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Von Halle an die Spitze der Stabi – München | ABC-Z

„Sind diese Farben nicht faszinierend?“, fragt sie jetzt ihren Besuch, während sie auf ein Motiv von Hasui Kawase aus dem Jahr 1925 blickt. „Schauen Sie mal, wie die Schneeflocken im Wind treiben und wie die Frau im Kimono sich dagegen stemmt.“

Sich gegen den Wind stemmen – das kommt ihr womöglich bekannt vor. Aber dazu gleich mehr.

Natürlich ist die Generaldirektorin der größten wissenschaftlichen deutschen Universalbibliothek mit zehn regionalen Dependancen und internationalen Kooperationen vor allem Managerin und hat kaum Zeit für solche Vergnügen. Und eigentlich muss sie ihren Schreibtisch auch gar nicht verlassen: Ein Großteil der Bestände – Bücher, Handschriften, Drucke, Weltkarten, Fotos – ist digitalisiert. Mit wenigen Klicks kann man sich das Logbuch des Weltumseglers Sir Francis Drake auf den Bildschirm holen, eine Gutenberg-Bibel oder die Münchner Neuesten Nachrichten – den Vorgängertitel der Süddeutschen Zeitung.

Ehrfurcht einflößend: das Treppenhaus der Bayerischen Staatsbibliothek. (Foto: Yoav Kedem)

Mehr als fünf Millionen digitale Objekte aus den Sammlungen sind online verfügbar, der Zugang ist frei. Für Spezialaufgaben wie kostbare Papyri aus der Antike oder alte Handschriften unterhält die Staatsbibliothek ein eigenes Digitalisierungszentrum. Alles andere, was vom Urheberrecht freigegeben ist, digitalisiert Google, schon seit 2007. Der Konzern übernimmt alle Kosten und erhält dafür eine digitale Kopie jeden Objekts, eine Kopie bleibt im Besitz der BSB.

Das Fotoarchiv des Magazins S tern  mit seinen 15 Millionen Abzügen, Negativen und Dias gilt als das visuelle Gedächtnis der Bundesrepublik von 1948 bis 2001. Nach seiner Übernahme stellt die Bayerische Staatsbibliothek in dem Portal www.stern-Fotoarchiv.de sukzessive alle Bilder online. 
Das Fotoarchiv des Magazins Stern mit seinen 15 Millionen Abzügen, Negativen und Dias gilt als das visuelle Gedächtnis der Bundesrepublik von 1948 bis 2001. Nach seiner Übernahme stellt die Bayerische Staatsbibliothek in dem Portal www.stern-Fotoarchiv.de sukzessive alle Bilder online.  (Foto: Hans-Rudolf Schulz/BSB)

Als Dorothea Sommer vor zehn Jahren aus Halle nach München wechselte, war es nicht zuletzt ihre Erfahrung in diesen hoch komplexen Digitalisierungsprojekten, die sie als stellvertretende Generaldirektorin prädestinierte. Heute kann sie sagen: „Die Quantität an digitalen Objekten, die Qualität und Vielfalt an Suchoptionen, die wir bieten, findet man so in keiner anderen deutschen Bibliothek.“ Deshalb ist die BSB für Wissenschaftler aus Bayern und aller Welt eine wichtige Adresse bei der Suche nach Fachinformationen.

Mit der Künstlichen Intelligenz tun sich neue Möglichkeiten auf. Die Experten der BSB haben eine bildähnliche Suche entwickelt. Sie trainierten das System darauf, einzelne Motive – ein Gesicht, eine Landschaft, ein Wappen – zu erkennen und nach Entsprechungen in mehr als drei Millionen Bildern im Bavarikon, dem Internet-Portal für bayerische Kulturschätze, zu suchen. Die Suchoption soll auf alle digitalen Sammlungen erweitert werden.

