Geisel-Mutter sieht Sohn wieder – „Du bist mein Leben“ | ABC-Z

„Ich kann nicht mehr, es ist zu aufregend“, schluchzt eine junge Frau und fällt ihrer Freundin in die Arme, nun weinen sie gemeinsam. Soeben ist ein Helikopter über ihren Köpfen vorbeigezogen. Der Hubschrauber der israelischen Armee war auf dem Weg zum nahegelegenen Ichilov-Krankenhaus in Tel Aviv. Doch bevor er zur Landung ansetzte, drehte er zwei zusätzliche Runden über den Zehntausenden Menschen, die sich rund um den „Platz der Geiseln“ in Tel Aviv versammelt hatten. Die Menschenmenge schrie, klatschte, winkte und weinte. „Wir lieben euch“, riefen ein paar.
Im Helikopter saßen Ziv und Gali Berman. Die Zwillinge waren am 7. Oktober 2023 von ihrem Zuhause im Kibbutz Kfar Aza verschleppt, gefoltert und getrennt voneinander festgehalten worden. Nun, mehr als zwei Jahre später, wurden sie wieder vereint, nachdem die Hamas Montagmorgen die ersten sieben von zwanzig lebenden Geiseln ans Rote Kreuz in Gaza übergeben hatte. Von dort wurden sie zu einem Posten der israelischen Armee gebracht. Gegen 9.30 Uhr betraten sie zum ersten Mal nach zwei Jahren wieder israelischen Boden.
Montagvormittag war es so weit: Alle noch lebenden Geiseln waren aus der Gewalt der Hamas entlassen. Im Laufe des Morgens drängten immer mehr Menschen zum Platz der Geiseln beim Museum für Moderne Kunst in Tel Aviv: Alte, Junge, Eltern mit kleinen Babys, Religiöse und Säkulare. Sie trugen T-Shirts mit Fotos der Geiseln, aber auch mit Slogans wie „Hoffnung“ und „Es kommt ein neuer Tag“. Jedes Mal, wenn eines der von der Armee freigegebenen Fotos der zurückgekehrten Geiseln auf einer der Leinwände erschien, brach die Menge in Jubel aus. Israel-Fahnen wurden geschwenkt, aber auch USA-Fahnen und Bilder von US-Präsident Donald Trump. Nur einen Namen erwähnte niemand: den des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Nur im Umkreis des Geiselplatzes sah man das Gesicht des Ministerpräsidenten, schwarz auf rotem Hintergrund, bewusst diabolisch gezeichnet. Darunter die Worte: „Mörder der Geiseln“.
Hamas-Geiseln sind frei: „Ich glaube, das ist der beste Tag meines Lebens“
Auf dem Platz der Geiseln fand Politik am Montag nicht statt. Es war ein Tag der Feier, der Erleichterung, der kollektiven Euphorie. Kinder spielten mit gelben Ballons – gelb, die Farbe der Geisel-Protestbewegung, die hier, am Platz der Geiseln, in den vergangenen zwei Jahren ihren Mittelpunkt fand.
Die Zwillinge Ziv (l.) und Gali (r.) Berman sind nach mehr als zwei Jahren wieder vereint.
© AFP | Handout / Israelische Armee
„Ich glaube, das ist der beste Tag meines Lebens“, sagt Barak. Der 46-jährige Vater von drei Kindern hat in den letzten zwei Jahren kaum eine Demonstration hier verpasst. Wie viele Israelis kennt auch Barak Menschen, die vom Massaker am 7. Oktober persönlich schwer getroffen wurden. Die Tante seiner Schwägerin wurde ermordet. Seine enge Freundin bangte um ihren Cousin Tal Shoham, der erst nach 500 Tagen aus der Hamas-Gefangenschaft befreit wurde.
Barak hat sich auf den heutigen Tag vorbereitet. Er hält einen Karton hoch, auf den er ein Liedzitat des israelischen Songwriters Yaakov Rotblit gemalt hat: „Werden wir in der Lage sein, neu geboren zu werden?“ Der 7. Oktober habe dieses Land verändert, er habe Seelen schwer verwundet, sagt Barak. Es werde einige Zeit dauern, bis sich die Menschen davon erholt haben, aber es werde gelingen. „Der heutige Tag ist ein guter Anfang.“
Es sei aber nicht genug, alle Geiseln zurückzubringen und die Waffen ruhen zu lassen, glaubt der Projektmanager an der Bar-Ilan-Universität. „Damit meine Kinder eine bessere Zukunft haben, brauchen wir Frieden mit den Palästinensern.“ Ob es auf der anderen Seite einen Partner dafür gibt? „Einen Partner gibt es immer“, glaubt Barak.
