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Neuer Tagungsband zu Geschichtsrevisionismus – Dachau | ABC-Z

„Rechter Geschichtsrevisionismus in Deutschland“ – so lautete im Herbst 2023 der Titel des alljährlich stattfindenden Dachauer Symposiums für Zeitgeschichte. Ein Thema, das angesichts damals überraschend guter Wahlergebnisse der in weiten Teilen rechtsextremen AfD aktuell war. Doch jetzt, da der Tagungsband dieser Veranstaltung herausgekommen ist, hat es nach den Ergebnissen der vergangenen Bundestagswahl an Aktualität noch erheblich gewonnen. Schon in der Einleitung machen die Herausgeber Jens-Christian Wagner und Sybille Steinbacher deutlich, wie enorm vordringlich es gerade jetzt ist, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen: „Geschichtsrevisionismus gehört zum ideologischen Kernbestand extrem rechten Denkens.“

Die Projektleiterin der gesamten Reihe, Sybille Steinbacher, ist Historikerin für Geschichte und Wirkung des Holocaust an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts.  Als wissenschaftlicher Leiter dieses Symposiums fungierte Jens-Christian Wagner, Leiter der KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Die beiden spannten einen weiten Rahmen um das Thema, der auch aus dem Untertitel abzulesen ist: „Formen, Felder, Ideologie“. Im Zentrum stehe dabei die Bewertung des Nationalsozialismus: „Wer historisch tradierte nationale Größe postuliert, muss die NS-Verbrechen mindestens kleinreden; das gilt sowohl für die Alte Rechte als auch für die Neue Rechte in Deutschland.“ In den vergangenen Jahren habe der Geschichtsrevisionismus weitere Kreise gezogen, etwa durch die Verharmlosung von NS-Verbrechen, Verschwörungslegenden oder Reichsbürgerideologien.

Auch in der Mitte der Gesellschaft verfangen die geschichtsrevisionistischen Erzählungen

Die Beiträge im Tagungsband sind teilweise aktualisiert worden, manche Vorträge des Symposiums sind gar nicht enthalten. Dafür ist ein Aufsatz der Düsseldorfer Rechtswissenschaftlerin Sophie Schönberger über die Reichsbürgerszene dazu gekommen. Schönberger, die 2023 an der Tagung nicht teilnehmen konnte, zeigt darin auf, wie diese krude Bewegung entstanden ist, laut der das Kaiserreich noch fortbesteht. Sie verdrehe die Historie und sei gegenüber jeglichen Verschwörungserzählungen besonders offen. Als krasses Beispiel schildert sie die 2022 aufgedeckten Umsturzpläne einer Gruppierung um den Nachfahren des Fürstenhauses Reuß, der sich selbst Heinrich XIII. nennt. In eine ähnliche Richtung geht laut den Ausführungen des Historikers Maik Tändler die bereits in der 1960er-Jahren entstandene Erzählung über den „Nationalmasochismus“, der zufolge Deutschland von fremden Mächten kleingehalten werden soll. Gleichzeitig kritisiert Tändler postkoloniale Theorien, die dem Holocaust seine Einzigartigkeit absprechen.

Tagungsleiter Wagner selbst hat 2023 dafür gekämpft, einen extrem rechten AfD-Kandidaten als Oberbürgermeister von Nordhausen zu verhindern – der Stadt, zu der die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora gehört. Er legt in seinem Aufsatz dar, dass viele der geschichtsrevisionistischen Erzählungen ihren Ursprung in der NS-Propaganda haben. So sei beispielsweise in rechten Kreisen oft von jüdischer, britischer, polnischer oder sowjetischer Kriegsschuld die Rede, werde eine Täter-Opfer-Umkehr vorgenommen und von jüdischen Vernichtungsplänen an den Deutschen fantasiert. Durch die von AfD-Politikern immer wieder verbreitete Verharmlosung des Nationalsozialismus ist nach Ansicht Wagners „erinnerungskulturell etwas in Rutschen gekommen“. Und er macht klar, „nicht nur am rechten Rand, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft“.

