Einst verstrahltes Atomdorf macht ganz Japan neidisch | ABC-Z

Futaba. Futaba in Fukushima galt als verlorenes Atomdorf – doch plötzlich ziehen Menschen hierher. Was sie antreibt, könnte ganz Japan verändern.
„Da sind News vom Tag, als hier die Welt zusammenbrach“, flüstert Kenichiro Hiramoto. Arabischer Frühling, japanische Astronauten, der Fußballstar Ryo Miyaichi: Das waren die Nachrichten, die sie auch hier in Futaba an der japanischen Ostküste hätten lesen sollen. Jetzt werden die alten Zeitungsausschnitte im „Museum über die große Erdbeben- und Nuklearkatastrophe von Tohoku“ aufbewahrt. Hiramoto zeigt um sich: „Am nächsten Tag war dann das hier in allen Zeitungen.“
Futaba ist die wohl berühmteste Atomruine der Welt. Und das Museum in Futaba, in dem Hiramoto leise spricht, um die anderen Besucher nicht zu stören, erzählt den Hergang rund um den 11. März 2011, als Japan vom größten Desaster seiner jüngeren Geschichte erschüttert wurde: Auf ein Erdbeben der Stärke 9,0 folgte ein bis zu 40 Meter hoher Tsunami, der dann für Kernschmelzen in drei von sechs Atomreaktoren des Kraftwerks Fukushima Daiichi sorgte. Hunderttausende verloren ihr Zuhause, 20.000 Menschen starben. „Es war die Hölle“, sagt der Museumsmitarbeiter.
Fukushima: Das Atomdorf Futaba ließ Hiramoto nicht mehr los
Kenichiro Hiramoto, ein bulliger Mann mit tiefen Stirnfalten, erzählt von jenem schweren Tag, als wäre er dabei gewesen. Dabei lebte er da noch in seiner Heimatstadt Yokohama, südlich von Tokio. Ins 250 Kilometer nördlich gelegene Katastrophengebiet kam er erst kurz darauf. „Mir tat das alles so leid, ich wollte helfen“, sagt er. Als Übersetzer für aus Indien geschickte Retter kam er nach Futaba, erklärte dort ausländischen Feuerwehrmännern, wo es verschütteten Menschen wehtat. Und dann ließ ihn die Gegend nicht mehr los.

Das beschädigte Atomkraftwerk Fukushima nach der Katastrophe vom 11. März 2011.
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„Futaba ist mir ans Herz gewachsen“, sagt Hiramoto, der bis dahin im Gastrobereich in Yokohama gearbeitet hatte, als er durchs Katastrophenmuseum führt. „Die Menschen sind viel herzlicher als in den Großstädten, die Luft ist besser, man hat viel mehr Platz.“ Hiramoto hat dem sicheren und wirtschaftlich potenten Yokohama den Rücken gekehrt und lebt heute in Futaba – einem Ort, den man japanweit als Standort der Atomruine kennt, der also für hohe Strahlenwerte berüchtigt ist. Und Hiramoto ist nicht der einzige, den es in den Katastrophenort zog.
Vor drei Jahren, im August 2022, hob Japans Regierung die Evakuierungsanordnung für Futaba auf, rief Menschen damit also zur Rücksiedlung in den Ort auf, der an den Tagen um den Reaktorgau binnen kürzester Zeit zum Geisterort geworden war. Dort, wo der Tsunami nicht alles verschluckt hatte, waren in Schulen Mathehefte auf dem Tisch liegengeblieben, in Wohnhäusern die Wäsche in der Maschine. Verlassene Gebäude sieht man bis heute in dieser Stadt, die Anfang März noch 7.000 Menschen gezählt hatte.

Der Tsunami sorgte 2011 für schwere Verwüstungen und löste eine Kernschmelze im Kernkraftwerk Fukushima aus.
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Die neuen Einwohner kommen aus ganz Japan
Jetzt, wo die Messungen der Regierung Strahlenwerte ergeben, die unterhalb des Grenzwerts liegen, zählt Futaba nur 187 Einwohner. Die allermeisten von denen, die vor der Katastrophe hier ihr Zuhause hatten, begannen über die Jahre danach ein neues Leben anderswo. Aber irgendwie ist Futaba trotzdem ein pulsierender Ort. Das Museum mit Meerblick, in jene Richtung, von wo einst der Tsunami kam, ist nur ein Grund dafür. Bedeutender sind die Menschen hier – selbst wenn es noch nicht viele sind.

Kenichiro Hiramoto ist einer der Zugezogenen in Futaba. Früher arbeitete er in der Gastronomie in der Großstadt Yokohama, jetzt ist er Mitarbeiter im Katastrophen-Museum.
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Die Hälfte derer, die heute in Futaba leben, sind nämlich nicht Zurückgezogene, sondern gänzlich Zugezogene. Wie Hiramoto, der über die Jahre seiner je wochenlangen Hilfseinsätze in der Region die Herzlichkeit und die Weitläufigkeit der Orte zu schätzen lernte, haben sich aus ganz Japan Menschen für ein Leben in der von der Katastrophe geschüttelten Provinz entschieden. Teils aus Schuldgefühlen, teils um aus dem Stadtleben auszusteigen. So blüht Futaba, auch wenn es kleiner ist als früher.
Im Ortszentrum, knapp 100 Meter von der nach dem Desaster wiederaufgebauten Bahnstation entfernt, tummeln sich Menschen um das „Alu Café“, eine in diesem Jahr eröffnete Kaffeerösterei. „Macht 500 Yen!“, nickt Ryo Fukasawa, ein 28-Jähriger aus dem viel weiter nördlich gelegenen Akita, der aus einem Fenster Bestellungen für Cappuccino oder Eiskaffee annimmt. Schick sieht der Laden aus, die blitzende Fassade lenkt von den Erdbebenruinen ab, die unweit ebenso zu sehen sind.