Manchen freigelassenen Geiseln fällt das Gehen sichtlich schwer
Nach und nach erscheinen auf der Großleinwand neue Bilder der zurückgekehrten Geiseln. Omri Miran, der von seiner Familie im Kibbutz Nahal Oz getrennt und nach Gaza verschleppt worden war, als seine Töchter zwei Jahre und sechs Monate alt waren. Nun sieht man Omri und seine Frau Lishai in enger Umarmung. Die Menge jubelt.
Avinatan Or ist 2023 vom Nova-Festival entführt worden.
© AFP | MENAHEM KAHANA
Man sieht Avinatan Or, der vom Nova-Festival verschleppt worden war. Der Schnurrbart, den ihm die Hamas-Leute verpasst haben, ist auf einem Foto zwei Stunden später bereits abrasiert.
Dann taucht Eviatar David auf der Leinwand auf: Das letzte Mal, als die Israelis ihn gesehen hatten, schaufelte er in einem unterirdischen Tunnel in Gaza sein eigenes Grab, abgemagert bis aufs Gerippe. Mager ist er noch immer, doch er kann auf eigenen Beinen stehen.
Als Nächstes ist Einav Zangauker zu sehen – die Leitfigur der Proteste für die Rückkehr der Geiseln. Im engen Gang des Aufnahmezentrums in Reim läuft sie ihrem Sohn Matan entgegen, der von seinem Zuhause im Kibbutz Nir Oz verschleppt worden war. „Du bist mein Leben, du bist mein Leben“, ruft Zangauker, als sie ihn umarmt.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Manchen der freigelassenen Geiseln fällt das Gehen sichtlich schwer. Bis geklärt ist, welche Folgeschäden die zwei Jahre andauernde Folter verursacht hat, werden laut Ärzteteam noch mehrere Wochen vergehen.
Zehntausende Menschen haben sich rund um den „Platz der Geiseln“ in Tel Aviv versammelt.
© AFP | MENAHEM KAHANA
Die Rückführung der toten Geiseln wirft Fragen auf
Indes stellt sich die Frage, inwieweit die Hamas die Bedingungen des Deals respektiert hat. Sie hatte sich dazu verpflichtet, im Zuge der Geiselübergabe keine entwürdigenden Zeremonien zu veranstalten. Anders als zuvor gab es diesmal zwar keine Bühne, auf der die Geiseln der Menge in Gaza vorgeführt wurden. Die Hamas nutzte jedoch die Medienaufmerksamkeit für eine andere Art der Inszenierung. Sie arrangierte Videoanrufe der Geiseln mit ihren Familien – zu einem Zeitpunkt, als sich die Verschleppten noch in der Gewalt der Hamas befanden. Es waren kurze Telefonate in schlechter Qualität, die den Angehörigen das Bild vermitteln sollten, dass es den Geiseln gut gehe. Zugleich demonstrierten die Terroristen, dass das Schicksal der Geiseln immer noch in ihrer Hand lag.
Auch die Rückführung der toten Geiseln wirft Fragen auf. Die Hamas konnte am Montag nur vier Leichname an Israels Armee übergeben. Der Deal sah vor, dass sämtliche 28 toten Geiseln in den ersten drei Tagen übergeben werden. Israel sollte im Gegenzug für jeden Leichnam 15 tote Palästinenser an ihre Familien übergeben. Die Freilassung der palästinensischen Gefangenen fand am Montag wie im Deal verankert statt. Sie wurden nicht nur ins Westjordanland und nach Gaza gebracht: Bei 154 Palästinensern schätzten Israels Geheimdienste einen Verbleib in den Palästinensergebieten als zu gefährlich ein – sie wurden nach Ägypten abgeschoben.
Auf dem Geiselplatz feiern die Tausenden Aktivisten, die sich in den vergangenen zwei Jahren für die Rückkehr der Geiseln starkgemacht haben, nur einen ersten Erfolg. Von einem Ende des Protests wollen sie noch nicht sprechen. „Wir werden weiter hier demonstrieren, bis die letzte Geisel in Israel ist“, sagt Oren, der in den vergangenen zwei Jahren jedes Wochenende am Platz der Geiseln verbracht hat. Er trägt ein T-Shirt mit dem Portrait der verstorbenen Geisel Hadar Goldin. „Bevor er zurückkommt, werden wir diesen Platz nicht räumen“, sagt Oren.













