„Wenn wir nutzlos für die Natur geworden sind, sind Frauen endlich unausgefüllt“: Künstlerin Isabella Ducrot | ABC-Z

Homer hatte vom Weben keine Ahnung. Das gehört zu den Erkenntnissen eines Gesprächs mit Isabella Ducrot. Sie weiß alles vom Weben, von der Magie zwischen Kette und Schuss, Text und Textilien, Sprache und Freiheit, Karomustern und Kreisen. Ein Tag mit der Künstlerin in ihrem Studio in einem römischen Palazzo.
Noch vor dem Wort waren Kette und Schuss. Das ist kein direktes Zitat von Isabella Ducrot, geboren 1931 in Neapel, aber fast. Die Malerin, Textilkünstlerin und Erzählerin kann aus einer uralten Legende eine Philosophie des Webens entwickeln und damit die Entstehung des Universums erklären. Das geht so: Am Anfang aller Zeit schwebte die Gottheit ganz allein und völlig bewegungslos im Raum. Seltsam nur, dass ihr Haar nicht zu wachsen aufhörte. Es wurde so lang und so schwer, dass die Gottheit die Stille aufgeben und den Kopf hin und her werfen musste, um das Gewicht zu verteilen. So flog das Haar durch die Atmosphäre, und seine Strähnen verbanden sich mit allem, was zufällig ihren Weg kreuzte. Auf diese Weise stellte sich eine Art Gewebe her, das seitdem das geheime Zentrum des Raums bildet, seine Seele. Nach dieser Legende ist der Kosmos ein sich immer weiter ausdehnendes Stück Stoff, über die Zeiten gewebt aus Tausenden von Fadenhaar-Kreuzungen. Die Zukunft wäre dann die Kette, die auf die Schussfäden des Zufälligen, der Unglücksfälle, Glücksmomente und Abenteuer des individuellen Lebens trifft, während jeder Einzelne sein Haar schwingt.
In dieser Geschichte ist alles, was Isabella Ducrot in ihrer Kunst interessiert, miteinander verbunden – das Handwerk, die Zeit und das poetische Erzählen. Wobei das Erzählen sogleich beginnt, wenn Kette und Schuss sich treffen und ein Stoff entsteht, in dem sich zögernd und fast unwillkürlich noch etwas Drittes manifestiert, auch wenn es körperlos, geruchslos, mit den Sinnen nicht zu erfassen ist – eine Art „Phantompräsenz“, die aus dem Zusammentreffen zweier Fäden ein Gewebe und also letztlich Geschichte und Erzählung macht.
Ein Leben zwischen Stoffen, Geschichten und Ländern
Es war kurz vor Weihnachten 2024, als ich sie in Rom besuchte. Bis zum Tod ihres Manns Vittorio im Jahr 2022 lebte sie mit ihm in der Wohnung im vierten Stock des Palazzo Doria-Pamphilj, 20 Jahre ihrer sechzigjährigen gemeinsamen Zeit. Als sie einzogen, waren beide schon in ihren Siebzigern und nahmen sich vor, immer Menschen um sich zu haben, weil so viel Platz war. Ihre Cocktailpartys sollen legendär gewesen sein. Vittorio, den Isabella Ducrot im Gespräch Vicky nennt, kam aus Palermo, aber weil seine Mutter New Yorkerin war, sei er nicht sehr sizilianisch gewesen, erzählt sie. Vicky traf sie, als sie 30 war. Kunst machte sie erst mit schon fast 60.
Vicky also gründete eine Reiseagentur für exklusive Kulturreisen nach Asien, die vor allem Künstler und Gelehrte buchten. Allein in Indien war das Paar 60 Mal, aber auch in Nepal, Tibet, Afghanistan, Bhutan, Iran, China, Pakistan, Sri Lanka, im Mittleren Osten, der Türkei. Isabella Ducrot begann, sich für Stoffe und Kunsthandwerk in den Basaren zu interessieren und Textilien zu sammeln, manche alt, andere zeitgenössisch, manche kostbar, viele einfach wie die karierten Hamam-Tücher aus Syrien. In ihrer Auseinandersetzung mit Stoffen und dem Handwerk des Webens war sie schon damals auf dem Weg, selbst eine eigenwillige Künstlerin zu werden.
