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Sumo: Der Junge, den es nicht mehr gibt – Sport | ABC-Z

Im Herzen eines Sumo-Ringers ist kein Platz für den Schmerz über die zerbombte Heimat. Zumindest ist es offiziell so, und Danylo Yavhusishyn aus Winnyzja in der Ukraine hält sich an die Regeln. Kann sein, dass es ihm nicht immer leichtfällt. Aber das wissen wohl nur seine engsten Freunde und Verwandten, denn er hat ja die Verwandlung hinter sich. Den Jungen, der er mal war, gibt es nicht mehr. Der Kriegsflüchtling Danylo Yavhusishyn ist eingetaucht in die Welt des japanischen Nationalsports und ins Rampenlicht getreten als Arata Aonishiki aus der Sumo-Schule Ajigawa in Tokio. Er hat unter seinem Ringnamen das November-Basho in Fukuoka gewonnen und gehört zu den Favoriten für das nächste Turnier in Tokio im Januar – mit gerade mal 21 Jahren. Der Nihon Sumo Kyokai, Japans Sumo-Verband, hat ihn nach nur 14 Monaten als Profi zum Ozeki befördert, also in den zweithöchsten Rang der Sumo-Hierarchie.

Der Mann, der einmal Danylo Yavhusishyn war, steht jetzt für die Zukunft der stolzen, uralten Kultur des japanischen Ringkampfes. Und Sumo-Adel verpflichtet. Heimweh kann nicht Aonishikis Thema sein.

Sumo ist in Japan mehr als ein Sport. Es ist die Verbindung von irdischer Unterhaltung und religiösem Ritus. Schon vor 2000 Jahren war Sumo Teil der Bräuche, mit denen Japaner die Shinto-Götter um eine gute Ernte baten. Heute noch gibt es Turniere in Schreinen. In jeder Trainingshalle hängt ein Shinto-Altar. Und seit die Japaner Sumo vor etwa 300 Jahren als Spektakel entdeckten, hat sich wenig verändert: Die besten Ringer tragen nichts als ihren Seiden-Mawashi. Spezialfriseure formen ihre Haare mit traditioneller Pomade und gewachstem Washi-Papier. Gekämpft wird auf einem in Handarbeit aufgeschütteten Lehmhügel in einem Kreis, den kleine Ballen aus Reisstroh begrenzen.

Wer als Sumo-Profi erfolgreich sein will, streift nicht einfach nur ein anderes Trikot über. Er muss seinen Körper und seinen Geist ans alte Format anpassen, möglichst viele Kilos auf die Waage bringen und die eigene Persönlichkeit den Regeln und Riten des Verbandes unterordnen. Es ist eine harte Schule, und Arata Aonishiki alias Danylo Yavhusishyn zeigt gerade, dass auch ein Europäer sie durchstehen kann.

Ausländer gehören schon lange zu den Leistungsträgern der japanischen Sumo-Welt. Der Kämpfer mit den meisten Siegen bei großen Turnieren ist Sho Hakuho, ein gebürtiger Mongole. Einer der beiden aktuellen Yokozuna, der höchstrangigen Großmeister also, stammt ebenfalls aus der Mongolei: Tomokatsu Hoshoryu heißt er. Außerdem haben Hünen aus Hawaii den Sport geprägt. Und auch Europa hatte vor Aonishiki schon einen Basho-Gewinner: Der Bulgare Kalojan Machljanow siegte 2008 als Katsunori Kotooshu in Tokio.

Aonishikis Geschichte ist trotzdem speziell. Das liegt einerseits an seiner Statur. Er ist 1,82 Meter groß und wiegt 140 Kilogramm. Im Vergleich zu anderen Kollegen ist er eher klein und leicht. Und er kämpft anders als sie. Aus tiefer Hocke, auf schnellen Beinen und mit einem Technik-Repertoire, das Einflüsse vom olympischen Ringen erweitert. Mit Aonishiki im Ring kann immer etwas Besonderes passieren. Beim PR-Turnier in London im Oktober schleuderte er den Rivalen Kazuki Ura mit einem seltenen Armdreher durch die Luft. Alle staunten, inklusive Ura.

Aber die Aufmerksamkeit ist auch deshalb groß, weil Aonishiki aus dem Krieg kommt.

Sumo ist durchaus eine globale Bewegung. Der internationale Sumo-Verband (ISF) und seine Mitgliedsorganisationen organisieren Turniere für Frauen und Männer in verschiedenen Gewichtsklassen. Dieses ISF-Sumo hat wenig zu tun mit dem japanischen Original, in dem nur die schwersten Männer kämpfen. Aber als Einstieg ist es nicht schlecht. Und die Ukraine ist eine gute Amateursumo-Nation. Als Aonishiki noch Danylo Yavhusishyn war, hat er zum Erfolg beigetragen, 2019 wurde er bei den Junioren Europameister in Tallinn und WM-Dritter in Osaka.

