahre mit vielen Ortswechseln, die nun glücklicherweise beendet sind: Dank einer neuen Schulleitung können die Proben wieder im Gymnasium stattfinden. Dass der Name „Grafinger Jugendorchester“ schon lange nicht mehr ganz treffend ist, führe regelmäßig zu Diskussionen, sagt Gruber. „Aber eine Änderung wäre sehr kompliziert, deswegen verwenden wir jetzt einfach hauptsächlich die Abkürzung GJO – und die steht eben für ein Orchester aus Jungen und Junggebliebenen.“

Rentner Franz Mlnarscheck zum Beispiel fühlt sich im Gymnasium wie zu Hause, immerhin lehrte er hier selbst einst Musik. Er habe mitbekommen, wie das Projekt gewachsen sei, deshalb empfinde er das Zusammenwirken der Generationen als ganz selbstverständlich, sagt er. Was nicht bedeutet, dass der 87-Jährige die Vielfalt nicht zu schätzen wüsste. „Man fühlt sich 20 Jahre jünger, mindestens“, sagt der Bratscher. „Das genieße ich sehr.“
Seine junge Geigenkollegin Marie Sieben ist vor allem fasziniert von den großen Konzerten mit „tollen Spezialeffekten“, aber auch sie schwärmt vom Orchester als einer „großen Familie, in der jeder jedem hilft“. Was aber nicht bedeute, dass die Älteren die Jüngeren belehren würden oder umgekehrt, erklärt Mlnarschek, ganz im Gegenteil. „Besserwisser werden bei uns sofort eingenordet“, bringt es Hedwig Gruber lachend auf den Punkt.

Überhaupt sei Gleichberechtigung wahrscheinlich das Geheimnis dieses bunten Sinfonieorchesters, sagt die 65-Jährige. „Wir begegnen uns alle auf Augenhöhe. Alter, Herkunft, Beruf: Das ist alles egal. Sogar Neuzugänge gehören sofort einfach dazu.“ Vor allem sie als Chefin bemühe sich sehr, „jeden so zu nehmen, wie er ist“ und alle ins Boot zu holen. Denn letztlich sei das Gemeinschaftserlebnis viel wichtiger als Perfektion. „Unser Motto lautet: Zamhelfen. So haben wir schon einige Krisen gut überstanden.“
Doch ist es wirklich so einfach? Wie so oft steckt der Teufel im Detail. Zum Beispiel in den unterschiedlichen Geschmäckern, denn natürlich bevorzugt der eine eher Songs im opulenten Big-Band-Sound, die andere mag es lieber klassisch-schlicht und wieder ein anderer steht vor allem auf flotten Groove. Wie da alle zufriedenstellen? Jeder und jede dürfe sich Titel wünschen, erklärt Gruber. Sie selbst prüfe dann, was musikalisch umsetzbar sei, und versuche, mögliche Kritiker vom jeweiligen Stück zu überzeugen. „Aber wenn das nicht ganz gelingt, ist das auch okay, dann kommen die halt beim nächsten auf ihre Kosten.“
Weil die Mitglieder „keinen gemeinsamen Lebensrhythmus“ haben, sind verbindliche Proben quasi nicht möglich
Das Problem der teils unterschiedlichen Fertigkeiten am Instrument wiederum wird laut Gruber aufgefangen durch eigens geschriebene, maßgeschneiderte Arrangements – und sensible Musikanten. „Wenn ich mit einer Stelle noch nicht ganz zurechtkomme“, erklärt Marie, „dann lasse ich sie in der Probe lieber weg, als falsch zu spielen.“ Als Preisträgerin des Wettbewerbs „Jugend musiziert“ habe die Zehnjährige aber kaum Schwierigkeiten, lobt Gruber. „Sie ist ein Phänomen.“
Als große Besonderheit nennt die Chefin zudem die höchst flexible Probenarbeit des Orchesters, die ebenfalls seiner heterogenen Besetzung geschuldet sei: Schüler, Studenten, Berufstätige und Rentner hätten nun mal „keinen gemeinsamen Lebensrhythmus“, weswegen verbindliche gemeinsame Proben quasi unmöglich seien. Vor allem die ehemaligen Gymnasiasten habe es inzwischen in sämtliche Himmelsrichtungen verschlagen. „Also herrscht bei uns die totale Eigenverantwortung – und das heißt eben oft: coming home for concert.“ Bisher habe dieses freiheitliche Konzept immer sehr gut funktioniert.

Und auch für ihre Probenarbeit hat Gruber eine Lösung gefunden, um alle Generationen gleichermaßen anzusprechen: Anstatt mit Fachbegriffen um sich zu werfen, setzt sie auf Fantasie, um ihre musikalischen Vorstellungen zu vermitteln. „Ich spreche viel in Bildern, erzähle Geschichten“, sagt die Dirigentin. Letztens habe sie zum Beispiel eine langsam sinkende Wasserleiche erfunden, um ein schwebendes Schaukeln zu veranschaulichen, ein anderes Mal habe sie die Luftblasen im Aquarium von Filmfisch „Nemo“ bemüht, um rhythmische Überlagerungen zu erklären.
„Sehr wichtig ist mir nämlich auch, dass es in den Proben immer was zu lachen gibt“, sagt Gruber, „und dass wir es schaffen, unsere Freude an der Musik dann auch über die Bühnenkante zu bringen.“ Und das scheint sehr gut zu funktionieren: Nach jedem Konzert gebe es „x Neuanmeldungen“, von Schülern, Rentnern und Menschen zwischendrin.
Jahreskonzerte des GJO im Alten Speicher Ebersberg: Gespielt wird am Sonntag, 29. Juni, von 16 Uhr an, am Montag, Dienstag und Mittwoch, 30. Juni sowie 1. und 2. Juli, jeweils von 19.30 Uhr an. Karten gibt es online oder telefonisch unter 08092/255 92 05.