Grundsatzprogramm der SPD: Wie die SPD ihre Erneuerung wegverwaltet | ABC-Z

Die SPD weiß es ja selbst. “Wir sind zu langweilig!” Nicht alle sagen es so deutlich wie der ehemalige Arbeitsminister Hubertus Heil auf dem letzten SPD-Parteitag. Aber man trifft seit Längerem keine Genossen mehr, die diese Selbstdiagnose nicht teilen. Die Themenspeicher seien leer, es gebe keine neuen Ideen mehr in der Schublade. So oder ähnlich lauten seit Monaten die – nicht besonders einfallsreichen – Metaphern, die man in der SPD verwendet, um zu sagen: Es muss ganz dringend etwas passieren. Sonst war’s das mit der Volkspartei.
Seit ihren 16,4 Prozent bei der Bundestagswahl hat die SPD dafür aber bisher nur einen groben Rahmen gesetzt: Ein neues Grundsatzprogramm bis 2027 soll der Partei, wenn nicht zu alter Größe, dann zumindest zu einer neuen, attraktiveren Identität verhelfen.
Funktioniert hat das allerdings schon einmal nicht: 2007 gab sich die SPD das letzte Grundsatzprogramm. Zuvor hatte sie nach Gerhard Schröders Agenda-Reformen die Wahl an die Union verloren. Mit dem sogenannten Hamburger Programm wollte die Partei danach neue Schwerpunkte setzen: Mindestlohn, gesetzliche Rente für alle, Vermögensteuer. Bei der Bundestagswahl 2009 stürzte sie dennoch weiter ab: auf nur noch 23 Prozent, 11 Prozent weniger als bei der vorherigen Wahl.
Heute, bei 15 Prozent in Umfragen, ist die Krise längst existenziell. Ein paar neue Schwerpunkte werden diesmal erst recht nicht reichen. Doch bisher gibt es nicht mal die. Stattdessen sieht es so aus, als würde die Partei ihre Neuorientierung wegverwalten. Für das neue Grundsatzprogramm hat der Parteivorstand – in Abstimmung mit dem verantwortlichen Generalsekretär Tim Klüssendorf – vor wenigen Wochen eine dreiköpfige Steuerungsgruppe berufen. Die wiederum soll einem 30-köpfigen Programmrat vorstehen. Viel Struktur. Aber noch kein Impuls.
Derweil reißen die schlechten Nachrichten nicht ab. Zuletzt: nur noch 19 Prozent für die regierende SPD in Mecklenburg-Vorpommern laut einer Umfrage, bei 38 Prozent AfD. Außerdem der Verlust des Dortmunder Rathauses nach 80 Jahren. Es ist nicht so, als würde das den Genossen nicht selbst die größten Sorgen bereiten. Nur sind diese schlechten Nachrichten eben Teil des Problems. Man könne die “Mutlosigkeit fast riechen”, sagt ein führendes SPD-Mitglied. Um sich zu erneuern, müsste sich die Partei auf grundlegende Debatten einlassen, wie sie sich positionieren und wen sie erreichen wolle. Auch auf Streit. Doch Streit kommt nicht gut an, das ist auch dem Genossen bewusst. Erst recht nicht in einer Regierungspartei.
Den Streit hat die SPD deshalb vorsorglich eingehegt, noch bevor die erste Debatte geführt ist. “Bei grundsätzlichen politischen Zielkonflikten liegt die Entscheidung beim Präsidium”, heißt es in dem Einsetzungsbeschluss der neu geschaffenen Programmgremien, der der ZEIT vorliegt. Allzu grundsätzlich kann es unter diesen Voraussetzungen nicht werden.
Ein paar Genossen immerhin sind in Unruhe
Zoom-Anruf bei einer Genossin, die mit Mutlosigkeit wenig zu tun hat: Gesine Schwan. Die 82-Jährige ist Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD. Dem Gremium, das seit Willy Brandts Zeiten in der SPD dafür zuständig ist, die erwähnten Themenspeicher zu füllen. “Natürlich haben die Leute Angst vor Flügelkämpfen”, sagt sie, “weil es in den Medien dann gleich wieder heißt, die SPD sei handlungsunfähig, im Streit versunken.” Aber: “Da muss man durch. Schließlich geht es hier um klugen Sachstreit.” Und für den, glaubt Schwan, hätten die Leute im Gegensatz zu Personalstreit durchaus etwas übrig.
Mit ihr im Zoom-Call sind Gustav Horn und Henning Meyer, ihre beiden Stellvertreter im Vorstand der Grundwertekommission. Meyer ist Sozialwissenschaftler und Publizist, auch in der ZEIT hat er Analysen zur SPD veröffentlicht. Horn ist Wirtschaftswissenschaftler, ehemaliger Direktor des IMK – des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung – und ehemaliges Mitglied des SPD-Parteivorstands. “Ich hatte schon recht tiefen Einblick in die inneren Mechanismen dieser Partei”, sagt Horn. “Und das beruhigt mich nicht.” Auch er sieht die Gefahr, die SPD könnte ihre Erneuerung wegbürokratisieren, als sich den Herausforderungen zu stellen.
Mitte August sind die drei deshalb in Unruhe. Seit dem Parteitag, auf dem beschlossen wurde, ein neues Grundsatzprogramm zu erarbeiten, sind zwei Monate vergangen. Der Zeitplan sei ohnehin eng gesteckt, zu eng, um grundlegend Neues zu schaffen, finden sie. Doch als Vertreter des ältesten Ideengremiums der SPD wollen sie einbezogen werden. Nur antworte SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf jetzt nicht einmal mehr auf ihre E-Mails.
Das sind die Mitglieder der Grundwertekommission auch schon von früheren Generalsekretären gewohnt. Aber: “Wenn jetzt keine deutliche Änderung in der Kommunikation stattfindet, sehen wir die Zukunft der SPD ernsthaft gefährdet”, sagt Schwan im August. Einige Tage später schreibt sie, sie habe Klüssendorf erneut kontaktiert und diesmal eine Antwort von seinem Assistenten bekommen. Klüssendorf sei im Urlaub gewesen, ihre Mails habe er auf dem Handy wohl übersehen. “An unseren inhaltlichen Sorgen und Kritikpunkten in Bezug auf den Zustand der SPD ändert dies nichts”, schreibt Schwan.
Für sie, Meyer und Horn ist klar: Eine neue sozialdemokratische Emanzipationserzählung muss her, und zwar dringend. Keine kleinen Pflaster mehr, um einzelne Missstände zu beheben, ein paar Kitaplätze hier und etwas mehr Lohn da. Politik dürfe nicht als Tauschgeschäft einzelner Maßnahmen gegen Wählerstimmen verstanden werden. Stattdessen müsse die SPD wieder den Anspruch haben, ein Zukunftsversprechen für die gesamte Gesellschaft zu entwickeln. Ein erster Test stehe unmittelbar bevor: “Wie man die 500 Milliarden gerecht und partizipatorisch verteilt – das ist der Anwendungsfall einer neuen sozialdemokratischen Vision”, sagt Schwan.





