Der vierte ist der oberste Stock in dem Palazzo, so hat sie eine riesige Dachterrasse mit einem von Vittorio angelegten Rosengarten, einen wunderbaren alten Steinfußboden aus den Dreißigerjahren, sehr viel Kunst aus mindestens vier Jahrhunderten, zahlreiche pralle und farbenfrohe modernistische Sofas und Sessel. Außerdem stehen da mehrere Arbeitstische für Isabella Ducrots unterschiedliche Tätigkeiten: einer mit einem Laptop, ein anderer mit Büchern, ein dritter mit Papieren, Stiften, Scheren, Stempeln. Ihr Studio, in dem sie ihre Farben mischt, malt und ihre größeren Arbeiten herstellt, liegt ebenerdig an einer anderen Ecke desselben Palastes.
„LOTUS for Isabella“
Obwohl mir klar ist, Isabella Ducrot wird von Blumen zuhauf umgeben sein, bringe ich ihr drei orangengroße blassgelbe Rosen mit, die ich zwischen all dem Weihnachtsgedöns in einem kleinen Laden entdeckt hatte. „Wie schön, danke für diese Farbe!“ Sie nahm meinen Arm und führte mich durch die Räume. „Ich zeige Ihnen alles, wenn Sie mögen.“ Isabella Ducrot ist eine schöne Frau mit einem klaren Gesicht und glattem weißen, kinnlangen Haar. Mit ihrem Mann hat sie die barocken Heiligenbilder, die viele der Wände füllen, vor Jahrzehnten erworben, als sich niemand für religiöse Bildmotive selbst von bekannten Barockmalern oder aus ihren Werkstätten interessierte.
Ich stelle es mir schwierig vor, zwischen gequälten Mariendarstellungen, Verkündigungen, Märtyrerszenen und düsteren Kreuzigungen im Großformat zu leben, aber die Schwere der Themen wird konterkariert von einem blutroten Ledersessel von Alvar Aalto zum Beispiel und von den bunten Stoffen, mit denen Stühle, Hocker und Sofas bezogen sind, manche aus der antiken Textilsammlung von Isabella Ducrot. Auch ein Bild von Cy Twombly hängt da, für sie gemalt: „LOTUS for Isabella“. Sie kannten sich, weil Twombly und seine Frau Tatiana Franchetti oft auf den Reisen durch Asien dabei waren. Mit Tatiana, die ebenfalls malte, vor allem, nachdem ihr Mann gestorben war, verband Isabella Ducrot eine enge Freundschaft.
Im ersten Wohnzimmer wird zusammengesessen, manchmal gegessen und geredet, in den anderen wird gelesen, geschrieben, Kunst gemacht. Auf einem Tisch liegen Blätter, an denen sie dieser Tage arbeitet, zarte Aquarelle und Collagen von phantastischen Blumen mit schwebenden Blüten in klobig dunklen Vasen, drumherum ein gestempelter Rahmen, wie auch die Vasen oft nicht gezeichnet, sondern mit alten Druckblöcken aufgebracht sind, die sie auf ihren vielen Reisen gesammelt hat. Die Formate sind handlich, die Blätter schnell fertig. Ein paar Wochen später werden sie in Berlin ausgestellt sein. „Malen ist wie kochen“, sagt Ducrot. An diesem Tag versorgt uns allerdings ihre Haushälterin Shanty, mit Kaffee und hausgemachten Plätzchen morgens, Pasta, Wein, Fisch und Torte mittags, Champagner abends. Seit 30 Jahren ist sie bei Isabella Ducrot, und sie wird bleiben.