Ryo Fukasawa ist Röstereibetreiber in Futaba.
© privat | Felix Lill
Der Röstereibetreiber Fukasawa wollte helfen, und sah seine Chance. „Für die Gründung eines Unternehmens gab es günstige Konditionen und Unterstützung von der Regierung“, erklärt er, während im Hintergrund seine allermodernste Elektromühle brummt. „Ich hatte schon früher einen Freund in der Region. Dann wurde ich mit der Uni fertig und konnte einen neuen Schritt wagen.“ Und nun wohnt er eben hier. „Es ist hier überhaupt nicht langweilig. Hör doch mal!“
Futaba ist ein Vorbild für ganz Japan
Draußen vor der Tür des Alu Café hat Chitose Ishida, ein Musikstudent aus Tokio, ein Keyboard aufgebaut und spielt bekannte Melodien aus Animefilmen, Wiener Klassik und der Popgeschichte. „Kannst du auch Pokémon?“, fragt ein kleines Mädchen ein bisschen schüchtern. Ishida, der jeden Monat mit seinem Keyboard zum Spielen herreist, lächelt. Und spielt los. Am frühen Nachmittag ist rund um das E-Piano vorm neuen Café jetzt Miniparty. Kinder tanzen, Eltern schlürfen Kaffee, man lacht.

Chitose Ishida ist Musikstudent aus Tokio, er spielt an seinem Keyboard.
© privat | Felix Lill
Befindet sich Futaba, das ganz Japan eben als Ort der Tragödie kennt, vor dem viele Menschen gar Angst haben, auf dem Weg zur Erholung? Schon die nach wie vor geringe Einwohnerzahl lässt auf den ersten Blick an einem Urteil zweifeln. Auch die vielen Ruinen täuschen über die Fortschritte, für die all die modernen und durch neue Streetart geschmückten Gebäude stehen, kaum hinweg. Und doch ist Futaba besonders, auf eine Weise gar ein Vorbild für ganz Japan.
„Wir sind ein echt bunter Haufen geworden!“, sagt zum Beispiel Trish Banerjee, ein an der Tohoku Universität im weiter nördlich gelegenen Sendai beschäftigter Forscher, der regelmäßig eine Walkingtour durch Futaba anbietet, um die Stadt zu erklären. Auch er wohnt in der Nachbarschaft. „Futaba und die Orte drumherum sind besser als ihr Ruf“, findet der gebürtige Inder. Radioaktive Strahlung liege heute an freigegebenen Orten deutlich unter den Schwellwerten, nicht viel höher als in Tokio oder anderen Städten.
Ein Zugezogener sagt: „Ich fühlte mich schuldig“
Nahezu herausragend ist Futaba aber auf andere Weise, nämlich in Sachen Diversität. Ein Ort, der zur Hälfte aus Zugezogenen besteht, dürfte auf dieser Ebene fast der Neid des Rests Japans sein. Denn inmitten einer mittlerweile seit Jahrzehnten alternden und auch schon lange schrumpfenden Bevölkerung bemühen sich Kommunen im ganzen Land um neue Bewohnerinnen. Einige Orte bieten Zuzugsprämien, andere praktisch Gratishäuser. An allen Ecken mangelt es an Arbeitskräften, sodass Industrien abziehen.
„Und wir versuchen, neuzuwachsen“, sagt Tatsuhiro Yamane, während er mit seiner kleinen Tochter auf dem Arm an der einstigen Bank des Orts vorbeigeht, die nach dem 11. März schloss und bis heute nicht wieder geöffnet hat. „Schritt für Schritt gelingt uns das, denke ich.“ Wie Viele hier kam Tatsuhiro Yamane, der aus der Hauptstadt ist, nach dem Desaster als Hilfsarbeiter, unterstützte die Evakuierten mit Seelsorge. „Der Strom aus dem Atomkraftwerk hier geht nach Tokio“, sagt Yamane. „Ich fühlte mich schuldig.“

Tatsuhiro Yamane kam als Katastrophenhelfer nach Futaba, heute lebt er mit seiner Familie hier.
© privat | Felix Lill
Yamane heiratete eine aus Futaba evakuierte Frau, hat heute zwei Kinder mit ihr, engagiert sich als Lokalpolitiker im Ort. Ob er für Futaba optimistisch ist? „Der Weg ist noch so weit“, sagt er, klopft seiner Tochter auf den Rücken. „Aber einige Bauern haben zum Beispiel schon angefangen, hier wieder Reis anzubauen.“ Natürlich werde darauf geachtet, dass dieser auch sicher sei. Die Symbolkraft wäre groß.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Damit Futaba ein Ort wird, der sich als wiederaufgebaut verstehen kann, bräuchte es auch eine neue Generation. Denn mit der Rücksiedlung ab 2022 kamen vor allem ältere Menschen, die sich anderswo nicht hatten einleben können, wieder nach Futaba. Heute mangelt es hier umso mehr an Nachwuchs. Tatsuhiro Yamane streichelt seine Tochter. „Das Gute ist, dass ein paar Zugezogene noch kinderlos sind.“ Die könnten also bald Nachwuchs produzieren. Und dann öffnet vielleicht auch wieder ein Kindergarten.