Freising: Historische Rezepte aus dem 19. Jahrhundert – Freising | ABC-Z

Im Jahr 2001 kam im Freisinger Stadtarchiv ein unscheinbares Paket an. Es stammte vom Münchner Architekten Georg Pezold, der der Stadt mehrere historische Dokumente überließ, darunter zwei handgeschriebene Kochbücher. Diese stammten aus dem Besitz der Familie seiner Mutter, den Sporrers – eine der bedeutendsten Freisinger Brauer- und Wirtsfamilien des 19. Jahrhunderts. Vor allem Franz Seraph Sporrer ist für die Stadtchronik ein wichtiger Name: Der Wirt, Unternehmer und spätere Bürgermeister der Stadt ließ in den 1830er- und 1840er-Jahren drei Gebäude an der Unteren Hauptstraße abreißen und an ihrer Stelle einen großen Neubau errichten: den Kern des späteren „Bayerischen Hofs“.
Der Bayerische Hof ist ein denkmalgeschütztes Hotelgebäude in der Freisinger Altstadt, das noch im Betrieb ist und sich seit 1889 im Besitz der Familie Dettenhofer befindet. Seine Geschichte ist nicht irgendeine: Bereits in den 1850er- und 1860er-Jahren sollen sich im Anwesen Mitglieder der bayerischen Königsfamilie aufgehalten haben. Folglich war die Küche des Gasthofes, der damals noch einen anderen Namen trug, keine normale Küche, sondern eine, die den anspruchsvollen Gaumen befriedigen sollte. Und da kommt nun wieder Pezolds Paket ins Spiel.
Zu den Unterlagen, die dem Freisinger Stadtarchiv überlassen wurden, gehören nämlich etwa Menüzettel, Rechnungen und eben jene beiden Kochbücher. Das umfangreichere der beiden Hefte umfasst 133 dicht per Hand beschriebene Seiten mit 288 Rezepten, die inhaltlich von Suppen, Saucen und Beilagen bis hin zu besonderen Gerichten wie Aprikosen-Auflauf oder Filet-Frikadellen mit Sardellen und Zitronen reichen. Es handelt sich hierbei zweifelsfrei um historische Aufzeichnungen, auf mehreren Blättern ist die Jahreszahl 1867 zu lesen. Die Handschrift stammt von nur einer Person, der Autor oder die Autorin ist nicht bekannt.
Nun haben Reinhard Fiedler, Christian Fiedler und Heidi Scholz für den Concept Store „Aus dem Hinterland“ das Buch bearbeitet und herausgegeben. „1867. Kochen im Hotel Bayerischer Hof. Ein Freisinger Kochbuch“ heißt der Band. Darin sind die ersten 140 Rezepte im Originaltext und in moderner Übersetzung mit Wissenswertem über die bayerische Gastronomie zu lesen. Ob sie in der Umsetzung tatsächlich geschmeckt haben, das lässt sich heute nicht mehr sagen. Von der Rezeptur her könnten sie aber auch in modernen Kochbüchern auftauchen. Sicher ist aber, dass das Buch Einblicke in die regionale Ess- und Küchenkultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt – und in die Trends, die sich damals etablierten.
In Bayern, besonders in Regionen wie Niederbayern oder Oberpfalz, wurde zu der Zeit überwiegend einfach und kostengünstig gekocht. Die meisten Haushalte lebten von dem, was Felder und Ställe hergaben. Gunther Hirschfelder, Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg mit Schwerpunkt Ernährungs- und Agrarforschung, erklärt, dass ein Lebensmittelimport, wie wir ihn heute kennen, damals gar nicht stattfand. „Für einen großen Teil der bayerischen Bevölkerung im Jahr 1867 stammten die Lebensmittel aus einem Umkreis von 20 oder 30 Kilometern“, sagt der Professor.
Der Fleischkonsum in Bayern war zwar damals höher als in anderen deutschen Gegenden, aber wesentlich geringer als heute. Hirschfelder geht für die damalige Zeit von einem jährlichen Pro-Kopf-Verzehr von Fleisch von durchschnittlich 30 Kilogramm aus, zum Vergleich: Heute liegt er bei 52 Kilogramm und ist stark rückläufig, im Jahr 1990 lag er zum Beispiel bei rund 65 Kilogramm. Dennoch gab es große regionale Unterschiede – und nicht nur diese. „Essen spiegelt immer eine Hierarchie wider“, sagt der Professor. In dieser standen arbeitende Männer ganz oben und alte Frauen sowie Kinder ganz unten. Das bedeutet, dass erstere mehr Fleisch und allgemein mehr zu essen bekamen als letztere.
In den Gaststätten gab es überwiegend einfache Gerichte, weil die Kochkünste nicht besonders raffiniert waren und meist nur wenige Zutaten wie Wurst, Kraut und Brot zur Verfügung standen. Doch es gab Ausnahmen – und auch in der Provinz begann man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam, nach den Trends zu kochen. Zumindest zu besonderen Anlässen.


Das Angebot des Freisinger Hotels Bayerischer Hof dürfte eine dieser Ausnahmen sein. Zwar gehören zum Kochbuch einfache, klassische Rezepte, etwa Kartoffelknödel, Grießnockerl, Milzwürste mit Kraut und andere Gerichte, bei denen es darum ging, Reste zu verwerten. Aber aufgelistet sind auch durchaus komplexere Speisen. „Sardellen, Mandeln oder Zitronen waren Lebensmittel, die beim Großbürgertum in Mode waren und im oberen Preissegment lagen“, sagt der Professor. Mit der Alltagsküche hatten diese Zutaten jedoch nichts zu tun: Für 90 Prozent der bayerischen Bevölkerung waren sie überhaupt nicht vorstellbar. Hirschfelder bezeichnet den damaligen Bayerischen Hof deshalb als „einen kulinarischen Leuchtturm“, er erkennt in den Gerichten die Nähe zur Großstadt München.
Und heute? Anfang November hat nach langer Schließung das Restaurant des Bayerischen Hofs wieder geöffnet. Die neuen Pächter, der Koch Timo Siller und der Restaurantfachmann Moritz Pfeifer, haben es „Pfeillers“ genannt, eine Fusion ihrer Nachnamen. Sie fühlen sich in Freising sehr gut angenommen und ja, natürlich kennen sie das Freisinger Kochbuch von 1867.
Timo Siller erklärt, dass man heutzutage deutlich mehr auf Allergene achten muss als früher. „In meiner Schweinebratensoße verwende ich zum Beispiel keine Mehlschwitze mehr, sondern Maisstärke, die für die Verträglichkeit besser ist“, erzählt er. Viele Rezepte aus dem Freisinger Kochbuch scheinen ihm aber noch zeitgemäß zu sein. In den nächsten Wochen hat er vor, einige davon für sich und sein Team auszuprobieren. Und wenn sie tatsächlich schmecken, versichert er, werden sie auch auf die Teller kommen.





