Eine Mischung aus Ducrot, Dior und Björk
Ein gutes Jahr lang, bevor ich sie besuchte, begegneten mir Isabella Ducrot und ihre Kunst immer wieder. 2023 hatte sie in London ihre erste Einzelausstellung, 2024 zwei weitere in Dijon und in Rom, besprochen in Kunstzeitschriften, die mir zufällig in die Hände fielen. Im Frühjahr 2024 tauchte sie plötzlich in Magazinen auf, die sich vor allem für Mode interessieren. Ducrot hatte nämlich auf Bitten der damaligen Chefdesignerin von Dior, Maria Grazia Chiuri, für deren Frühjahrsschau 2024 in Paris die Dekoration entworfen, und Björk machte die Musik dazu – später hieß es hier und da, sie habe mit den überlebensgroßen Tapisserien mit kimonoartigen Mustern auf ausladendem schwarzen Gitter, die Dior in Indien nach ihren Entwürfen in einer klassischen Seidenstickerei anfertigen ließ, der Kollektion ein wenig die Show gestohlen. Was nicht ganz stimmt. Es war die Mischung Ducrot, Dior und Björk, die unschlagbar war.
Zum Einstieg der Texte über sie hieß es immer ungefähr: „Als Isabella Ducrot zur Kunst kam, war sie bald 60 Jahre alt und arbeitete im Verborgenen.“ 60 ist eine Zahl, die besonders bedeutsam für sie ist: „Wenn wir 60 und als Frauen schließlich völlig nutzlos für die Natur geworden sind“, sagt sie gleich zu Beginn unseres Gesprächs und lacht ein bisschen, „sind wir endlich frei. 60 ist die Schwelle zur Freiheit.“ Es ist, so hat sie es an diesem Morgen aufgeschrieben, „das Glück. Jeden Tag.“ Isabella Ducrot ist jetzt 94. Seit mehr als 30 Jahren als Frau diesseits der Freiheit. Glücklich wird sie immer berühmter.

Dior ist dafür höchstens am Rande verantwortlich. Wichtiger sind Gisela Capitain und ihre Galerien in Köln, Berlin und New York. Gisela Capitain kam eines Tages im Jahr 2019 in Isabella Ducrots Studio, beobachtete sie, ließ sich ihre Arbeiten zeigen – und übernahm ihre Vertretung. Sie ging mit ihr auf Messen und stellte sie Sammlern vor. Dass Ducrot – spät – mit dem Malen begann, ist nun auch schon mehr als 30 Jahre her, von denen sie mindestens 28 mehr oder weniger unerkannt von der Kunstwelt arbeitete. Zwar stellte sie seit den Achtzigerjahren immer in Italien aus, war zweimal auf den Biennalen in Venedig dabei und entwarf 2005 für die U-Bahnstation Vanvitelli in Neapel ein Mosaik. Aber als einmal über die neapolitanische U-Bahn und die Künstlerstationen geschrieben wurde, fand ihr Name keine Erwähnung. Wie konnte das sein? „Ich war nichts“, sagt sie, „lange war ich nichts.“
Ausstellungen in Rom oder im Rest Italiens bedeuteten gar nichts, erzählt Isabella Ducrot ohne Bitterkeit: „Es ist immer derselbe Kreis von Leuten, der sich hier trifft, nichts dringt nach außen.“ Seit Gisela Capitain sich kümmert, hat sich Isabella Ducrots Leben verändert. Jetzt ist sie auf der Art Basel zu Gast und bei der Frieze in London, hat Ausstellungen in Stockholm, Köln, Berlin, London und New York, und in den Tagen meines Besuchs arbeitet sie an einem Auftrag für die Albertina in Wien. Zwei großformatige Tendernesses entstehen, erotische Textilcollagen mit Stoffen aus ihrer historischen Sammlung auf einem reißfesten japanischen Papier, das an Fliegerseide erinnert und das sie benutzt, als sei es Seide oder Brokat.
