Deutschlands Abhängigkeit von Energie und digitalen Diensten – Wirtschaft | ABC-Z

„Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“, das soll der außerordentlich kluge US-Autor und Menschenfreund Mark Twain mal gesagt haben. Guter Spruch, aber leider falsch. Twain kann aber nichts dafür, er kannte einfach die deutsche Beharrlichkeit bei wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen noch nicht.
Sich abhängig zu machen, scheint ein zentrales Prinzip des deutschen Geschäftsmodells zu sein. Von russischem Gas, US-Clouds, Nato-Sicherheit, der Autoindustrie und insbesondere dem Verbrenner als Cashcow der deutschen Wirtschaft. Damit fuhr das Land lange gut. Klar, wer alles auf ein Pferd setzt, der kann viel gewinnen. Er geht aber auch das Risiko ein, den kompletten Einsatz zu verlieren. Zuletzt hat Deutschland immer mal wieder verloren.
Was sagt es über ein Land aus, wenn es sehenden Auges wieder und wieder den gleichen Fehler begeht? Sind die Deutschen intellektuell faul, hoffnungslos optimistisch oder einfach nur extrem risikofreudig?
Deutschland ist süchtig nach den vermeintlich einfachen Lösungen
Die Kosten dieser deutschen Verhaltensauffälligkeit sollten nicht unterschätzt werden. Dabei muss man fairerweise zugeben, dass die Frage, ob die Abhängigkeit von billiger russischer Energie netto ein gutes Geschäft war für die Deutschen, bislang nicht abschließend beantwortet ist. Kann es gar nicht, denn dieses Experiment läuft ja noch. Deutlich gestiegene Kosten für Energie und ein notwendiger Blitzausbau der in Deutschland vorkommenden Energiequellen, vorwiegend Erneuerbare, das muss alles mit in die Rechnung. Ob die Unterstützungsmilliarden für die Ukraine oder gar die Hunderttausenden ukrainischen und, ja, auch die russischen Kriegsopfer mit in die Rechnung sollen, ist dann schon eine höchst komplizierte Frage. Denn man könnte argumentieren, dass Russland diesen Krieg auch deshalb anzettelte, weil es die Abhängigkeit Europas von eigenen Energielieferungen als Faustpfand gegen entschlossene Hilfe für die angegriffene Ukraine hatte.
Auf jeden Fall mit in die Rechnung sollten die beträchtlichen politischen Opportunitätskosten, mit denen sich die Bundesregierungen seit 2022 herumschlagen müssen. Statt aktiv politisch gestalten zu können, ist Deutschland stattdessen getrieben von weltpolitischen Ereignissen, auf die es kaum Einfluss hat und für die es nicht vorgesorgt hat.
Dass sich diese Geschichte im Fall digitaler Souveränität erneut wiederholt, ist für politisch interessierte Menschen einigermaßen überraschend. Denn der Begriff „digitale Souveränität“ ist in den vergangenen zehn Jahren in der Debatte sicherlich siebenhundertausend Mal gefallen. Doch Reden und Absichtserklärungen allein bauen eben noch keine Fabriken oder Datenzentren. Wenn es ans Eingemachte ging, also daran, eine europäische Cloud, Chipproduktion oder Netzwerkinfrastruktur zu bauen oder mit Aufträgen zu unterstützen, dann war der Souveränitätselan schnell aufgebraucht. Ericsson ist nun mal teurer als Huawei. Google und AWS billiger als eine deutsche Cloud – und auch das gehört heute zur Wahrheit: besser.
Jahrelang trommelten die Marketingabteilungen der großen US-Cloudanbieter dafür, dass auch deutsche Unternehmen ihre Daten und Anwendungen in die Cloud schaufeln. Wer Anfang der 2020er-Jahre noch auf „On-Prem-Installationen“ (also lokale Softwareinstallationen) setzte, wurde wahlweise als rückwärtsgewandt oder technologiefeindlich verunglimpft. Die abstrakte (und spätestens seit den Snowden-Enthüllungen etwas konkretere) Gefahr, die USA könnten Firmengeheimnisse mitlesen, nur im Gegensatz zu den Chinesen ohne Hacker, dafür zumindest in den USA ganz legal, wurde als Verschwörungsgeschwurbel abgetan. Auch Warnungen, dass es zwar tolle Wege in die US-Clouds, aber sehr wenige aus ihnen heraus gibt, wurden in den Wind geschlagen.