Seine Eltern hatten ihn mit sechs zum Judo geschickt. „Aber, ehrlich gesagt, hat das nicht viel Spaß gemacht“, erzählte Aonishiki im Oktober bei einer Pressekonferenz. Immerhin sah er in der Judohalle eines Tages nach dem Training eine Gruppe von Sumo-Kämpfern: „Die Art, wie schnell entschieden war, wer gewinnt, hat mein Interesse geweckt.“ So ging es los. Und als Russlands Präsident Wladimir Putin im Februar 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, wurde Sumo plötzlich zur Chance für Danylo Yavhusishyn. Erst flüchtete er nach Düsseldorf, wo heute seine Eltern leben. Dann bat er den Japaner Arata Yamanaka um Hilfe.

Als er ankam, war er 18 und konnte kein Japanisch

Yamanaka war damals Kapitän des Sumo-Teams an der Kansai Universität in Osaka. Er und Danylo Yavhusishyn hatten sich bei der Junioren-WM in Osaka kennengelernt. Sie blieben in Kontakt. Und als die Not des Freundes groß war, tat Yamanaka etwas, das Japaner nicht oft tun: Er ließ ihn hinein in sein Leben. Er verschaffte Danylo einen Trainingsplatz an der Kansai Universität und wohnte mit ihm in einer Wohnung seiner Familie.

Heimweh muss damals sehr wohl ein Thema gewesen sein für Danylo Yavhusishyn. Er war 18, er konnte kein Japanisch. Die Zeitung Asahi berichtete im Februar 2023, Danylo habe manchmal mit Arata darüber gesprochen, dass er seine Familie vermisse. Und in einer Dokumentation des Senders NHK ist Danylo zu sehen, wie er ein Video aus Winnyzja betrachtet. Es zeigt eine Straße nach einem Angriff. Dicke Rauchsäulen steigen auf. Danylo trägt die Haare kurz. Er ist noch relativ schlank. Und die Bilder bewegen ihn. „Jeden Tag bin ich da gegangen“, sagt er auf Englisch. „Das ist sehr schrecklich, ich verstehe das nicht.“

Seltene Armdreher: Arata Aonishiki verfügt über ein großes Technik-Repertoire, bei einem Turnier in London schleudert er den Kontrahenten Rivalen Kazuki Ura durch die Luft.
Seltene Armdreher: Arata Aonishiki verfügt über ein großes Technik-Repertoire, bei einem Turnier in London schleudert er den Kontrahenten Rivalen Kazuki Ura durch die Luft. (Foto: Kyodo News/Kyodo/Imago)

Sein Talent muss unübersehbar gewesen sein – und seine jugendliche Sumo-Begeisterung ansteckend. So hat es jedenfalls der Oyakata Ajigawa berichtet. Oyakata ist die japanische Bezeichnung für Sumo-Coach, Ajigawa der Name, unter dem der frühere Kämpfer Ryuji Aminishiki seine eigene Schule betreibt. Als Danylo Yavhusishyn sich bei ihm bewarb, wollte Ajigawa ihn zunächst ablehnen. Jedes Sumoteam darf normalerweise nur einen Ausländer in seinen Reihen haben. Diesen Platz an einen Frischling zu vergeben, fand Ajigawa vermutlich zu riskant. Aber: „Seine Augen waren ehrlich“, brummt der Oyakata im Interview mit dem japanischen Rundfunksender NHK , „deshalb ist es mir einfach rausgerutscht: Willkommen in meinem Zuhause.“

Und jetzt ist Danylo Yavhusishyn also Arata Aonishiki. Es war tatsächlich eine Verwandlung. Aonishiki spricht perfekt Japanisch. Seine langen Haare sind zur klassischen Sumofrisur gefaltet. Er kennt die Sumo-Etikette mit allen Pflichten und Ritualen, denn wer von einem Stall aufgenommen wird, muss erst einmal ein halbes Jahr zu einer Art Kultur-Intensivkurs in die Sumo-Schule. Aonishiki trägt Kimono. Er spricht mit sonorer Stimme. Danylo hatte diese jungenhaften Züge, in denen mal Freude, mal Schalk, mal Stress lagen. Aonishiki ist so ruhig, als würde er nichts fühlen.

Sumo-Ringer dürfen weder jubeln noch zürnen. Sie sind die stampfenden Stellvertreter der japanischen Strenge. Aonishiki sagt: „Es ist sehr wichtig, ein klares Ziel vor Augen zu haben.“ In der Ukraine war er seit seiner Flucht nicht mehr. Über den Krieg sagt er nur: „Mein Land ist in einer sehr schwierigen Situation, aber ich bin jetzt Sumo-Ringer und möchte über Sumo reden.“ Immerhin, sein Ringname ist ein Statement. Das „Ao“ in Aonishiki heißt auf Japanisch Blau. Das soll an das Blau in der ukrainischen Fahne erinnern. Und als Vornamen hat er den seines Freundes und Mentors Arata Yamanaka gewählt. Auch das ist eine Hommage.

Aonishiki hat Pläne. Er will zehn Kilo zunehmen. Er will weiter gewinnen. Er will Yokozuna werden. Und Danylo? Der erzkonservative Japan-Sport Sumo war für ihn der Ausweg aus den Wirren der Gewalt. Aber die Rettung hatte einen Preis. Danylo ist jetzt der Junge aus einem anderen Leben.

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