Beim Dachauer Symposium diskutierten Experten über Geschichtsrevisionismus: (v. l.) Historiker Volker Weiß, die Leiterin der Dachauer Gedenkstätte Gabriele Hammermann, Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Sybille Steinbacher, Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts. (Foto: Toni Heigl)

Wie weit sich geschichtsverzerrende Legenden bereits verbreitet haben, stellt der Soziologe und Politikwissenschaftler Fabian Virchow anhand der Pandemieleugner und der Proteste gegen Corona-Maßnahmen dar. Das Tragen von „Judensternen“ oder die Berufung auf Widerstandskämpfer wie Hans und Sophie Scholl sieht Virchow als Instrumentalisierung von Opfern des NS-Staats.

Und: Geschichtsrevisionismus kann auch in Gewalt ausarten. Das stellt Imanuel Baumann, Historiker und Leiter des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, anhand rechtsterroristischer Anschläge dar. Schon gleich nach Kriegsende habe es Schändungen von Friedhöfen, Sprengstoffattentate und Brandanschläge auf Spruchkammern und später gegen Flüchtlingsunterkünfte gegeben ebenso wie Morde an jüdischen Bürgern und Migranten.

Der Historiker und Publizist Volker Weiß erläutert, welch massive Kampagne der rechtsextreme AfD-Politiker Björn Höcke und Publizist Götz Kubitschek mit dessen „Institut für Staatspolitik“ gegen die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus führen. Alle Elemente einer Umdeutung der Geschichte seien enthalten. Direkt auf die AfD geht der Politikwissenschaftler Markus Linden ein, indem er deutlich macht, dass der Geschichtsrevisionismus für die Partei eine zentrale ideologische und propagandistische Rolle spiele: „Die AfD verkauft sich als demokratisch-antitotalitäre Partei“ und beschreibt die Bundesrepublik als „Unterdrückungsstaat“ oder „bunte Diktatur“.

Es sind vor allem rechte Medien, welche die große Verbreitung revisionistischer Geschichtsauffassungen möglich machen. Da sind zum einen die althergebrachten Printerzeugnisse neurechter Verlage, die sich der Historiker Justus H. Ulbricht vorgenommen hat. Insbesondere im Umfeld von Kubitscheks „Institut für Staatspolitik“ seien mehrere solcher Unternehmen angesiedelt, die rechte Propaganda verbreiten. Doch vermutlich noch wirkmächtiger dürften die digitalen Online-Medien sein, die Maik Fielitz und Hendrik Bitzmann in ihrem Beitrag als geschichtsrevisionistische Parallelwelten bezeichnen. Unter dem Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit werde Propaganda und Desinformation betrieben. Wichtig sei, dabei das Geschäftsmodell der rechten Alternativmedien zu beachten: „Empörung schafft Klicks“ – und sorgt so für immer weitere Verbreitung.

Wer sich einen Überblick verschaffen will über den rechten bis rechtsextremen Geschichtsrevisionismus – von der Verharmlosung von NS-Verbrechen bis zu Verschwörungserzählungen über das Fortbestehen des Deutschen Kaiserreichs – der findet in diesem Tagungsband umfassendes Material. Angesichts der derzeitigen politischen Lage, in der eine in großen Teilen rechtsextreme Partei die zweitstärkste Fraktion im Bundestag stellt, ist es unerlässlich, sich über die Gefahren für die Demokratie zu informieren. Dieses Buch ist nicht immer einfach zu lesen, aber äußerst hilfreich.

Sybille Steinbacher / Jens-Christian Wagner (Hrsg.), Rechter Geschichtsrevisionismus in Deutschland. Formen, Felder, Ideologie, Wallstein-Verlag, Göttingen 2025.

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