Text on Textile, Weben ist menschlich
Als ich Gisela Capitain in ihrer Galerie in Köln besuche, um mich auf die Reise nach Rom vorzubereiten, hat sie einen ganzen Raum mit Arbeiten von Isabella Ducrot ausgestattet, Stillleben mit Teekannen oder Vasen, kleinere Tendernesses, Kimonos auf kariertem Grund. Ihre Bücher liegen parat, ein Katalog ihrer Stoffsammlung und der Urtext ihres Schaffens: Text on Textile, der mit dem Gedicht „Weben ist menschlich“ von Patrizia Cavalli beginnt. Zeit und Gewebe verbindet, dass sie nicht rückabzuwickeln sind, die Zeit ist unwiederbringlich vergangen, und Kette und Schuss sind ein unverbrüchliches Bündnis eingegangen, unauflöslich. Homer, der davon erzählte, wie Penelope Nacht für Nacht wieder aufdröselt, was sie tagsüber gewebt hat, um ihre Freier abzuwimmeln, bis Odysseus nach Hause kommt, hatte vom Weben und seiner Endgültigkeit offenbar keine Ahnung. Einmal gewebt, lässt sich ein Stoff zerreißen, aber seine Fäden lassen sich nicht wieder trennen. Dieser Text ist Isabella Ducrots Poetologie, in der sie Mythos, Handwerk, Kunstgeschichte, Philosophie und Materialkunde zusammenführt. Ich frage mich, wie unsere Überlieferungen, Legenden und Mythen aussähen, hätten statt der Männer die Frauen sie weitergegeben und schließlich aufgeschrieben. Weil sie von der Unauflösbarkeit der Verbindung von Kette und Schuss wussten, hätten sie Penelope stricken lassen, vermute ich.
Als ich mich später in die Bücher vertiefe, wird mir klar, was ich zuvor nicht wusste: Isabella Ducrot ist eine Erzählerin, deren Sprache und Geschichten eng verwandt sind mit den Themen, die sie in ihrer Kunst bearbeitet. Unter anderem ist das die Frage: Gibt es eine weibliche Art zu denken und zu sprechen, in jedem Medium? Wäre das zur männlichen Sprache eine sinnvolle Unterscheidung? Wie lässt sich Weiblichkeit aus den Konventionen lösen? Und was hat das mit dem Weben zu tun, mit Stoffen, mit der Auflösung von Gegensätzen, mit der Ignoranz gegenüber kanonisiertem Wissen, das Isabella Ducrot auch als ein Privileg bezeichnet, eine Möglichkeit, in andere Richtungen zu denken?
Ihr Buch „Women’s Life“ (in der englischen Übersetzung im Kunstverlag Quodlibet) aus dem Jahr 2021 beginnt mit der Selbstbeobachtung, sie sei mit minimalem Wissen über den Zustand der Welt, ihre Hauptstädte und Sternzeichen „und den Sitz der Bauchspeicheldrüse“ durchs Leben gegangen. Die Ignoranz sei ihre ständige Begleitung gewesen. Ihr Existenzmodus war die Annäherung an die „Normalität der anderen“, eine Art Imitation, zusammengestoppelt aus dem, was sie in benachbarten Leben beobachtete an Leid, Freude und so weiter. Mit der Sprache ging es ihr ähnlich. Der Klang der Wörter und ihre Bedeutung blieben unter Umständen vollständig voneinander getrennt. „Verdaustig wars, und glasse Wieben / Rotterten gorkicht im Gemank; / Gar elump war der Pluckerwank, / Und die gabben Schweisel frieben.“ Das Nonsense-Gedicht aus Lewis Carrolls „Alice hinter den Spiegeln“ ergab für Isabella Ducrot ähnlich viel Sinn wie die Formel „padrefiglioespiritosanto“, mit der sie seit ihrer Kindheit jedes Gebet beschlossen, jeden Leichenwagen begrüßt, jeden Kirchenbesuch begonnen und beendet hatte.
