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Proteste in Paris: Wut gegen die Wirtchaftspolitik | ABC-Z

Reizgas breitet sich aus, als die Polizei den Vorplatz des Pariser Nordbahnhofs räumt. Die Blasmusik und Antifa-Chöre verstummen. „Das ist Krieg da draußen“, sagt die Kellnerin im angrenzenden, verwaisten Café mit sarkastischem Tonfall. Während Sanitäter vor der Tür einen jungen Mann mit tränenden Augen verarzten, ziehen die übrigen schätzungsweise 200 fast ausschließlich jungen, oft maskierten Demonstranten weiter.

Doch aus der Rue du Faubourg Saint-Denis gibt es an diesem späten Vormittag vorerst kein Entkommen, auch nicht für Touristen mit Koffer, auch nicht für erboste Mitarbeiter des anliegenden Krankenhauses. Von beiden Straßenseiten kesseln Polizisten die Menge ein. Die letzten indischen Geschäfte schließen. Ein Hauch von Straßenschlacht liegt in der Luft, ehe die Demonstranten am Mittag weiterziehen dürfen.

In ganz Frankreich gab es am Mittwoch Protestaktionen der neuen Bewegung „Bloquons tout“ („Lasst uns alles blockieren“). Das Innenministerium sprach in der ersten Tageshälfte von 29.000 Teilnehmern, die sich dezentral über soziale Medien organisiert haben, und von mehr als 300 Festnahmen.

Proteste gegen Sparpläne und gegen Eliten

In den ersten Stunden blieb es größtenteils bei Versammlungen und Scharmützeln mit der Polizei. Von einer landesweiten Lahmlegung der Infrastruktur und des öffentlichen Lebens konnte keine Rede sein, auch weil rund 80.000 Polizisten und andere Sicherheitskräfte mobilisiert worden waren.

Das Bildungsministerium meldete Betriebsstörungen in rund 100 Schulen. Davon seien 27 blockiert. Vereinzelt gab es Blockaden und Sabotagen im Straßen- und Schienenverkehr. Größere Störungen und Verspätungen wurden für den Luftverkehr befürchtet. An Frankreichs drittgrößtem Flughafen in Nizza, der wegen Personalmangels in der Flugsicherung und eines angespannten sozialen Klimas schon seit Langem stark von Ausfällen betroffen ist, wurden für Mittwochabend vorsorglich 50 Verbindungen annulliert.

Auslöser von „Bloquons tout“ sind die Sparpläne, die die am Montag gestürzte Regierung von François Bayrou vor der Sommerpause vorgestellt hatte und die angesichts des angespannten Zustands der französischen Staatsfinanzen auch die neue Regierung unter Führung von Sébastien Lecornu verfolgen dürfte.

Linke dominieren die Bewegung

Dazu gehören das Einfrieren von Sozialausgaben und die Streichung von zwei Feiertagen. Der bei der Bewegung zum Ausdruck gebrachte Unmut hat gleichwohl tiefere Wurzeln. Er richtet sich gegen die herrschenden politischen Eliten, allen voran gegen den in Umfragen immer unbeliebter werdenden Staatspräsidenten Emmanuel Macron, und die soziale Ungleichheit.

Dabei dominiert eine dezidiert antikapitalistische Schlagseite. So ist die von rechtsextremen Kreisen initiierte Bewegung von der Linken gekapert worden. 69 Prozent derjenigen, die an der aktuellen Bewegung beteiligt sind, haben 2022 in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl für den Links-außen-Politiker Jean-Luc Mélenchon gestimmt, ergab eine Umfrage der Jean-Jaurès-Stiftung, und weitere zehn Prozent für den bekennenden Antikapitalisten Philippe Poutou.

Viele Wirtschaftsvertreter besorgt die linksextreme Schlagseite der Proteste, dabei sei das politische Klima im Land schon jetzt aufgeheizt. Öffentlich pflegen sich die allermeisten jedoch in Zurückhaltung. Das hat in Frankreich Tradition und sich mit der zunehmenden Polarisierung noch verstärkt, schließlich geht sie oftmals quer durch die Kund- und Belegschaft.

Rücktritt von Macron gefordert

46 Prozent der Franzosen unterstützen laut einer Umfrage von Ipsos-BVA-CESI „Bloquons tout“. Doch auch wenn es zunächst nicht danach aussieht, als bildete sich eine von der breiten Mittelschicht getragene Bürgerbewegung, schließen Beobachter nicht aus, dass der Mittwoch nur der Auftakt war zu weiteren Protesten in den kommenden Wochen. Die Gewerkschaften haben für den 18. September schon einen landesweiten Streik angekündigt.

Vehement gefordert wird dabei der Rücktritt von Präsident Macron. „Diese Parole ist umso gefährlicher, als sie einfach und überparteilich ist“, sagte Vé­ronique Reille Soult, Spezialistin für soziale Netzwerke und Präsidentin des Beratungsinstituts Backbone Consulting, der französischen Wirtschaftszeitung „Les Echos“.

Es gehe um viel mehr bei den Protesten, meint auch Antoine Bristielle von der Jean-Jaurès-Stiftung. Menschen gingen auf die Straße, die die Politik von Emmanuel Macron satthätten und viel mehr soziale Gerechtigkeit verlangten. „Die Hauptforderung ist nicht die persönliche Kaufkraft, sondern soziale Gerechtigkeit und der Kampf gegen Ungleichheiten“, erklärte er.

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