Model Linda Evangelista wird 60 Jahre alt | ABC-Z

Jonathan Van Meter hatte mehr als eine Stunde gewartet, bis Linda Evangelista im Jahr 1990 endlich zum Interview erschien. Als sie kam, rauchte sie Marlboro, trank Wodka, aß Kuchen und redete fröhlich drauflos. Der Modejournalist fragte sie, wie viel Geld sie verdiene, und sie antwortete: „We don’t wake up for less than 10.000 dollars a day.“ Van Meter wusste sofort, dass das der letzte Satz sein musste für sein Porträt in der amerikanischen „Vogue“. Chefredakteurin Anna Wintour war dagegen, weil es ein falsches Bild von der Fünfundzwanzigjährigen zeichne. Aber Van Meter setzte sich durch (das heißt etwas bei dieser Chefin). Also erschien im Oktober 1990 der Satz, der das Supermodel-Zeitalter gut zusammenfasst. Dass man für weniger als 10.000 Dollar erst gar nicht aufsteht – die unbedachte Arroganz, die sie längst bereut, hängt ihr bis heute nach.
Sie hat die böse Nachrede nicht verdient. Linda Evangelista, die an diesem Samstag 60 Jahre alt wird und für die aktuelle Zara-Kampagne sicher mehr als 10.000 Dollar bekommen hat, musste in ihrem Leben Demut lernen – weil es Zeiten gab, in denen sie abgeschrieben war, weil sie eine Brustkrebserkrankung überstehen musste, weil sie unter einer vermurksten Schönheitsbehandlung litt und weil sie als Mutter im Leben steht und nicht über allem schwebt.
Bodenständig ist sie schon deshalb, weil sie aus der kanadischen Provinz stammt: Saint Catharines (Ontario) liegt in der Nähe der Niagarafälle. Sie sei „bemerkenswert höflich und zurückhaltend“, schrieb Van Meter damals. Das mochte auch mit der Herkunft zusammenhängen. Ihre beiden Eltern stammten aus Italien, der Vater arbeitete bei General Motors, die Mutter war Buchhalterin. Die traditionell katholische Erziehung fand aber ihre natürlichen Grenzen bei der Jugendlichen, die besessen von Modemagazinen war und unbedingt Model werden wollte. Immerhin: Beim Wettbewerb „Miss Teen Niagara“ gewann sie zwar nicht, aber ein Castingagent entdeckte sie dort.
Schnell wurde sie zum Liebling von Top-Fotografen
Mit 19 Jahren zog sie nach New York und unterzeichnete einen Vertrag mit der Agentur Elite. Das hatte den Vorteil, dass sie schnell zum Liebling von Top-Fotografen wie Steven Meisel und Richard Avedon wurde, dass sie schon seit 1985 über alle Pariser Laufstege ging, von Chanel bis Valentino, von Yves Saint Laurent bis Claude Montana – und dass sie schon früh viel Geld verdiente mit kommerziellen Kampagnen für Unternehmen wie American Express oder Elizabeth Arden.
Aber es hatte den Nachteil, dass sie 1987 den Agenturchef Gérald Marie heiratete. Die Ehe hielt nur sechs Jahre. Dass ihr Mann schon in der gemeinsamen Zeit viele andere Models belästigt und missbraucht haben soll, will sie nicht mitbekommen haben. Aber den Aussagen der elf Frauen, die ihn 2021 bezichtigten, glaubt sie. Das Verfahren gegen Gérald Marie stellte die französische Justiz 2023 ein, wegen Verjährung.

Der Erfinder der Supermodels war – außer ihnen selbst – Peter Lindbergh. Der deutsche Fotograf, der seine Hartnäckigkeit hinter Freundlichkeit verbarg, hatte Evangelista zu einer Kurzhaarfrisur überredet, die als „The Linda“ bekannt wurde. An einem Sonntag im November 1989 brachte er dann fünf Models auf einer Straße in New York zusammen, nun alle mit kurzen Haaren: Cindy Crawford, Christy Turlington, Linda Evangelista, Naomi Campbell, Tatjana Patitz. Sie erschienen im Januar 1990 auf dem Titel der britischen „Vogue“ – und die ersten fünf „Supers“ waren geboren. Nun musste man nur noch ihren Vornamen nennen, und jeder wusste Bescheid. Endlich wurden auch Models zu Stars, die nicht einfach nur mit Mick Jagger zusammen waren. Als George Michael das Cover sah, ließ er sie umgehend im legendären Video zu seinem Song „Freedom!“ auftreten. Claudia Schiffer grämt sich bis heute, dass sie nicht dabei war, weil sie es sich nicht mit Chanel verscherzen wollte. Aber sie durfte sich dann ebenfalls Supermodel nennen, wie Elle MacPherson, Helena Christensen, Karen Mulder und wenige andere auch.

Supermodels sind anpassungsfähig
Aber Kate Moss, die heute oft so genannt wird, eigentlich nicht. Denn sie läutete schon im Juli 1990 den Anfang vom Ende des Supermodel-Zeitalters ein: Vom Titel der britischen Zeitschrift „The Face“ lachte die Sechzehnjährige aus Croydon natürlich, ungeschminkt, mit Federkrone auf dem Kopf. Plötzlich war die Anti-Mode in Mode. Die Supermodels wurden nervös, weil Calvin Klein lieber Kate buchte – und ließen sich nun auch von Trendfotografen aufnehmen, für weniger als 10.000 Dollar.

Aber Supermodels sind anpassungsfähig: Sie haben den Heroin Chic, die Grunge-Mode, die Hollywood-Stars und die Influencer-Welle überlebt. Junge Models kennt kaum noch jemand, aber sie sind weiter gut im Geschäft: Claudia für Chloé, Cindy für eine Beauty-Marke, Christy als „Ambassador“ für Stuart Weitzman, Naomi auf vielen Laufstegen und Linda auf dem Titel der aktuellen amerikanischen „Harper’s Bazaar“.
Linda Evangelista hat neben allem anderen so viele Beziehungen überstanden, dass sie nun das Single-Dasein liebt. Mit Luxusunternehmer François-Henri Pinault hat sie einen Sohn, Augustin, der am 11. Oktober 2006 geboren wurde. Jede Wette, dass sie ihren Geburtstag lieber mit „Augie“ verbringt als mit irgendeinem anderen Mann.