Für Isabella Ducrot ist das Interessante an der Sprache, dass der Signifikant – die Gestalt eines Wortes oder Satzes, sein Klang und Rhythmus, seine Melodie – unabhängig von seiner Bedeutung oder auch völlig ohne Bedeutung existieren kann. „A rose is a rose is a rose is a rose“, ruft sie, als unsere Unterhaltung diesen Punkt erreicht hat. Ein Satz, der seine Entsprechung findet in ihren kugel- oder eiförmigen Repetitiones, die ich später in ihrem Studio sehen werde. Niemand kommt einem Vorbild für Isabella Ducrot, was das Schreiben angeht, näher als Gertrude Stein. Ich sage ihr, ihre Erzählungen und Essays hätten meinen Zugang zu ihrer Kunst vertieft, und ich betrachtete ihre Reflexionen über Textilien, die Ereignisse ihres Lebens und die Sprache, die sie dafür findet, als den herrlichen Bildern und Tapisserien ebenbürtig. „Danke“, sagt Isabella Ducrot leise, bewegt. „Das hat mir noch niemand gesagt. Aber so ist es für mich auch.“ Malen mag wie kochen sein. Aber Schreiben?
Wenn Isabella Ducrot von ihrer „Ignoranz“ spricht, bedeutet das nicht, dass sie nichts weiß. Im Gegenteil, sie hat umfassende Philosophiekenntnisse und liest unermüdlich. Und sie zitiert, setzt Motti, wenn auch nicht die üblichen. Von Descartes gefällt ihr besonders der Beginn der ersten „Metaphysischen Meditation“, in der er sich vornimmt, im Alter alles, was er bisher gedacht hat und worüber er sich sicher war, nicht nur in Zweifel zu ziehen, sondern radikal umzustoßen, jede Meinung auszuradieren und mit dem Denken noch einmal ganz von vorn zu beginnen.
Freiheit, Verbindung, Karo, Zeit und Wunder
Bei Isabella Ducrot sind Sprache und Textilien enge Verwandte, Handwerk und Kunst keine Gegensätze, Dekoration und Ornament kein Widerspruch zu Gravitas und Verstand. Die wichtigsten Wörter für sie sind Freiheit, Verbindung, Karo, Zeit und Wunder. Nicht an dem Platz bleiben, der einem zugewiesen wurde. Sprache gehört dem Menschen als einziger Kreatur, das ist Allgemeinwissen (und nicht alle Biologen würden zustimmen).
Dasselbe gilt fürs Weben. In der Natur findet es nicht statt: Spinnen weben nicht, sie kleben ihre Netze. Das macht für Isabella Ducrot Sprache und Stoff zu Geschwistern; beide können enthüllen und verbergen, beide verbinden, indem sie Zusammenhänge und Variationen in der Wiederholung oder in linearen oder auch kausalen Ketten herstellen. Und in beiden gibt es ganz entscheidend den Zwischenraum – zwischen den Wörtern, den Zeilen, den Fäden. In einer ihrer Reiseerzählungen berichtet sie von einer Gruppe junger Mönche, die die Reste eines einfachen Essens in ein kleines Stofftuch wickeln, das sie innen an ihrer Kleidung befestigen, um den Reis warmzuhalten. Es gibt hier keine Scheu vor dem Auslaufen und der Vermischung von Nahrung mit dem Körper. Eine Grenzüberschreitung, ermöglicht durch die Durchlässigkeit des Tuchs, seine Elastizität, seine Eignung als Gefäß.
