Regierungskrise in Paris: Was für Macron und Merz aus dem Lecornu-Rücktritt folgt | ABC-Z

Wenn technologische und geopolitische Schocks auf eine Wirtschaft und Gesellschaft treffen, die am Altvertrauten hängt, vergangenen Glanz beschwört und Veränderungen scheut, können auch große Nationen scheitern. Sie scheitern nicht von heute auf morgen und nicht zwingend spektakulär. Sie gehen oft langsam in ihrer Unfähigkeit nieder, Antworten auf die Themen ihrer Zeit zu finden.
Der Präsident der Vereinigten Staaten redet nicht nur permanent, er handelt auch permanent. Vieles von dem, was Donald Trump sagt und tut, erscheint aus gutem Grund anstößig, kurzatmig, widersprüchlich oder kontraproduktiv. Aber er hat erkannt, wie sehr in Zeiten des Wandels Tätigkeit das Gebot der Stunde ist – und nicht alles, was er ins Werk setzt, verlangt nach Skandalisierung oder Faschismusverdacht.
Am 3. Oktober trafen sich in Saarbrücken ein französischer Staatspräsident und ein deutscher Bundeskanzler, die Macher sein müssten, es in ihren Ländern aber nicht sind. Ein in seiner Bevölkerung höchst unpopulärer Emmanuel Macron blickt zunehmend hilflos auf eine politische Konstellation, die seit zwei Jahren keine stabile Regierungsbildung zulässt, und auf ein Land, das seine Zukunftsfragen selten erörtert. Der jüngste Versuch einer Regierungsbildung ist nach weniger als einem Monat gescheitert; der Macron politisch nahestehende Premierminister Sébastien Lecornu hat am Montagvormittag seinen Rücktritt eingereicht.
Vertraute Wertschöpfungsgiganten liefern nicht mehr wie bislang
Allein wegen seiner ausufernden Staatsverschuldung benötigt Frankreich jedoch so rasch wie möglich eine handlungsfähige Regierung. Die Idee, in der Auseinandersetzung mit politischen Extremen müsse die politische Mitte zusammenhalten, findet in Frankreich keine ausreichende Unterstützung, wo die Partikularinteressen von Vorsitzenden von Kleinparteien über das nationale Interesse hinausreichen. In Deutschland verlangt Friedrich Merz derweil, an der Spitze einer in Kommunikation und Regierungshandwerk unstetigen Exekutive stehend, mehr Zuversicht von einem Land, das lieber die Frage diskutiert, welche Wörter man öffentlich gebrauchen darf, als sich in weitaus drängendere Themen zu vertiefen.
Seit mehreren Jahrhunderten hat sich der technische Fortschritt als die größte veränderliche Kraft in der Menschheitsgeschichte erwiesen. Trifft er auf eine alternde und strukturkonservative Bevölkerung, die keine Endlichkeit früherer Erfolge und Modelle akzeptiert, entsteht wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Unrast. Schon vor Jahren hatten Ökonomen für das Hochlohnland Deutschland einen Anpassungsdruck für seine aus dem 19. Jahrhundert stammenden Industrien vorausgesagt.
Heute kämpft das Land materiell, aber fast mehr noch psychologisch mit der Erkenntnis, dass vertraute Wertschöpfungsgiganten etwa aus der Fahrzeug- oder der Chemieindustrie ihren Höhepunkt zumindest in der Heimatfertigung überschritten haben. Ein vor allem durch hohe Arbeitskosten bedingter Niedergang seiner Industrie hat Frankreich schon vor Jahrzehnten erfasst, ohne dass ein Gegensteuern gelang.
In modernen Wirtschaftszweigen, der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz, sind Deutschland und Frankreich nicht so blank, wie es oberflächlich erscheinen mag. Aber wie der Rest Europas hinken Deutschland und Frankreich den Vereinigten Staaten und zunehmend auch China hinterher.
Wenn Demokratiemüdigkeit droht
Merz hat ja recht: Eine Regierung allein kann es nicht schaffen, die Bevölkerung muss mitziehen. Dafür fehlt jedoch die Zuversicht. Sowohl der technische Fortschritt als auch der demographische Wandel als zweites Großthema der Epoche verlangen nicht nur nach der Verteilung schuldenfinanzierter Milliarden und anderer kurzfristiger Aushilfen. Auch bleibt Merz ein spätes Opfer des Politikstils Angela Merkels, die mit ihrer Fixierung auf die jeweilige Demoskopie jene unpopulären Themen wie ausreichende Verteidigung oder rationale Energiepolitik ignorierte, die heute das Land belasten.
Umso mehr müssen heutige Regierungen auch Kontroverses thematisieren und mit ihrer Parlamentsmehrheit unpopuläre, aber notwendige Entscheidungen etwa in der Sozialpolitik treffen. Menschen lassen eher durch Mut als durch Hasenfüßigkeit mitnehmen. Bisher erweckt die Politik jedoch den Eindruck, sie trete verbal für Reformen ein, vor denen sie in der Praxis zurückscheut. Gerade in Zeiten der Verunsicherung bedarf es jedoch klarer politischer Führung, die sich den Realitäten stellt.
Wird sie zu lange vermisst, droht nicht nur Politik-, sondern auch Demokratiemüdigkeit.Das gilt für Deutschland, aber mindestens im gleichen Maße für Frankreich, wo Parteien auf der Rechten wie auf der Linken mit Macrons Rentenreform in eine Vergangenheit vor dem jüngsten Anstieg der Lebenserwartung in einer alternden Gesellschaft zurückwollen. Gerade in Zeiten der Verunsicherung bedarf es jedoch klarer politischer Führung, die sich den Realitäten stellt. Wird sie zu lange vermisst, droht nicht nur Politik-, sondern auch Demokratiemüdigkeit.
Spätere Historiker werden vielleicht von einem langen 20. Jahrhundert sprechen, das sich in Denkweisen und Attitüden ein Stück weit ins 21. Jahrhundert erstreckte, so wie heutige Historiker von einem langen 19. Jahrhundert sprechen, dessen Denkweisen und Attitüden ins 20. Jahrhundert reichten. Ein alterndes, zu unbewegliches Deutschland in einem alternden, zu unbeweglichen Europa – es bedarf keines überbordenden Pessimismus, um das Spätstadium einer Epoche zu erkennen.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Unrast existierte auch Ende des 19. Jahrhunderts in Europa, als der technische Fortschritt auf zu wenig veränderungsbereite Gesellschaften traf. Damals sprach man vom „Fin de siècle“, vom Ende eines Säkulums, in dem die Kultur des Caféhauses mit geistreichen Sprüchen eine ebenfalls unzureichende Regierungskunst glossierte. Es ging nicht gut aus.





















