Landgericht München: Prozess um Germeringer Chaos-Fahrt im Verfolgungswahn – Starnberg | ABC-Z

Kurz vor acht Uhr morgens geht bei der Rettungsleitstelle am 4. Februar 2023 ein Anruf ein. Auf der Holzbachstraße in Germering stehe ein Auto, die Fahrerin wirke verwirrt, teilt der Anrufer mit. Als Polizisten wenige Minuten später eintreffen, steht in der Straßenmitte ein VW Polo. Die Türen sind verschlossen, die Fahrerin reagiert nicht auf die Beamten. Als die Polizisten den Streifenwagen vor den Polo fahren wollen, startet die Frau ihr Auto und fährt los. Auf die Anzeige „Stopp Polizei“ reagiert sie ebenso wenig wie auf Blaulicht, Martinshorn und Lautsprecheransagen, die sie zum Anhalten auffordern.
Am Rathausplatz biegt die Frau in die Untere Bahnhofstraße ein. Als sich ein ebenfalls alarmierter Notfallsanitäter vor ihren Wagen stellt, setzt sie zurück und fährt den hinter ihr stehenden Streifenwagen an. Dann legt sie den Vorwärtsgang ein und gibt Gas: Nur mit einem Sprung zur Seite kann sich der Notfallsanitäter retten. So jedenfalls steht es in der Antragsschrift der Staatsanwaltschaft, die die Frau dauerhaft in die Psychiatrie einweisen lassen will. Bei ihrer Fahrt Richtung Geisenbrunn verursacht die Frau weitere Kollisionen mit dem ersten, einem weiteren Streifenwagen und dem Rettungswagen – laut Staatsanwaltschaft „bewusst unter Vornahme gezielter Lenkbewegungen“. Am Rettungswagen entsteht ein Schaden von knapp 12 000 Euro. Zwei Polizisten erleiden Schleudertraumata. Nachdem sie mehrere rote Ampeln überfahren hat, kann die Frau gestoppt werden. Gegen ihre Festnahme wehrt sie sich heftig.
Vor dem Münchner Landgericht muss sich die 55-Jährige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und weiterer Delikte verantworten. Wobei sie sich nicht wirklich verantworten muss: Selbst die Staatsanwaltschaft geht nämlich von Schuldunfähigkeit aufgrund einer paranoiden Schizophrenie aus und hat die Frau nicht angeklagt, sondern einen Antrag auf Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gestellt. Beim Prozessauftakt gab die Beschuldigte an, sich an den Vorfall nicht erinnern zu können. Die Frage des Vorsitzenden Richters, welcher Monat gerade sei, konnte sie beantworten, die Frage nach dem Wochentag nicht.
Um weitere Taten zu verhindern, war nach dem Vorfall ein Unterbringungsbefehl erlassen worden, der kurze Zeit später außer Vollzug gesetzt wurde. In eine geschlossene Einrichtung musste die Mutter dreier erwachsener Kinder dennoch: Ihr Betreuer, ein Rechtsanwalt, hat nämlich beim Amtsgericht in Wolfratshausen eine auf Zivilrecht gestützte Unterbringung beantragt. Im Unterschied zur strafrechtlichen bezweckt die zivilrechtliche Unterbringung nicht den Schutz der Allgemeinheit, sondern den Schutz des Betroffenen vor sich selbst. Die Frau sei „weglaufgefährdet“, heißt es in der Entscheidung des Amtsgerichts aus dem August vergangenen Jahres. Zudem bestehe die Gefahr, dass sich die 55-Jährige selbst tötet.
Derzeit kann sie sich tagsüber frei bewegen
Seitdem ist sie in einer Einrichtung in Geretsried untergebracht. Anfangs durfte sie diese nicht verlassen, dann unter Aufsicht und mittlerweile auch alleine, berichtete ihr Betreuer vor Gericht. Sie halte sich an die Vorgaben und sei jedes Mal pünktlich wieder zurück gewesen. Dadurch, dass sie regelmäßig ihre Medikamente nehme, habe sich ihr Zustand stabilisiert. Bei weiterer Stabilisierung werde er sich um einen Platz für sie in einer therapeutischen Wohngruppe bemühen.
Selbst wenn die Strafkammer in dem für Ende Juni geplanten Urteil die Maßregel der Unterbringung anordnen sollte, könnte diese zur Bewährung ausgesetzt und der nun eingeschlagene Weg fortgesetzt werden. Dies dürfte jedoch voraussetzen, dass die Frau die ihr verschriebenen Psychopharmaka trotz der Nebenwirkungen sicher einnimmt. Bei ihrer Befragung durch die Richter zeigte sie sich zwar einsichtig, was ihre Krankheit angeht. Sich die Medikamente spritzen zu lassen, was leichter kontrollierbar wäre als die Einnahme von Tabletten, lehnte sie jedoch lachend ab. Und noch etwas könnte gegen eine Bewährungsaussetzung sprechen. Nach Angaben ihres Betreuers ist es zwischenzeitlich zu einem weiteren Vorfall gekommen: Die Beschuldigte soll mit einem Messer auf ein Auto eingestochen haben.