Erdogans Justiz bedrängt Imamoglu, ein Gesetz nimmt Freiheiten | ABC-Z

Vor genau 1961 Jahren brannte Rom, jetzt hat sich der Brandstifter in der Türkei geoutet. Erdoğans inhaftierter Rivale Ekrem Imamoğlu übernahm Anfang dieser Woche die Verantwortung für den Brand, von dem allgemein angenommen wurde, Nero habe ihn gelegt. Wie der 54-jährige Politiker vor beinahe 2000 Jahren das Feuer gezündet haben soll? Sie sind verwirrt, nicht wahr? Doch das ist nicht meine Schuld. Ich erkläre es Ihnen gern.
Imamoğlu sollte sich für Oppositionsführerin CHP um die Präsidentschaft bewerben, doch dann wurde er vor rund sieben Monaten wegen Korruptionsverdacht verhaftet. Der Coup richtete sich nicht allein gegen den Oberregierenden von Istanbul, auch CHP-Bürgermeister anderer Städte und etliche ihrer Mitarbeiter kamen hinter Gitter. Die Justiz unter der Fuchtel des Präsidentenpalastes warf Imamoğlu vor, zum Zweck der Korruption eine kriminelle Vereinigung gegründet und über diese versucht zu haben, Einkommen zu generieren, um Präsident werden zu können.
Verantwortlich für alles Ungemach der Welt
Die Staatsanwälte, die diese ungeheure Behauptung aufgestellt hatten, waren in den seither vergangenen Monaten weder in der Lage, eine Anklageschrift zu erstellen, noch, einen einzigen Beweis für die Imamoğlu vorgeworfene Korruption vorzulegen. Ein Großteil der Bevölkerung hält Imamoğlu für unschuldig und vermutet, Erdoğan habe die Operation veranlasst, um seinen Widersacher auszuschalten. Weil es der Palastjustiz nicht gelang, diese Wahrnehmung der Öffentlichkeit zu ändern, legte sie mit einer noch absurderen Anschuldigung gegen Imamoğlu nach: Spionage!
Gegen Imamoğlu, seinen Wahlkampfleiter Necati Özkan und den Journalisten Merdan Yanardağ, dem einer von drei oppositionellen Fernsehsendern gehört, wurde Haftbefehl wegen angeblicher Spionage für Großbritannien erlassen. Imamoğlu und Özkan waren ja bereits inhaftiert. Um auszuschließen, dass sie freikommen, weil der Korruptionsvorwurf nicht bewiesen werden konnte, wurden sie jetzt einer zweiten Straftat bezichtigt: politischer Spionage. Kommen wir zur Auflösung der Verwirrung vom Anfang. Imamoğlu wird vorgeworfen, die Daten der Einwohner Istanbuls an einen für Großbritannien tätigen Agenten weitergegeben zu haben. Dazu sagte er bei der Vernehmung durch den Staatsanwalt: „Ich bin Opfer einer Verschwörungstheorie. Es wäre wohl realistischer, dass ich Rom in Brand gesetzt habe!“ Dazu sei am Rande bemerkt: Die Palastjustiz, die Imamoğlu für sämtliches Ungemach auf der Welt verantwortlich macht, hat – bislang – noch kein Verfahren wegen Brandstiftung gegen ihn eingeleitet.
Der Palastjustiz sei Dank!
Genau wie gegen Nero, Pardon, gegen Imamoğlu wurde Haftbefehl in dieser Angelegenheit auch gegen den Journalisten Yanardağ erlassen. Er verlor neben seiner Freiheit auch seinen Fernsehsender. Kürzlich hatte ich Ihnen von einem neuen Gesetz berichtet, für dessen Anwendung es keiner Straftat bedarf, allein der Verdacht auf eine noch nicht erwiesene Straftat reicht aus. Aufgrund dieses Paragraphen wurde der Sender Tele1 jetzt dem Fonds des Palasts übertragen. Übrigens hat der Spionagevorwurf auch etwas mit Deutschland zu tun. Gleichzeitig mit den geschilderten Ereignissen wurde ein Unternehmen aufs Korn genommen, das Apps unter anderem für die Istanbuler Stadtverwaltung entwickelt. Die gesamte Führungsriege, einschließlich des Inhabers, wurde festgenommen.
Die Firma heißt KOBIL und wurde 1986 von einem Unternehmer türkischer Herkunft in Worms gegründet. Sie versorgt etliche öffentliche Einrichtungen, darunter den Bundestag und die Bundesnetzagentur sowie diverse Finanzunternehmen mit Lösungen für digitale Transformation und IT-Sicherheit. Nun soll Imamoğlu die Daten der Istanbuler an dieses Unternehmen weitergegeben haben, von dort seien dann kritische Informationen an zwei ausländische Nachrichtendienste durchgestochen worden. Nichts könnte gefährlicher sein, als dass ein Geheimdienst erfährt, wie viel ich für die Wasserrechnung meiner Istanbuler Wohnung bezahlt habe, oder? Glücklicherweise hat die Palastjustiz uns auch hier wieder einmal vor einer großen Gefahr bewahrt!
