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Jupp Heynckes: Das Märchen vom Don Jupp | ABC-Z

In unserer Kolumne “Grünfläche
schreiben abwechselnd Oliver Fritsch, Christof Siemes

und Stephan Reich über die Fußballwelt und die Welt des Fußballs. Dieser
Artikel ist Teil von
ZEIT am Wochenende, Ausgabe 19/2025.

Es war einmal – so beginnen auch Fußballmärchen. Dieses zum Beispiel: Es war einmal ein Josef,
den bald alle Jupp nannten, der kam am Tag nach dem Ende des zweiten großen
Krieges zur Welt. Er war das neunte von zehn Kindern eines einfachen Schmieds
und wog bei seiner Geburt nur zweitausendfünfhundert Gramm. In einem geliehenen
Milchwagen, gezogen von einem Pferd, kutschierte der Vater den Winzling vom
Krankenhaus nach Hause. Da seine Mutter einen kleinen Lebensmittelladen führte,
kam Josef bald zu Kräften, sammelte Alteisen und Lumpen zum Verkaufen, um seine
große Familie zu unterstützen. In seiner freien Zeit jagte er einem Ball aus
Stoffresten nach und trat ihn mit den Füßen, die in Holzschuhen steckten.
Mangelte es an Mitspielern, schoss er allein so lange gegen eine Mauer, bis er
treffsicher und schnell genug war, um bei den Älteren mithalten zu können.
Selbst als er mit fünf Jahren nach einer Operation ein Bein in Gips hatte, ließ
er nicht ab von dem Spiel, das sein Leben werden sollte.

So beginnt die erstaunliche Karriere des
Josef Heynckes, der in einer Zeit, da Fußballer noch richtige Berufe hatten
(Jupp ist gelernter Stuckateur), von Mönchengladbach-Holt auszog, um König der
Torschützen, Weltmeister, Bester aller Trainer und Don Jupp zu werden. Ein paar Jahre lang waren wir entfernte Nachbarn, ich der Knirps, der auf
einem Garagenhof vor die Tore pölte
, er schon ein
Star, der bereits einen Bungalow sein Eigen nannte, als viele seiner
Mannschaftskameraden noch als möblierte Herren in
2-Zimmer-Dachgeschosswohnungen lebten. Nun, zu seinem
80. Geburtstag am 9. Mai, erzählt Heynckes’ Herzensclub, die Borussia aus
seiner, meiner Heimatstadt,
in ihrem Vereinsmuseum diese wundersame Heldenreise noch einmal. Und ich lerne, wie logisch in diesem Märchen die einzelnen
Etappen aufeinander folgten.

Denn wahr ist auch, dass zumindest sein Erfolgsgeheimnis als Trainer nicht so einfach zu durchschauen ist; zu spröde kam
Heynckes in der Öffentlichkeit oft rüber. Der könne auch “Werbung für
Schlaftabletten machen”, hat sein Kollege Christoph Daum mal gesagt, und dass
die Wetterkarte interessanter sei als ein Gespräch mit Heynckes (darüber
stritten die beiden dann öffentlich in einer legendären
Ausgabe des Aktuellen Sportstudios
, mit Udo Lattek und Uli Hoeneß als Adjutanten). Und noch
heute, in der Film-Dokumentation, die eigens für die Ausstellung angefertigt
wurde, wirkt Heynckes, im grauen Pullover vor schwarzem Hintergrund, mitunter
wie ein Buchhalter seiner selbst, der sich im Zentrum des Interesses immer noch
unwohl fühlt. Es sind seine ungleich emotionaleren Weggefährten, die in ihren
Erzählungen das Bild eines Heißblütigen und Besessenen zeichnen, der – wie als
Zweitjüngster in seiner zwölfköpfigen Familie – auch auf dem Spielfeld darum
kämpft, bloß nicht zu kurz zu kommen. 299 Tore erzielt er für die Borussia; in
der Ausstellung wird eine Installation aus ebenso vielen Bällen zum Sinnbild
seines unstillbaren Erfolgshungers.

Ausgerechnet in seinem letzten Spiel erreicht
der seinen Höhepunkt: Beim 12:0 gegen Borussia Dortmund im April 1978, das fast
noch zum Meistertitel geführt hätte, erzielt Heynckes fünf Treffer, so viele
wie nie zuvor in einem Spiel. Dabei hat er da schon längst sein Knie ruiniert;
“übermotiviert”, wie er selbst sagt, eine Entzündung immer wieder mit
Schmerzmitteln und Antibiotika unterdrückend, bis er über den Platz “nur noch
gehinkt” sei. Sein linker Schuh aus jener Partie, Größe 44, blau mit roten
Stollen und reichlich abgewetzt, erzählt eindrücklich von Heynckes’
bedingungsloser Hingabe ans Spiel.

“Er konnte nicht verlieren”, sagt in der
Dokumentation Hans-Günter Bruns, der von allen Borussen die meisten Spiele
unter dem Trainer Heynckes machte. Lothar Matthäus, der als 18-Jähriger unter
die Fuchtel des damals jüngsten Bundesliga-Coaches geriet, bewundert dessen
“Fokus” und “Eigensinn”: “Ehrgeiz, Ehrgeiz, Ehrgeiz, ab und zu auch ein
bisschen zu viel. Ich hatte das Gefühl, dass es eine persönliche Beleidigung
für ihn war, wenn wir verloren haben. Manchmal hat er uns zwei, drei Tage lang
ignoriert und nicht mit uns geredet. Er hat von seinen Spielern das verlangt,
was er selbst als Spieler gelebt hatte.”