:Europas Kampf um die digitale Souveränität
Die öffentliche Verwaltung soll mehr und mehr digital arbeiten. Doch die Clouds, auf denen die Daten der Ämter, Behörden und Dienste dann liegen, gehören größtenteils US-Unternehmen – in der aktuellen angespannten Lage ein sicherheitspolitisches Risiko.
Die Beharrungskräfte des deutschen Mittelstands waren dennoch beachtlich, deshalb gingen die US-Anbieter bald zu zweifelhafteren Methoden über, um die Deutschen onzuboarden. Europäische Kartellbehörden schauten unter anderem bei Microsoft genau hin, ob die zunehmende problematische Kombination aus Preisgestaltung, Bundling von Produkten, immer weniger Support für On-Prem-Lösungen nicht ein Fall fürs Kartellrecht ist. Doch die Mühlen der EU-Bürokratie mahlen langsam und die Clouds der US-Anbieter wuchsen stetig weiter.
Und jetzt haben wir den Salat. Mal wieder.
Sämtliche Anwendungen und Daten mittelgroßer und großer deutscher Unternehmen in die Rechenzentren von US-Unternehmen zu schaufeln, dürfte sich nun als weitere kostspielige deutsche Abhängigkeit herausstellen.
Die Angst vor Trumps Finger am „Kill Switch“ der Cloudkonzerne
Denn seit Donald Trump zum zweiten Mal das Ruder bei der weltgrößten Volkswirtschaft übernommen hat, gelten alte Gewissheiten nicht mehr. Etwa die Gewissheit, dass, selbst wenn der US-Präsident Google, AWS und Microsoft als Faustpfand gegen aufmüpfige Europäer einsetzen wollte, ihn entweder die Chefs dieser Unternehmen oder aber zumindest die US-Gerichte zügeln werden. Nach dem kollektiven Knicks der Techbosse bei der Amtseinführung des Präsidenten kann man sich da nicht mehr so sicher sein. Trump 2.0 hat zudem bewiesen, dass ihm weder Börsenkurse noch die Meinung der Gerichte im Land sonderlich viel bedeuten.
Zum ersten Mal kursiert deshalb in einer breiteren Öffentlichkeit der Begriff „Kill Switch“, also ein Schalter, den ein erratischer US-Präsident umlegen könnte, und der entweder sofort oder binnen Wochenfrist zur Folge hätte, dass die IT deutscher Unternehmen unbenutzbar wird. Der etwa dazu führt, dass die US-Cloudanbieter die deutschen Kunden nicht mehr mit Updates beliefern.
Es müssten jetzt also ganz schnell Alternativen her. Zu dumm, dass sämtliche Alternativen, über die man in den vergangenen zehn Jahren nachdachte, keine wirkliche Souveränität liefern, sondern allenfalls Souveränität light. Die 2019 gegründete europäische Cloudinitiative Gaia-X etwa wurde jahrelang stiefmütterlich behandelt und nahm 2021 außerdem Amazon, Microsoft und Google auf. Seitdem hört man wenig von der Initiative, obwohl es sie angeblich noch gibt.
Die Delos-Cloud, die SAP der öffentlichen Verwaltung als souveräne Lösung verkaufen wollte, ist letztlich ebenfalls abhängig von Updates aus der Microsoft-Firmenzentrale. Und auch das eher zufällig zur Public Cloud gewordenen Angebot Stackit der Schwarz-Tochter Schwarz Digits verkündete erst im November eine große Zusammenarbeit mit Google. Deutsche Kunden sollen dabei aber zumindest die Kontrolle über die eigenen Daten behalten. Anders als bei Microsofts als „souverän“ bezeichnete Clouds für Europa sollen die Daten auch nicht von den US-Amerikanern entschlüsselt werden können. Nur die Updates kommen ebenfalls aus den USA.
