Reisen

Thessaloniki – Liebe auf den zweiten Blick | ABC-Z

„Ah, du willst zunehmen…?“ Oder: „Was willst Du denn bei den Armen da oben?“ Wer nach Thessaloniki reist, darf mit reichlich Begleitsprüchen rechnen. In Athen und anderen südlichen Teilen Griechenlands blicken die Menschen gerne mit einem Mix aus Neid (wegen des guten Essens in Thessaloniki) und Überheblichkeit auf die zweitgrößte Stadt des Landes. Sie liegt auf den ersten Blick da, als umarme sie ihre blaue Bucht: wie ein ausgebreiteter, scheckiger Poncho wirken Thessalonikis Viertel – eng miteinander verwachsen und durchzogen von einem kaputten Reißverschluss, der geschleiften Stadtmauer, die sich hoch bis ins alte Kastra-Viertel windet. Dieses Vogelperspektiven-Panorama am byzantinischen Trigonias-Turm ist abends 1a-Selfie-Sonnenuntergangs-Spot und morgens idealer Startpunkt für einen Streifzug durch Nordgriechenlands mal rummelig-chaotische, mal betörende 325.000-Einwohner-Metropole.

Anders als in den meisten Städten liegt Thessalonikis historischer Kern nicht im Zen­trum, sondern am Rande, auf einem Berg. Von hier aus hat sich die 315 vor Christus gegründete Siedlung in Richtung Küste ausgebreitet. Dorthin – runter zum Wasser – geht es heute zu Fuß, zuerst vorbei an restauriertem Altstadt-Fachwerk, durch winkelige, verschlafene Treppengassen mit Granatapfelbäumen, vorbeihuschenden Katzen und einer liebenswerten Kittelschürzen-Omi, die gerade ihre Blumen mit dem Gartenschlauch wässert.

Je weiter es runtergeht Richtung Zentrum, desto öfter wird der Blick in den schmalen, verkehrsverstopften Straßen irritiert durch verwitterte Wohn- und Büroriegel. Sie sind das Resultat der „Antiparochi“ (Gegenleistung), einer bauherrenfreundlichen, aber stadtplanerisch fatalen Initiative der 1960er- und 70er-Jahre. Motto: Lass dein kleines Häuschen von einem Bauunternehmer abreißen und ein größeres, billig und oft illegal gebautes hinsetzen, in dem du dann – eine Hand wäscht die andere – mehrere Etagen zum Vermieten bekommst. Wenn schon Ruinen, dann lieber die in Thessalonikis Tiefparterre – beim spannenden, unterirdischen Spaziergang durch verschiedene Epochen. Denn Kirchen wie Agios Dimitrios und Panagia Acheiropoietos sind auf antiken Bädern erbaut – bis heute begehbare, oft reich verzierte Gewölbe mit konservierten Mosaiken, Taufbecken und Säulen.

Eine Etage darüber mussten die zumeist drei- bis fünfschiffigen Hallenkirchen zwischen 1430 und 1912 als Moscheen firmieren. „Besatzungszeit“, nennen die Salonikios diese Jahrhunderte bis heute, und haben bis auf ein Minarett, einige Hamams und wenige arabische Inschriften alle Spuren ausradiert. Deutlich lieber zeigt man großflächige Tatorte anderer Besatzer – der Römer: Kaiser Galerius‘ Palastruinen etwa und das Forum Romanum. Und das ist längst nicht alles im Souterrain dieser Stadt: Kürzlich wurde die neue U-Bahn eröffnet – nach Jahrzehnten Planung und Bauzeit. Die Bagger mussten immer wieder stoppen, etwa weil sie antike Via Egnatia ausgebuddelt hatten – einst römische Handelsstraße zwischen dem heutigen Istanbul und Rom. Wer an vielen anderen Baustellen durch Gitter in unterirdische Schächte linst, ahnt, welche Schätze da unten noch auf Archäologen warten.

Weiter geht‘s zum wohl schönsten Pausenhof für Stadtbummler, dem Aristoteles-Platz: gerahmt von schneeweißen Boulevardfassaden, gelüftet mit frischer Seebrise und gesäumt von sonnengegerbten Taubenfütterern. Hunger? Dann am besten nicht zum nächsten Giros-Brater, sondern zu Sespoina Karagiozi. Die Köchin führt Gäste auf ihrer Eat & Walk-Tour mitten rein ins Gewimmel der lärmenden, gestikulierenden und Fäuste schwingenden Händler auf dem basar-ähnlichen Kapani-Markt. Hier lässt sie Vlita probieren, ein Spinat-Gemüse – mit Olivenöl und Zitrone, gefolgt von Pastourmas, dem luftgetrockneten, milden Kamelfleisch. Dazu Krana, ein schwarz gebrannter Beerenschnaps.

Wer abends in ähnlicher Atmosphäre essen möchte, geht am besten zu Ergon, einem als Markthalle inszenierten Deli mit Bürgersteig-Tischen unter flackernden Straßenlaternen. „Zeit für was Süßes“, findet Feinschmeckerin Sespoina jetzt und empfiehlt Trigono, Thessalonikis typische Blätterteigtasche, randvoll gefüllt mit Vanillecreme – sehr lecker in der Konditorei Konstandinidis oder einer der 18 Filialen von Bäcker und Patissier Estia, etwa am Weißen Turm, Thessalonikis Stadtwahrzeichen und abends Treffpunkt für Pistengänger. Sie ziehen gerne und lange durchs Ladádika-Viertel, früher Heimat der Olivenhändler, heute von Bars und Pubs. Ein ideales Bummel-Revier für alle, die Sound- und Tapetenwechsel suchen zwischen Mythos-Bier, Retsina und Tsipouro auf Eis, dem einstigen griechischen Arme-Leute-Grappa. Sesshafte Cocktailfans chillen dagegen besser in Hollywoodschaukeln und Sitzsäcken der Lounges und Clubs an der Straße Iktinou – bei Sirtaki-Samba Mix und bestem Blick auf die Nomaden der Nacht: Scharen der 120.000 Studenten stromern mit Flaschenbier vorbei, bringen Thessaloniki klönend und lachend, singend und tanzend auf Betriebstemperatur. Statt Poncho trägt die Stadt nun schwarzes Abendkleid oder Lederjacke. Die Dunkelheit kaschiert manch betonierte Problemzone, und in tagsüber eher blassen Straßenzügen glüht jetzt das Nachtleben wie etwas zu dick aufgetragenes Rouge.

Back to top button