Übergewicht: Kommt es auf Ernährung oder Bewegung an? – Gesundheit |ABC-Z

Übergewicht ist längst ein weltweites Problem: Fast eine Milliarde Menschen sind fettleibig, was bei Erwachsenen einem Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 30 entspricht. Die WHO schätzt, dass 3,7 Millionen Menschen jährlich an den Folgen von Übergewicht sterben. Aber was sind die Ursachen dieser Gesundheitskrise, von der auch Deutschland betroffen ist?
Geht es um mögliche Maßnahmen wie Zuckersteuer, Werbebeschränkungen oder Kennzeichnungspflichten, verweist die Lebensmittelindustrie immer wieder auf Bewegungsmangel oder die Kalorienbilanz, die eben ausgeglichen sein müsse. Weniger essen oder mehr verbrauchen, kommt aufs Gleiche raus, warum hacken immer alle auf Softdrinks und Fertigessen rum? Eine neue Studie legt nun jedoch nahe: Einer dieser beiden Hebel, und zwar die Ernährung, hat offenbar einen viel größeren Einfluss als der andere.
Für die im Fachjournal PNAS erschienene Arbeit hat eine große Forschergruppe um die Biologin Amanda McGrosky und den Anthropologen Herman Pontzer von der Duke University vorhandene Daten zu Energieverbrauch, Körperfettgehalt und BMI von mehr als 4000 Probanden analysiert. Sie stammten aus 34 sehr unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen von sechs Kontinenten: aus reichen Ländern wie den USA, von indigenen Jäger-Sammler-Völkern in Äquatorialafrika oder aus bäuerlichen Selbstversorger-Gemeinschaften in Bolivien.
:Mythos Kalorienverbrauch
Hilft Sport dabei, schlanker zu werden? Der evolutionäre Anthropologe Herman Pontzer hat herausgefunden: nicht wirklich. Warum man trotzdem nicht damit aufhören sollte – und wann man tatsächlich abnimmt.
Der Energieverbrauch der Probanden war für den verwendeten Datensatz mit der „Doppelt markiertes Wasser“-Methode erhoben worden. Dafür trinken Versuchspersonen Wasser, das schwere Varianten von Sauerstoff und Wasserstoff enthält. Einige Tage später wird in ihrem Urin gemessen, wie viel von dem markierten Sauerstoff noch übrig ist im Verhältnis zum markierten Wasserstoff. Die fehlende Menge muss in der Zwischenzeit verbrannt und als Kohlendioxid ausgeatmet worden sein. Daraus kann man recht genau auf den Energieverbrauch schließen: Je mehr CO₂ ausgeatmet wurde, desto mehr Energie wurde verbraucht.
Menschen in reichen Ländern verbrauchen im Schnitt kaum weniger Energie
Das Ergebnis der Analyse deckt sich mit dem, was schon frühere Arbeiten von Pontzer und seinen Kollegen mit ähnlichen Methoden ergeben hatten: Der Energieverbrauch hängt viel weniger stark vom Lebensstil ab, als viele meinen. Demnach hatten Menschen in industrialisierten Gesellschaften, Bequemlichkeit und Bürojobs hin oder her, im Schnitt sogar einen höheren Energieverbrauch als andere. Bezogen auf das Körpergewicht war der mittlere Energieverbrauch in reichen Ländern zwar niedriger, aber nur geringfügig.
Zwar zeigte sich in den Daten, dass Übergewicht tatsächlich mit einem recht niedrigen Energieverbrauch einhergeht, aber dieser Zusammenhang war schwach und erklärt laut den Forschern nur rund ein Zehntel des Anstiegs von Körperfettanteil und BMI, der mit der wirtschaftlichen Entwicklung kommt. Allein am Auf-der-Couch-Sitzen kann das verbreitete Übergewicht in westlichen Gesellschaften demnach nicht liegen, wenn man der Logik der Forscher folgt. Bleibt das Essen.
Die Daten zur Energieaufnahme und Ernährungsweise der Probanden in der Studie waren sehr begrenzt. Die Autoren betonen aber, dass in den 25 Populationen, zu denen es solche Informationen gab, der Anteil ultrahochverarbeiteter Lebensmittel mit erhöhtem Körperfettanteil einherging. Sie räumen auch ein, dass sich Bewegung indirekt stärker auf die Ernährung und somit das Gewicht auswirken könnte: Vielleicht reguliere mehr Bewegung ja etwa das Sättigungsgefühl. Dann wäre jemand zwar übergewichtig, weil er zu viel isst, aber womöglich isst er zu viel, weil er sich zu wenig bewegt. Über solche Zusammenhänge sagt die Studie nichts aus.
Fachkollegen würdigen wie bereits bei früheren Arbeiten von Pontzer die Verwendung objektiver Messwerte für den tatsächlichen Energieverbrauch. Aber es gibt auch Kritik. So wies etwa der Biostatistiker Jeff Goldsmith von der Columbia University darauf hin, dass Tausende Probanden aus industrialisierten Gesellschaften und nur wenige Dutzend aus Jäger-Sammler- oder Subsistenzgemeinschaften stammten. „Es macht mir Sorgen, weitreichende Behauptungen aufzustellen, wenn die Stichprobe verzerrt ist“, sagte er dem Magazin Science. Unklar bleibt auch, was genau an der Ernährung denn nun zu Übergewicht führt.
Vollkommen unstrittig ist jedoch, wie auch die Autoren selbst in ihrer Studie betonen: Sport und physische Aktivität haben jede Menge gut dokumentierter Vorteile für Gesundheit und Wohlbefinden. Man solle Bewegung und Ernährung nicht als austauschbar betrachten, schreiben die Autoren, sondern als komplementär. Kein Entweder-Oder, sondern Sowohl-als-auch.