Niederlagen respektieren, aber niemals
akzeptieren – das ist Heynckes’ Motto, das ihm auch über die bitterste
Enttäuschung seiner Spielerkarriere hinweghilft. In die WM 1974 geht er als
Stammspieler, doch nach einer Verletzung in der Vorrunde kommt er, obwohl zum
Halbfinale wieder fit, nicht mehr zum Einsatz. Weltmeister wird er nur im
babyblauen Trainingsanzug – für ihn eine Schmach, die ihn anspornt für die
beste Saison seiner Karriere: 1975 wird er Meister, Uefa-Cup-Sieger und
Torschützenkönig. Die nach eigenem Bekunden schönste Zeit seiner
Fußballer-Laufbahn liegt da schon mehr als zehn Jahre zurück – die Saison
1964/65, seine erste als Profi, an deren Ende der Aufstieg in die Bundesliga
steht. “Wir spielten unbekümmert, wie im Rausch. Wir waren völlig unbekannt und
innerhalb eines Vierteljahres in Deutschland in aller Munde. Wir haben für eine
Explosion gesorgt.”

Ein Fußballromantiker ist er deshalb noch
lange nicht. Auch wenn er später mit Uli Hoeneß Handschlagverträge schließt,
verstand es Heynckes doch immer, sehr genau zu rechnen. Schon als kleiner Junge
hatte er für seine Mutter bei säumigen Zahlern das Geld eingetrieben. Und als
man ihm nach seiner zweiten Bundesligasaison (15 Tore) einen in seinen Augen
unzureichenden Vertrag anbot, wechselte er kurzerhand zu Hannover 96. Aber er
war und ist eben auch fähig zur Selbstkritik, wie Günter Netzer konstatiert,
sein langjährigster Gefährte, der schon in der Jugendnationalmannschaft mit ihm
ein Zimmer teilte. Nach drei mauen Jahren in Niedersachsen kehrte Heynckes an
den Niederrhein zurück und bekannte, den vielleicht größten Fehler seines
Lebens begangen zu haben – inzwischen war die Borussia zum ersten Mal Meister
geworden, ohne ihn.

Es dauert eine Weile, bis Heynckes die
Facetten seiner Fußballerseele – unbändiger Ehrgeiz, Geschäftssinn und selige
Lockerheit der Jugend – auch als Trainer ausbalancieren kann. Uwe Kamps, der
unter Heynckes vom jugendlichen Draufgänger zum Gladbacher Stammtorwart wurde,
erzählt mir bei einem
Rundgang durch die Ausstellung, dass ihm geraten wurde, zum ersten Treffen mit
dem Trainer ja den Brilli aus dem Ohrläppchen zu nehmen. Und wie Heynckes ihn
vor versammelter Mannschaft wegen seiner allzu blond gefärbten Haare
runtergemacht habe: “Wenn das morgen nicht weg ist, brauchst du gar nicht
wiederzukommen!” Am Ende aber habe Heynckes es immer verstanden, seine Spieler
durch bedingungsloses Vertrauen stark zu machen.

Dazu kam wachsende Gelassenheit, die er sich
nach seinem ersten Engagement bei Bayern München (1987–91) in seinen Jahren an
der Peripherie des spanischen Fußballs aneignete, bei Athletic Bilbao und CD
Teneriffa. Dass er später bei Real Madrid nach nur einem Jahr und dem Gewinn
der Champions League entlassen wurde, war für ihn eine weitere Lehrstunde in
der Kunst, sich in einem Irrenhaus nicht verrückt machen zu lassen. Auf Schalke
hatte man Jahre später für seinen stoischen Weg Richtung Altersweisheit kein
Verständnis. Mit den Worten “Der Jupp ist ein Fußballer der alten Schule, aber
wir haben 2004” beendete Rudi Assauer die königsblaue Zeit des nicht mal
60-Jährigen. Heynckes ließ sich davon nicht beirren: “Ich habe dort vielleicht
sogar meine beste Trainer-Arbeit abgeliefert, war wie ein Sanierer, der ein
Team übernommen hat, das aus dem Ruder gelaufen war.”

Alle anderen bewundern dagegen am meisten
sein Spätwerk bei den Bayern, sogar wir Gladbacher. Selbst als Trainer des Erzgegners empfingen wir
ihn am Bökelberg und später im Borussiapark immer herzlich, ganz ohne
Fadenkreuz-Plakate oder “Verräter”-Gesänge. Bei seiner letzten Dienstreise in
die alte Heimat verdrückte er auf der Pressekonferenz wegen dieser
unerschütterlichen Zuneigung ein paar Tränen.

Für den kleinen Josef hat sich ein Kreis
geschlossen: Aus München Gladbach (so hieß die Stadt bei seiner Geburt) war er aufgebrochen
in die Welt; und in München wird er, als sei es ihm an der Wiege gesungen
worden, zum Triple-Gewinner Welttrainer des Jahres. Inzwischen, nach einer Art bayrischer Nachspielzeit 2017/18, ist er längst wieder zurückgekehrt in die
Heimat. Dort hat er sich zurückgezogen in einen niederrheinischen Bauernhof,
den er im spanischen Finca-Stil umgebaut hat – Don Jupp in der Trutzburg. Die
Öffentlichkeit meidet er fast vollständig, aus gesundheitlichen Gründen, wie es
heißt. Selbst zur Eröffnung der Ausstellung zu seinen Ehren mochte er nicht
kommen. Am Tag zuvor besichtigte er sie im kleinsten Kreis mit seiner Frau Iris
und war, so höre ich von Augenzeugen, stark gerührt, aber “agil und von furzgesunder Gesichtsfarbe”.

Das Märchen vom Jupp im Glück geht einfach
weiter.

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