Auch Schwarz selbst will diese Kombination aus den Google-Services und ihrer Stackit-Infrastruktur nutzen. Und warum nicht einfach etwas komplett Eigenes bauen? Das sei „betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll“, hört man aus Heilbronn. Dazu seien die Google-Anwendungen zu gut und zu schnell.
Dieser Satz, der in einem Unternehmenskontext vielleicht tatsächlich Sinn ergibt, ist unfassbar wichtig, wenn man die deutsche Sucht nach Abhängigkeiten verstehen will. Auch für Deutschland war es einfach „betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll“, in eine unabhängige Energieversorgung zu investieren. Es war auch betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll, in den Nord-Süd-Link zu investieren, die Bahn ordentlich auszustatten und Brücken nicht verfallen zu lassen. Der deutsche Staat agiert wie ein schlecht geführtes Unternehmen, in dem die billigste Lösung die beste ist, immer so lange, bis ihm auffällt, dass es vielleicht versteckte Kosten einer Entscheidung gab.
Sicherheit kostet Geld, das Prinzip Hoffnung ist naiv und unverantwortlich
Dabei gab es immer wieder gute Ansätze, getrieben von Leuten, die die Gefahr großer Abhängigkeit als bedeutsamer einschätzten. Gaia-X hätte einer sein können. Und auch die Abhängigkeit von Microsoft könnte heute schon deutlich geringer sein, wenn man das Zentrum für Digitale Souveränität (Zendis) früher weniger stiefmütterlich behandelt hätte. Das wurde 2022 gegründet und soll eine Cloud-Alternative für die öffentliche Verwaltung sein, inklusive Bürosoftware, Videotelefonie, KI, und was man eben sonst noch so braucht, alles Open Source ohne irgendwelche US-Cloudfirmen.
Und gerade hatte man auch das Gefühl, das Zendis hebe ab, in kurzer Folge wurden Kooperationen mit dem BSI (Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik) und dem BWI, also dem IT-Dienstleister der Bundeswehr, verkündet. Auch ein Souveränitätscheck für Produkte, die die Verwaltung einsetzen will, stand auf der Agenda. Die Delos-Cloud oder Stackit powered by Google hätten den wohl nicht bestanden.
Umso überraschender kam deshalb vergangene Woche die Nachricht, dass die umtriebige Zendis-Geschäftsführerin, Jutta Horstmann, mit sofortiger Wirkung abberufen wird. Das zuständige Bundesinnenministerium sagt dazu nicht viel, außer man wolle „Kompetenzen bündeln“ und alles schneller machen. Warum es dazu notwendig ist, die Leitung einer für Deutschland laut Koalitionsvertrag wichtigen Stelle abzusägen, noch bevor klar ist, wie eine solche Bündelung im neuen Digitalministerium aussehen könnte, ist völlig unklar.
Die Episode wirkt wie ein Teil des Abwehrkampfes des süchtigen Deutschlands, das gerne zurückwill zu den alten, einfachen Lösungen, den alten Abhängigkeiten. Russisches Gas könne ja wieder fließen, wenn der Krieg mal vorbei sei, hieß es zuletzt auffallend oft. Und wäre es nicht viel schöner, wenn man einfach drauf vertrauen könnte, dass Microsoft uns nicht hängen lässt.
Wäre es natürlich. Es ist allerdings auch sehr naiv, darauf zu hoffen. Und wenn die vergangenen drei Jahre eines gezeigt haben, dann, dass Deutschland seine Naivität ablegen muss. Das mag manchmal teuer und schwer sein, doch die Sicherheit der deutschen Bürger und der deutschen Wirtschaft sollte dem Staat dieser Aufwand wert sein.