Während Isabella Ducrot sich etwas ausruht, treffe ich unten im Studio eine ihrer beiden Assistentinnen, die Fotografin Veronica Della Porta. Auf einer Fensterbank eine Sammlung von Gebrauchskeramiken als Behälter für Pinsel und anderes Malzubehör, sorgfältig arrangiert in einer organisch wirkenden Ordnung. Ich bin mir nicht sicher, ob zwischendrin nicht auch ein paar seltene Stücke stehen. Benutzt werden sie alle. Dahinter bemalte Teekannen, manche Keramik, manche aus Porzellan, ähnlich denen, die in Ducrots Bildern immer wieder auftauchen. Daneben ein Regal mit Gläsern für Farbpulver zum Mischen der besonderen Farbtöne, die Ducrot benutzt. Auf einem Tisch ein Stück Seide, auf dem mit ein paar Nadeln Blütenbecher aus hauchdünnem Papier gesteckt sind, noch nicht festgenäht oder geklebt, das passiert vielleicht morgen. Eine Keramikmuschel mit Stecknadeln. An der Stirnwand die beiden Textilcollagen für die Wiener Albertina, unvollendet noch, aber als Tendernesses unverkennbar, beide mit einer Mondsichel auf einem schiefen Quadrat in einer oberen Ecke und völlig flach, ohne Perspektive, wie alle Arbeiten von Isabella Ducrot. Die fast grotesken Gestalten, deren Körper sich unter dem Mond ineinander verschlingen, sind phantastische Kreaturen in herrlichen Gewändern aus verschiedenen Stoffen mit unterschiedlichen Mustern und mit lichtsprühenden Kämmen auf den Köpfen, als habe Eros sie in Flammen gesetzt. Ein Sofa, davor ein Tisch mit einer lila-schwarz-weißen Mosaikoberfläche im Muster der Repetitiones, nicht ganz regelmäßigen pflaumen-, ei- oder tropfenförmigen Elementen. Überall, selbst im Bad, neben Putzeimer und Staubsauger, stehen gerahmte Bilder. Es scheint, als fänden hier regelmäßig kreative Eruptionen statt, die alle Räume erfassten. Punk liegt in der Luft, und das in einem römischen Palazzo!
A rose is a rose is a rose
Es ist kalt im Studio, wir behalten unsere Mützen auf, während Veronica Della Porta einen Packen ungerahmter Textilarbeiten herbeischafft und mit ihrer Präsentation beginnt. Mit ausgebreiteten Armen hält sie die Stoffbahnen hoch, verschwindet dahinter fast völlig und sagt nichts dazu. Manchmal sehe ich die Spitze ihrer Mütze hinter einem der Stoffe, die nicht alle gleich lang sind. Erst einmal eine ganze Serie von Repetitiones, oft alte, aber nicht unbedingt wertvolle Stoffe, bedeckt von den eiförmigen Kreisen in immer derselben Farbe, mit Rand oder ohne, Kreise nebeneinander, Kreise untereinander, regelmäßig, nicht ganz regelmäßig, ein gemalter, geklebter, aufgenähter oder gestempelter Rahmen drumherum.
A rose is a rose is a rose. Die Wiederholung in unmerklichen Variationen ist eines der zentralen Motive in Isabella Ducrots Kunst. Im Gespräch hatte sie gesagt, dass die Wiederholung in der asiatischen Kunst eine philosophische Bedeutung habe. Wiederholung erzeuge einen meditativen Zustand des Bewusstseins, wie im Gebet, und so entstehe in ihren Repetitiones, diesen einfachen Formen auf den oft einfachen Stoffbahnen aufgetragen, ein Stück sakraler Kunst. Tatsächlich breitet sich im Studio, während Della Porta eine Bahn nach der nächsten hochhält, sich bückt, um die eine wegzulegen und die nächste hochzunehmen, eine eigenartige Ruhe aus, eine Stimmung vollkommen im Einklang mit dem Raum, außerhalb der Zeit. Fast gleichzeitig nehmen wir beide unsere Mützen ab.

Das Gegenstück der Kreise, Eier, Pflaumen sind die Karos. Keines kann aus dem anderen entstehen, weder ein Kreis aus einem Quadrat noch ein Quadrat aus einer Pflaume. Doch auch im Muster des Karos findet die Wiederholung statt. Nun hat es mit dem Karo für Isabella Ducrot eine besondere Bewandtnis. Immer wieder hat sie die Geschichte erzählt, wie sie vor vielen Jahren in den Uffizien vor dem Bild einer Verkündigung des sienesischen Malers Simone Martini aus dem Jahr 1333 stand und bemerkte, dass der prächtige Umhang des geflügelten Verkündigungsengels mit einem einfachen Karostoff, dem Stoff der armen Leute, gefüttert war. Der Augenblick dieses Erkennens war gewaltig und hatte gewaltige Auswirkungen. Isabella Ducrot hat ein ganzes Buch darüber geschrieben. Über die Haltung Marias, ihre abwehrende Armgeste, die schamhafte Neigung des Kopfes. Den Wind, der den Engel zur Erde hinabgetrieben hat und ihm noch im Umhang zu stecken scheint und preisgibt, was unsichtbar bleiben sollte: das karierte Futter.