Wie überall birgt die KI aber auch Risiken. Es sei schon passiert, erzählt Sommer, dass man ein Buch ankaufte, das, wie sich später herausstellte, mit KI erzeugt worden war und lauter Fake-Quellen enthielt. Eine versierte Historikerin entdeckte Unstimmigkeiten und informierte die BSB. „Wir müssen in Zukunft noch mehr prüfen“, sagt die Chefin. „Zum Glück haben wir Spezialisten für so viele Wissensbereiche im Haus.“

Und noch etwas beschäftigt alle, die beruflich mit KI zu tun haben: Wird sie die eigene Arbeit bald schneller und effizienter leisten? Nun, sagt Sommer, bei der Katalogisierung nach formalen Kriterien, also etwa nach Titel, Autor, Erscheinungsjahr, wäre das denkbar. „Die Deutsche Nationalbibliothek prüft das gerade.“ Aber niemand brauche sich Sorgen um seinen Arbeitsplatz zu machen. „Wir hätten dann umso mehr Kapazität für die andere Aufgaben. Das Einordnen und Bewerten der Literatur für die Verbreitung im Internet benötigt sehr viel intellektuellen und juristischen Sachverstand.“

Dorothea Sommer ist auch Spezialistin für Bibliotheksbau – eine wichtige Kompetenz, wenn man ein Haus mit 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, täglich etwa 4000 Nutzern und ständig neuen technischen Anforderungen so gestalten will, dass der Betrieb reibungslos läuft, alle zufrieden sind und die Sicherheit der kostbaren Schätze gewahrt bleibt.

Die „Plaza“ lockert das Foyer im ersten Stock auf.  
Die „Plaza“ lockert das Foyer im ersten Stock auf.   (Foto: Catherina Hess)

Dass die „Stabi“, wie Münchner Studierende die Bibliothek seit je her liebevoll nennen, jetzt eine „Plaza“ hat, mit roten runden Sitzmöbeln, war Sommers Idee. Es lockert den pompösen Prachtbau von König Ludwig I. ein wenig auf. „Das ist ja schon eine Machtarchitektur“, sagt sie und lächelt. „Aber in den hohen Räumen können sich die Gedanken gut entfalten.“ Man spürt, dass ihr Macht kein Bedürfnis ist. Einfluss schon, Gestalten-Wollen, aber vor allem: Menschen integrieren. Sie überlegt, wie man das Haus noch mehr für die Stadtgesellschaft öffnen könnte, mit Lesungen, Ausstellungen, Diskussionen.

Bei baulichen Fragen kommt ihr zugute, dass sie viele Bibliotheken auf der ganzen Welt besichtigt hat, weil sie einige Jahre in der internationalen Bibliotheksvereinigung IFLA tätig war. In ihrer Heimatstadt Halle hat sie nach der Wende die Neuorientierung der geschichtsträchtigen Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt (ULB) begleitet. An die Aufbruchstimmung damals erinnert sie sich gerne: „Da konnte man in kurzer Zeit sehr viel bewegen.“

In Halle ist Dorothea Sommer 1962 geboren, und dass sie eines Tages Bibliothekschefin in Bayern werden würde, war keineswegs vorgezeichnet. „Ich hatte eine gute Kindheit“, sagt sie. Sie war in einer Chorklasse, lernte Klavier. Ihre Eltern stammten aus Böhmen, die Familie wurde nach dem Krieg über ganz Deutschland und bis nach Amerika verstreut. „Wir schrieben uns immer viele Briefe“, erzählt sie. Als die Eltern in Rente waren, durften sie die Verwandten in Bayern auch besuchen. Die Tochter durfte das nicht. „Da habe ich mich eingesperrt gefühlt.“

Wegen des katholischen Elternhauses wollte die Partei sie auch erst nicht zum Abitur zulassen, obwohl sie eine sehr gute Schülerin war. Später wurde ihr ein Studienplatz in Romanistik und Germanistik verwehrt. Nach einigen Kämpfen wich sie auf Anglistik und Slawistik aus. Sie durfte ein Jahr nach Russland. Nach England durfte sie nicht.

Der Wind blies ihr noch ein paar Mal ins Gesicht. Sie promovierte in mittelenglischer Literatur, doch weil sie sich weigerte, in die Partei einzutreten, blieb ihr eine Hochschullaufbahn verwehrt. „Aber dann hatte ich einfach auch mal Glück“, erzählt sie. Der Fachreferent für Anglistik der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt (ULB) hatte sich in den Westen abgesetzt. Diese Stelle bekam sie.

