Politik

Die gefährliche Zurichtung junger Frauen | ABC-Z

In Litauen, dem südlichsten der drei baltischen Staaten, ging neulich ein amerikanischer Panzer verloren. Er blieb in einem Sumpf stecken, vier Soldaten konnten nur noch tot geborgen werden. In Litauen ist die Russische Föderation ganz nahe. Vor allem dieser Umstand bringt das Land gelegentlich in die Nachrichten in Deutschland. Nach Vilnius gibt es einen regen Besucherstrom, vor allem von Menschen, die dort das jüdische Leben betrauern, das die Nationalsozialisten auszulöschen versuchten.

Doch in der Gegend, in der die Geschichte des Film „Toxic“ spielt, war wohl noch nie ein Tourist. Es sei denn, jemand interessiert sich für Strommasten, Umspannwerke und postsowjetische Tristesse. Auch das Mädchen Marija ist nicht freiwillig hier. Sie wurde von ihrer Mutter an diesem ungeliebten Ort bei der Großmutter deponiert. Für wie lange?

„Ich weiß nicht. Sicher sechs Monate. Es ist nun einmal so“, hört man die Mutter am Telefon. Sie klingt barsch, vermutlich hat sie mit ihrem eigenen Leben genug zu schaffen. Marija ist groß genug, um sich mehr oder weniger selber durchzuschlagen.

Körperlich ist Marija 177 Zentimeter groß. Das wird einmal ausdrücklich gesagt. Sie ist damit groß genug, um den Kriterien zu entsprechen, die für Models gelten. Sie ist auch dünn genug. Und sie hat eines jener Gesichter, in die man blickt wie in ein Rätsel. Sie ist schön, aber auf eine Weise, die eher etwas Provozierendes als etwas Einnehmendes hat. Sie hat auch noch einen Makel, der sie als Model eigentlich disqualifiziert.

Sie hinkt, seit der Geburt geht sie schief. Eine Frau, die junge Litauerinnen in die Modelbranche bringen will, ficht das nicht an: „Wir werden dafür sorgen, dass du herumhüpfen und tanzen wirst.“ Die Frau ist allerdings befangen. Denn es ist ihr Erwerbszweig, so viele Mädchen wie möglich auf ein Casting vorzubereiten, bei dem die allermeisten durchfallen werden.

Sie erzählt von Verwahrlosung und sexueller Ausbeutung

Die Regisseurin Saulė Bliuvaitė hat 2024 mit „Toxic“ beim Filmfestival in Locarno debütiert. Man sieht sofort, warum der Film dort auffiel und nun auch in Deutschland ins Kino kommt. Bliuvaitė findet eine angemessene Form für ein heikles Thema. Sie erzählt von Verwahrlosung, sexueller Ausbeutung, auch Selbstausbeutung. Sie erzählt von der gefährlichen Zurichtung von Körpern für einen Markt, der dabei immer nur indirekt präsent ist – mit Stichwörtern wie Japan oder Korea, wohin junge Frauen geschickt werden, wenn sie erst einmal entdeckt wurden. Oder New York, wohin sie von Partyagenturen engagiert werden, die darauf hoffen, dass sie sich von glamourösen Clubs und reichen Leuten so beeindrucken lassen, dass sie sich auch für Sex hergeben. Alle diese Perspektiven sind präsent, sind aber gleichzeitig sehr weit weg für ein Mädchen von 13 Jahren, das wegen seines Badeanzugs in der Umkleide verspottet wird.

Ausgerechnet in Kristina, die Marija zu Beginn eine Jeans wegnimmt, findet sie dann doch eine Freundin. Kristina ist kleiner, aber sie hat das Zeug zu einer Anführerin. Sie ist bereit, fast alles zu tun, um ein wenig voranzukommen. Die ewige Furcht vor auch nur ein paar Gramm Übergewicht veranlasst sie zu einem drastischen Schritt. Ein Bekannter besorgt im Darknet eine Tablette, die einen Bandwurm in ihrem Verdauungstrakt wachsen lassen soll. Einen Parasiten, der alles auffrisst, was Kristina eigentlich nicht essen sollte. Sie lässt sich auch ein Piercing stechen, auf einem öffentlichen Klo. Unter den jungen Männern, die begehrliche Blicke auf die „Jungfrauen“ Marija und Kristina werfen, gelten die Mädchen gleichzeitig als „Huren“.

Das Elend der Transformation

Nach dem Ende der kommunistischen Regimes gab es im europäischen Kino immer wieder Filme, die eine Antwort suchten auf das Elend der Transformation. Nicht zuletzt die Landschaften, die von den oft großen industriellen Projekten blieben, haben ja einen eigenen ästhetischen Reiz. Auch Saulė Bliuvaitė hat ein Auge für diese Aspekte. Ihr Film spielt in einer Gegend, in der ein Kraftwerk Strom wohl für das ganze Land erzeugt. Ein riesiges Umspannwerk dominiert den Horizont, die Menschen leben in Quartieren, die oft nicht viel mehr sind als Baracken.

Dabei ist die Natur nie weit weg, man kann auch ein idyllisches Litauen ahnen, die Menschen sitzen mit nacktem Oberkörper vor der Tür, die Kinder streifen durch Wiesen und Felder und sitzen am Wasser. Sean Baker hat eine vergleichbare Atmosphäre in Florida gefunden, für seinen Film „The Florida Project“ – dort war Disneyland das „Kraftwerk“, auf das alles zulief. Und so wie bei Baker, zu dem Saulė Bliuvaitė sich keineswegs epigonal verhält, geht es auch in „Toxic“ um Kindheit. Kristina und Marija sind Kinder, die offensichtlich nie richtig Zeit hatten, Kind zu sein. Sie werden schon früh mit den Nöten eines kaum auskömmlichen Lebens konfrontiert.

Die Großmutter von Marija verkauft Blumen, sie scheint eine ruhige Frau zu sein, am Leben der Enkeltochter nimmt sie aber nur wenig Anteil. Ansonsten sieht man kaum einmal jemand arbeiten. Männer widmen sich dem Kühlerglanz von Autos. Dass es auch Wohlstand in der Gegend gibt, erhellt nur aus einem neureichen Haus, vor dem Kristina und Marija einmal stehen – für eine „Massage“, zu der sie bestellt wurden, würden sie Geld bekommen, das sie in ein Foto-Portfolio investieren könnten. Ist es das wert?

2011 hat der Dokumentarfilm „Girl Model“ am Beispiel Russlands die Ökonomie genau beschrieben, von der nun auch „Toxic“ erzählt. Aber für Saulė Bliuvaitė ist die entscheidende Szene der Körper ihrer Darstellerinnen. Sie buchstabiert einfach genau durch, was es bedeutet, wenn junge Frauen von allen Seiten ein instrumentelles Verhältnis zu ihrem Körper, zu sich selbst, suggeriert bekommen.

Das offizielle Litauen würde sich sicher lieber durch einen anderen Film im internationalen Kino vertreten sehen. Saulė Bliuvaitė aber setzt dort an, wo das moderne Europa mit seinen Institutionen und Bürokratien noch nicht so richtig angekommen ist, während gleich­zeitig die Zurichtungen durch einen globalen Schönheitsmarkt bis in die abgelegensten Winkel durchschlagen.

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