Im Nudelkonsum an der Spitze
Wie gut, dass der kurzzeitig in Gewahrsam genommene Inhaber von Kobil sein Unternehmen in Deutschland gegründet hat. Sonst wäre er womöglich gezwungen gewesen, allein aufgrund des Verdachts auf eine Straftat seine seit 39 Jahren existierende Firma an den Palast zu übertragen, genau wie im Fall des Fernsehsenders Tele1. Wobei dieses Risiko für andere deutsche Firmen in der Türkei nach wie vor besteht. Vielleicht erinnern Sie sich an einen Skandal, von dem ich Ihnen 2017 berichtet hatte. Damals erstellte der türkische Innenminister eine Liste mit 681 deutschen Firmen, die angeblich Terrorismus unterstützen, darunter sogar Mercedes. Nach Protesten war die Liste zurückgenommen worden. Wie gut, dass sie bereits 2017 erstellt worden war. Denn nach dem im Februar 2025 erlassenen Gesetz existieren Eigentums- und Unternehmerfreiheit in der Türkei nicht mehr. Jede Firma, gegen die die politisierte Justiz wegen des Verdachts auf eine Straftat Ermittlungen einleitet, kann mit einem Federstrich dem Fonds des Palasts übertragen werden. Sei es ein Dönerimbiss in Istanbul, sei es Mercedes, das zwei Werke in der Türkei unterhält.
Kann sich in einem solchen politischen Klima die Wirtschaft erholen? Aus dem Ausland kommen keine neuen Investoren ins Land, und einheimische Investoren weichen in Länder wie Ägypten, Marokko oder Bangladesch aus. Je mehr Betriebe schließen, desto stärker wächst das Steuerdefizit. Zum ersten Mal in der türkischen Geschichte sind in Industrieregionen außerhalb der großen Metropolen nicht länger Industrieunternehmen die größten Steuerzahler. In Adana etwa, dem Zentrum der Agrarindustrie, zahlt der italienische Trainer der türkischen Fußballnationalmannschaft, Vincenzo Montella, am meisten Steuern. In Konya, der Hauptstadt der gern als „anatolische Tiger“ bezeichneten kleinen und mittleren Unternehmen, ist der brasilianische Fußballspieler Guilherme Sityá der größte Steuerzahler, in Sivas der griechische Fußballer Charilaos Charisis. Die Schließung von Fabriken macht nicht nur Fußballer zu Rekordzahlern von Steuern. Erdoğans Wirtschaftspolitik trifft den Arbeitsmarkt. Seit dreizehn Monaten in Folge sinkt die Zahl der Beschäftigten in der Industrie. Gibt es weniger Arbeit, haben wir weniger zu essen. Nicht von ungefähr bricht die Türkei, das Land der Agrarwirtschaft und Tierhaltung, seit zwölf Jahren den Rekord im Nudelkonsum.
Bis zu drei Jahre Haft
In den 23 Jahren seiner Herrschaft hat Erdoğan sämtliche Werte einer liberalen Demokratie abgeschafft. Wie Sie an den genannten Beispielen sehen können, versetzte er der unternehmerischen Freiheit und dem Privateigentum ebenso heftige Schläge wie der politischen Freiheit und der repräsentativen Demokratie. Mindestens so schweren Schaden nahmen unter dem Palastregime aber auch die individuellen Freiheiten. Ein elftes Gesetzespaket, das die Regierung gerade schnürt, stellt vermutlich den bisher schlimmsten Angriff auf individuelle Freiheiten dar. Ein mit recht schwammigen Formulierungen gespickter Paragraph etwa zielt unmittelbar auf die Meinungsfreiheit und Lebensweise von LGBTQ-Personen ab. Damit sollen Personen, die „sich dem biologischen Geschlecht und den allgemeinen Sitten zuwider verhalten, dieses fördern, rühmen oder dazu anregen“, mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. Was unter „allgemeine Sitten“ oder „anregen“ zu verstehen ist, entscheidet die Palastjustiz. Sollte dieses Gesetz in Kraft treten, wird die Türkei laut Amnesty International der erste Staat im Europarat sein, in dem Bestrafung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Persönlichkeit gesetzlich möglich sind. Diese Praxis geht noch über die queerfeindlichen Gesetze in Russland hinaus und ist in der modernen Gesetzgebung einmalig.
Ebenso wie Menschen anderer sexueller Orientierung bedroht dieses Gesetz die Presse und die Unterhaltungsbranche. Die Formulierung „fördern, rühmen und anregen“ kann auch Berichte, Filme oder Inhalte sozialer Medien über LGBTI+-Themen unter Strafe stellen. Insbesondere Verantwortliche digitaler Plattformen und unabhängiger Medien werden wegen Inhalten mit LGBTI+-Bezug von bis zu drei Jahren Haft bedroht sein. Kommt der Gesetzentwurf in dieser Form durch, werden die Liebesgedichte, die Sappho im siebten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung an Frauen und im 13. Jahrhundert der muslimische Gelehrte Rumi an Shams-e Tabrizi schrieb, als Straftaten gelten.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe





