Dann fiel die Mauer. Sie war 27 und neugierig auf die Welt. Sie ging nach England, endlich, und absolvierte dort einen Master in Bibliotheksmanagement. Sie reiste und lernte, wie Bibliotheken in anderen Ländern organisiert sind. Es waren spannende Jahre, sagt sie. Aber zuhause wehte ihr ein neuer Wind entgegen, diesmal aus dem Westen.

Sie erlebte, wie gleich nach der Wende fast alle Spitzenpositionen in den neuen Bundesländern, in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Verwaltung, mit Westdeutschen besetzt wurden. Da musste sie wieder um ihren Platz kämpfen – und setzte sich durch. 1997 wurde sie stellvertretende Direktorin, 2013 amtierende Direktorin der ULB.

Dass alte und neue Bundesländer bis heute nicht richtig zusammengewachsen sind, das führt sie auch auf diese Nach-Wende-Zeit zurück. „Und es ist ja noch immer die Ausnahme, dass man eine Spitzenposition bekleidet und aus Ostdeutschland kommt“, sagt sie, „Gerechtigkeit gibt es halt nicht.“ Es spricht kein Groll aus diesen Worten. Sie selbst ist ja ganz oben angekommen. „Aber die fehlende Wertschätzung von Ost-Biografien wirkt sich bis heute aus.“ Auch in den Wahlergebnissen, die ihr Sorgen machen.

Sie sei kreativ, aber auch pragmatisch, sagt sie von sich selbst. Vielleicht die ideale Verbindung, um sich immer wieder auf neue Situationen einzulassen. Jedenfalls sei ihr das Ankommen in Bayern damals nicht schwer gefallen. Sie habe sich vom ersten Tag an willkommen gefühlt.

Die aktuelle Ausstellung mit japanischen Farbholzschnitten zieht viele Besucher an. Der „Rote Fuji“ stammt von Katsushika Hokusai: „Südwind, klares Wetter“, aus der Serie „36 Ansichten des Berges Fuji”, 1830 – 1832.
Die aktuelle Ausstellung mit japanischen Farbholzschnitten zieht viele Besucher an. Der „Rote Fuji“ stammt von Katsushika Hokusai: „Südwind, klares Wetter“, aus der Serie „36 Ansichten des Berges Fuji”, 1830 – 1832. (Foto: BSB/Res/4 L.jap. K 405)

Seit 1. Mai ist sie Generaldirektorin. Zeit, neue Bilder ins Chefbüro zu hängen, hatte sie bisher nicht. Da hängt noch das Miami-Vice-Bild ihres Vorgängers an der Wand. „Das kommt natürlich weg“, betont sie. Sie liebt klassische Musik und genießt das Konzertangebot in München. Viel mehr Zeit für Hobbys bleibe bei den langen Arbeitstagen nicht: „Work is Life“, sagt sie und lacht. Aber auch wenn sie nicht geheiratet und keine Kinder hat, sei sie ein Familienmensch, habe eine enge Verbindung zu Nichten und Neffen, Cousins und Cousinen. Man trifft sich in Halle, wo auch noch ihr Klavier steht, oder in München. Der Austausch mit Bibliothekskollegen aus aller Welt ist auch immer wieder mit Reisen verbunden. Nur in Japan war sie noch nicht. Den Fuji leuchten sehen, das wäre mal eine Reise wert, meint sie.

Die 1558 als Hofbibliothek der Wittelsbacher gegründete Bayerische Staatsbibliothek ist die größte wissenschaftliche Universalbibliothek Deutschlands. Alles, was in Bayern publiziert wird, muss sie archivieren. Dazu kommen weltweit einzigartige Sammlungen: kostbare Handschriften, seltene Drucke, Karten, Fotos, Nachlässe, Zeitschriften. Ihr Gesamtbestand beträgt fast 40 Millionen Medieneinheiten. Jahr für Jahr kommen circa 100 000 Bände hinzu, die nach wissenschaftlichen Kriterien erschlossen werden. Mittlerweile ist fast der gesamte urheberrechtsfreie Bestand der Bibliothek digitalisiert. Etwa 64 000 aktive Nutzerinnen und Nutzer profitieren von den Einrichtungen der Bibliothek. Noch bis 6. Juli läuft die Ausstellung „Die Farben Japans“ mit wertvollen Holzschnitten. Sie zieht Japan-Fans jeden Alters an.

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