„A happy day“
Für Ducrot steckt darin eine besondere Botschaft. Die Szene der Verkündigung vor goldenen Wänden und einer Vase mit jungfräulichen Lilien sei vollkommen frei von jedem Zeichen häuslichen Lebens. Das Karofutter aber bringe eine alltägliche Normalität in dieses Bild, die Normalität eines Frauenlebens, und Ducrot fragt sich, was das zu bedeuten habe. Ein Rätsel, an dem sie herumdenkt, während sie gleichzeitig überall Karos entdeckt. In ihren Erinnerungen an ihre Mutter und an die Decken, in die sie gewickelt wurde. In der Türkei am Grab des Dichters Rumi. In Schulen, Krankenhäusern, auf Geschirrtüchern und Tischdecken, Servietten und Taschentüchern. Und so wandern sie über die Stoffe, die sie sammelt, in ihre eigenen Bilder, oder sie malt sie selbst als Hintergrund, etwa der seidenen Kimonos für Dior.
Die Geschichte des Engels in dem Umhang mit kariertem Futter erzählt Isabella Ducrot als Erweckungsgeschichte. Niemand, der sie einmal gehört oder gelesen hat, wird sie wieder vergessen. Und auch der Blick, der dieser Geschichte zugrunde liegt, ist von ungeheurer Macht. Wer könnte jetzt noch auf ein Gemälde mit einem Boten vom Himmel schauen, ohne nach dem Karo zu suchen?
Kurz bevor ich sie am Abend verlasse, zeigt mir Isabella Ducrot noch einen besonderen Schatz, verpackt in einer tiefen Schublade einer Kommode. Zunächst das hauchdünne Pergament, das sie manchmal auf ihren Collagen verwendet und das auch in den Vatikanischen Museen zur Restaurierung von mittelalterlichen Inkunabeln benutzt wird, wertvoll und mit großer Sorgfalt zu behandeln. Der eigentliche Schatz aber ist ein anderer. Aus einer zweiten Schublade nimmt sie eine in weiße Baumwolle eingeschlagene Rolle, die auf den ersten Blick aussieht wie eine Rolle Backpapier. Papier ist es auch möglicherweise, vielleicht aber auch ein Stoff, niemand weiß das so genau zu sagen. Es ist kaum mehr als ein Hauch. In Japan gab es einige wenige Meister, die es für ausgewählte Kalligraphiekünstler herstellten. Inzwischen wird etwas Ähnliches maschinell produziert, aber Isabella Ducrot besitzt noch diese eine handgemachte Rolle, vermutlich von einer ihrer Reisen mitgebracht. Wenn sie ein Stück davon gegen das Licht hält, sieht man fast ungehindert hindurch, so transparent ist das Material. Einzigartig, fast nicht da.
Das ist einer der Zustände, die Isabella Ducrot besonders liebt: fast nicht da. Was macht sie mit diesem gehauchten Stück Stoff? „Manchmal“, sagt Ducrot, „hole ich es hervor, packe es aus und schaue es mir an. Das ist alles. Dann wickele ich die Rolle wieder in ihre Hülle und lege sie in die Kommode zurück.“ Es gibt, so scheint es, fast keine Zeit für Isabella Ducrot. Nur heute, jetzt. Wir umarmen uns. „A happy day“, sagt sie zum Abschied. Das war es. Ein glücklicher Tag.
Der Text, von der Autorin gekürzt, ist ein Vorabdruck aus dem Buch „Alte Frauen“, das gerade im Ullstein-Verlag erschienen ist.





















